Ganztagsgrundschule Medelby: Individuell, flexibel, philosophisch : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Als eine der kleinen Schulen in Schleswig-Holstein, deren Erhalt einst bedroht war, zählt die Grundschule Medelby dank moderner Pädagogik heute zu den Vorzeigeschulen. Nun wird sie zum Bildungshaus ausgebaut.

Eine Pädagogin sitzt mit zwei Schülerinnen an einem Tisch
© Britta Hüning

„Sie sind bestimmt der Journalist aus Bonn“, werde ich – kaum aus dem Auto ausgestiegen – freundlich begrüßt. Marc Kunz, Hausmeister der Grundschule Medelby, ist einer von zwei Männern, denen die Schülerinnen und Schüler täglich begegnen. Er hat wie sein Kollege Nils Christiansen den Überblick, kennt jeden, sieht alles. Was ihm nicht sonderlich schwerfällt. Denn die Offene Ganztagsgrundschule im kleinen Ort nahe der dänischen Grenze wird gerade einmal von 95 Kindern besucht.

Doch was heißt „gerade einmal“. Schließlich handelt es sich um eine jener kleinen Schulen in Schleswig-Holstein, deren Erhalt der Landesregierung und vor allem den Kommunen auch bei zurückgehenden Schülerzahlen wichtig ist. 80 Schülerinnen und Schüler sollten es aber schon sein. 95 Schülerinnen und Schüler bedeuten für Medelby eine Steigerung um mehr als 20 Prozent in den vergangenen drei Jahren.

„Wir haben uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen“, bringt Eva Johannsen, die Ganztagskoordinatorin und Schulsozialarbeiterin in einer Person ist, die Schulentwicklung der letzten Jahre auf den Punkt. Denn 2015 drohte die Mindestschülerzahl unterschritten zu werden. Dann übernahm Petra Schreiber die Leitung. „Sie ist unser Porsche“, strahlt Eva Johannsen. Will heißen: Petra Schreiber gab Gas, als sie nach Medelby kam.

Viele Schätze geborgen

„Gas geben bedeutete für mich nicht von heute auf morgen alles über Bord zu werfen“, erinnert sie sich. Erst einmal habe sie mit allen Beteiligten geredet, gut zugehört, was die Schule auszeichnete, und geforscht, wo Entwicklungspotenziale liegen könnten. „Ich bin auf Schatzsuche gegangen“, beschreibt die Schulleiterin ihre Tätigkeit. Sie konnte viele Schätze heben – im Lehrerzimmer, aber auch in der Region. „Das fiel mir mit den Menschen vor Ort wirklich leicht, weil alle so offen zu mir und bereit waren, sich finden zu lassen“, sagt sie heute.

Gut möglich, dass ihr dabei ihre vorherige Selbstständigkeit und Tätigkeit bei der Karg-Stiftung in Frankfurt zugutekam. In diesen Jahren beriet sie Schulen und Kommunen bei Fragen der Schulentwicklung. Sie sammelte viele Eindrücke und Erfahrungen, besonders in der Begabungsförderung. Eine inklusive Didaktik ist ihr dabei wichtig: „Denn jedes Kind hat ein eigenes Begabungsprofil. Das gilt es zu entdecken und zu stärken.“

Was für die Schülerinnen und Schüler gilt, trifft auch auf das Kollegium zu: Es geht um Stärkenorientierung. Dabei möchte Petra Schreiber nicht nur von den Lehrerinnen, sondern von pädagogischen Fachkräften sprechen. Sie zählt jene dazu, die unterrichten, aber auch jene sieben Mitarbeiterinnen im Ganztagsbetrieb. Und spiegelt damit wider, was die Zusammenarbeit der 13 Kolleginnen kennzeichnet: Augenhöhe und Professionalität in ihrem jeweiligen Bereich.

Selbstkompetenz hat Priorität

Lehrerin und Schüler während des Unterrichts in Kleingruppen
© Britta Hüning

Sie alle sind hochmotiviert, die Kinder stärkenorientiert zu begleiten. Als Mentoren. Als jemand, der sie ernst nimmt, ihre Interessen geradezu erforscht, sie begeistert und motiviert. „Denn wir alle, nicht nur Kinder, lernen über Emotionen und Interessen. Wer begeistert ist, brennt, lernt und arbeitet gerne“, lautet eine gemeinsame Leitlinie. Einfacher gesagt als getan, mag man einwenden. Doch wer den Blick in eines der Klassenzimmer der Grundschule Medelby wirft, ahnt, wie das Ziel erreicht werden kann.

