Ganztagshauptschule Hückelhoven: Talentschmiede : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Eine Schule soll sich an den Bedürfnissen ihrer Schülerinnen und Schüler orientieren. Die Ganztagshauptschule Hückelhoven erfüllt die „Vorgabe“ und richtet ihr Angebot konsequent danach aus.

Das Urteil kam aus berufenem Munde. Als 2007 der Schulentwicklungsforscher Dr. Ernst Rösner von der TU Dortmund sein damals neuestes Werk „Hauptschule am Ende – Ein Nachruf“ betitelte, stimmten ihm viele zu. Und nun? 13 Jahre später stehe ich vor der Ganztagshauptschule „In der Schlee“, einem wahren Prachtbau von Schule in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Zeche Sophia-Jacoba in Hückelhoven am Niederrhein. Farbenfroh, modern, hell, großzügig angelegt.

515 Schülerinnen und Schüler, zumeist aus den angrenzenden ehemaligen Bergarbeiterwohnungen, besuchen die Einrichtung. Rund 56 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Viele stammen aus Elternhäusern, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Schulentwicklungsplan, den die Stadt Hückelhoven vor einem Jahrzehnt aufgestellt hatte, war von maximal 340 Schülerinnen und Schülern ausgegangen.

„Achtung für unsere Kinder“

Für den Schulträger, die Stadt Hückelhoven, hatte es nie eine Alternative gegeben. Alle Schulformen sollten erhalten werden. So erinnern sich Schulleiterin Christiane Müller und ihre Stellvertreterin Daniela Schröders. Insgeheim gab es dann aber wohl zumindest ein paar Sorgen, auch diese Hauptschule könnte angesichts mangelnder Akzeptanz vor dem Aus stehen. Man baute eine „Sicherung“ ein. Real- und Gesamtschule wurden auf Drei- und Vierzügigkeit „gedeckelt“. Der Erfolg gibt dem Schulträger recht: Schulen aller Schulformen arbeiten in Hückelhoven friedlich und erfolgreich mit- und nebeneinander.

Geradezu mit Händen und Füßen wehrt sich das Kollegium „In der Schlee“ gegen Formulierungen wie „Restschule“. Wenn sie sich dagegen stemmen, sprechen sie von fehlender „Achtung für unsere Kinder“. Diese benötigten eben eine andere Unterstützung. Und die erhalten sie „In der Schlee“.

Speeddating
Firmen stellen sich regelmäßig beim Berufe-Speeddating vor. © H.Giesen

Kontinuierlich steigt die Anzahl der Firmen und Unternehmen, die sich nicht nur der Form halber im Rahmen der Berufsorientierung präsentieren, wie das Berufe-Speeddating, der Bau-Bus der Bauwirtschaft oder „Heavy Metal“, der Info-Truck der Metall- und Elektroindustrie, zeigen. Sie suchen konkret Auszubildende. Sie wissen, dass „In der Schlee“ Jugendliche heranwachsen, die praxisgeschult und -erprobt sind.

Basistraining nach der Mittagspause

Was macht diese Schule so besonders? Eindeutig das Engagement des 70-köpfigen Teams, bestehend aus 50 Lehrerinnen und Lehrern sowie 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer pädagogischer Kompetenzen. Sie haben es geschafft, jüngst in den feinen Kreis der nordrhein-westfälischen Talentschulen aufgenommen zu werden. Das beschert zusätzliche Stellen und ein erhöhtes Fortbildungsbudget. „Ein Segen“, betont die Schulleitung, die im Übrigen von der Haltung ihres Schulträgers begeistert ist: „Er tut alles für alle seine Schulen“.

Als Talentschule setzte das Team die schon in Angriff genommene Weiterentwicklung der Schule fort. Die Auswirkungen sind aktuell in den Jahrgangsstufen 5 und 6 zu spüren. Während früher auch am Nachmittag zwei 60-minütige Regelstunden anstanden, in denen die Konzentration der Schülerinnen und Schüler signifikant sank, wird nun Regel-Unterricht bis 12.35 täglich angeboten. Der einstündigen Mittagspause schließt sich an drei Tagen pro Woche eine 40-minütige Lernzeit an. Keine, die konventionelle Aufgaben ersetzen soll. Vielmehr eine für Basistraining.

„Schönschreiben“ – Lernzeit eins – wird intensiv geübt. Lachend erinnert sich Christiane Müller an einen Jungen, der nach einiger Zeit stolz zu ihr kam: „Jetzt kann ich endlich lesen, was ich geschrieben habe.“ Lernzeit zwei fördert das Rechnen – mit Hilfe mathematischer Gesellschaftsspiele. Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert. Auch vom Inhalt der dritten Lernzeitform: Dort wird spannende Lektüre vorgelesen, sie sollen sich darüber unterhalten, den Inhalt mündlich oder schriftlich wiedergeben.

Die Chance, Talente zu entdecken

Es folgen 80-minütige Projekteinheiten in kleinen Klassen und jahrgangsübergreifenden Gruppen. In ihnen werden Themen aus dem Regelunterricht aufgegriffen, vom intensiven Sport über konkrete Aufgabenstellungen – Umgang mit Maßeinheiten, das Einstudieren von Theaterstücken, das Bauen stabiler Brücken aus Papier und Pappe – bis hin zur „Regenwurmwerkstatt“, in der die Schülerinnen und Schüler die Entwicklung der Tiere beobachten.

Diese Form der Praxisarbeit fasziniert sie. „Und wir haben ganz anders als in üblichen Arbeitsgemeinschaften die Chance, ihre Talente zu entdecken“, betont das Schulleitungsgespann. Christiane Müller und Daniela Schröders denken beispielsweise an ein Mädchen, dessen besondere Begabung für das Schlagzeug im herkömmlichen Musikunterricht wohl kaum offenbar geworden wäre. „Und dann müssen wir schon einmal mit den Eltern sprechen, auf solche Talente und Begabungen hinweisen und sie zu fördern versuchen.“

Manchmal springt dabei der Verein „Kinder für Hückelhoven“ ein. Vorsitzende: Christiane Müller. Rund 20.000 Euro füllen den Vereinstopf, der dann angezapft wird, wenn staatliche Unterstützungsfonds wie das Bildungs- und Teilhabepaket nicht greifen, „weil die Familie einen Euro zuviel verdient“, sagt Müller.

Auszeit im Trainingsraum

zwei Jungen
„Die Weiterentwicklung des Ganztags trägt Früchte.“ © H.Giesen

Als ungewöhnlich darf auch das Netzwerk dieser Ganztagshauptschule bezeichnet werden. Fachkräfte für die Arbeit mit Kindern mit Lese-Rechtschreibschwäche stehen ebenso zur Verfügung wie Psychologen und Ärztinnen, die Eltern beraten, wenn ihr Kind mit Aufmerksamkeitsdefiziten oder Schulangst oder gar Schulverweigerung zu kämpfen hat. Ganz abgesehen von jenen Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern, die täglich den sogenannten Trainingsraum betreuen. Hierher kommen jene Kinder oder Jugendlichen, die einfach einmal eine Auszeit benötigen, Ruhe, Entspannung oder Abwechslung suchen.

Hin und wieder kommen auch einige, die sich in einer 15-minütigen, von der Lehrkraft festgelegten Pause darüber Gedanken machen können, warum sie dem Unterricht nicht folgen konnten oder ihn störten. „Dabei geht es nicht um Bestrafung“, versichert Schulsozialarbeiterin Manuela Geilenkirchen. Gemeinsam mit den Erwachsenen überlegen die Betroffenen, wie sie beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation anders reagieren könnten. Und sie suchen nach Ursachen.

„Wir schauen auch, ob es immer wieder bei der gleichen Lehrkraft passiert“, berichtet Christiane Müller. „Passt da die Chemie nicht?“ Es geht eben auch um Selbstreflexion des Kollegiums. „Verhaltensauffälligkeit fällt nicht vom Himmel. Sie hat viele Faktoren“, betont die Schulleiterin. „Voll“ wird es im Trainingsraum übrigens zumeist vor Weihnachten und vor den Ferien. Bei manchen hält sich die Vorfreude auf zu Hause in Grenzen.

Erfreut hat die Schule registriert, dass die Zahl der „Besuche“ in den aktuellen Eingangsklassen zurückgegangen ist. „Unsere Weiterentwicklung des Ganztags trägt Früchte. Die Kinder sind entspannter“, lautet das Fazit. Entsprechend wird der eigene Arbeitsauftrag formuliert: „Fortschreibung des Talentkonzepts aus der Erprobungsstufe in den weiteren, höheren Jahrgangsstufen.“

Irrtum eines Wissenschaftlers

Auf einen Erfolgsgaranten kann die Schule auch bei ihrer künftigen Weiterentwicklung bauen: ihre ausgeprägte Kommunikation – nach innen wie nach außen. Die Ganztagshauptschule Hückelhoven ist einmal jährlich Treffpunkt für Lehrerinnen und Lehrer, die die Kinder in Klasse 4 der neun „Zubringer“-Grundschulen unterrichtet haben, und jener, die sie an allen weiterführenden Schulen Hückelhovens in Klasse 5 aufgenommen haben.

Man tauscht sich aus: „Ist dir bei Fritz damals auch aufgefallen...?“ „Hat Emma eine besondere Begabung?“ Christiane Müller ist überzeugt: „Dieser Gedankenaustausch kommt allen Schülerinnen und Schülern zugute.“ Ebenso wie die Sprachenvielfalt ihres Kollegiums, in dem russisch, arabisch, polnisch, spanisch und türkisch sprechende Kolleginnen und Kollegen vertreten sind.

Sie können auch jene Eltern erreichen, die bisher weniger Zugang zur Schule finden. Gemeinsam wird dann überlegt, wie jedes Kind individuell gefördert, manchmal aufgefangen und natürlich immer auch gefordert werden kann. „Denn unsere Aufgabe ist es, sie alle fit fürs Leben zu machen“, schließt die Schulleiterin unseren Gedankenaustausch. Glücklich wissend, Ernst Rösners Nachruf war „In der Schlee“ unberechtigt.

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