Verteilt an kleinen Gruppentischen lernen die Schülerinnen selbstständig. Wenn Fragen auftauchen, steht die Lehrerin beratend zur Seite. Zuvor haben sich die Kinder meistens schon gegenseitig auf die Sprünge geholfen: Sie recherchieren gemeinsam und diskutieren Möglichkeiten, wie sie am besten vorgehen können. In diesem Fall muss die Lehrerin nur noch die Lernprozesse moderieren.

„Selbstkompetenz entwickeln“ gilt als oberste Maxime. Der Weg dorthin wird künftig durch den Baustein „Forschendes Lernen“ erweitert. Aus ihrer Zeit in Frankfurt kannte Petra Schreiber die Pädagogin Kristina Calvert, eine Expertin für das Philosophieren mit Kindern, und konnte diese gewinnen, sich an der Grundschule Medelby zu engagieren. Gemeinsam wurden die Pläne für die drei Stunden pro Woche umfassenden Forschertage entwickelt. Dabei geht es nicht um naturwissenschaftliche Recherchen. Vielmehr sollen die Kinder selbstständig sie interessierende Fragen finden, deren Antwort sie sich anschließend Stück für Stück erarbeiten. Zunächst gilt es dann herauszufinden, was denn überhaupt eine Forscherfrage ist. Fragen, deren Antwort schnell ja oder nein lauten kann, sind nicht gemeint. Eher Überlegungen wie: „Können Steine glücklich sein?“ oder „Planen Ameisen ihren Tag?“.

Diese Form des Forschens deckt nach Ansicht Schreibers alle Fächer ab, bedient das Curriculum und fördert die Methodenkompetenz. Es wird recherchiert, präsentiert, verschriftlicht, miteinander diskutiert. Während der Lernzeiten stehen alle Klassentüren offen, die pädagogischen Lehrkräfte stehen als Ansprechpartnerinnen bereit. Sie beraten und unterstützen. Machen den jungen Forschern Mut, geben Vertrauensvorschuss („Du schaffst das“), erlauben aber auch das Scheitern. Geht ein Kind durch ein Tal, traut sich nicht weiter und will eventuell aufgeben, dann wird es gefragt: „Was brauchst Du? Wie, was oder wer kann dich dabei unterstützen?“

Die größtmögliche Individualität kommt auch sieben Kindern mit Förderbedarf zugute. Zusätzliche Unterstützung erhalten sie durch ihre Schulbegleiterinnen, aber auch durch die inklusive Haltung des Teams, die da lautet: Nicht wir sagen, was das Kind lernen soll, sondern das Kind sucht sich sein Thema nach seinem Vermögen. Die Schulleiterin ist überzeugt: „Unsere Forschertage sind der Instrumentenkoffer für inklusives Lernprozesse“.

OGS: Zehnerkarte für alle Eventualitäten

Osterfeuer mit Feuerwehrmann und Schülerinnen und Schülern
Nach dem Osterfeuer tragen Schülerinnen und Schüler das Osterlicht in die Kapelle © Grundschule Medelby

Als zusätzliche große Reisetasche für die Bildungsreise der Kinder dient der Offene Ganztag. 78 Schülerinnen und Schüler, außerdem noch 17 Kinder der angrenzenden Kindertagesstätte besuchen ihn. Ihre Eltern schätzen die große Flexibilität. Selbst kurzfristige Wünsche („Kann mein Kind heute länger bleiben und auch essen?“) werden erfüllt. Die Eltern können „Tageskarten“ und „Zehnerkarten“ erwerben, die für alle Eventualitäten und Notfälle, sprich das Nutzen zusätzlicher, über die vereinbarte Auswahl hinausgehender Angebote eingesetzt werden können.

Geöffnet ist die OGS täglich gut eine Stunde vor Unterrichtsbeginn sowie nach Unterrichtsende bis 15.30 Uhr. Auch deren Leiterin Eva Johannsen ist ein von Petra Schreiber geborgener Schatz: Ursprünglich agierte die Mutter „nur“ als Schulelternbeiratsvorsitzende, half bei der Hausaufgabenbetreuung und bot verschiedene Kurse im Nachmittagsbereich an. Jetzt wirkt sie seit drei Jahren erfolgreich als Koordinatorin in der Ganztagsbetreuung. Das Nachmittagsangebot wurde deutlich ausgebaut. Zahllose Arbeitsgemeinschaften – vom klassischen Tanz bis zum Ponyreiten – stehen zur Auswahl. Der Chorleiter und ehemalige Bezirksleiter der Kreismusikschule Schleswig-Flensburg, Werner Schillies, ließ sich nicht zweimal bitten – seine AG „Sim Sala Sing – Rhythmus ist Klasse“ erfreut sich besonderer Beliebtheit.

Das Mittagessen in der kleinen Mensa namens Oase schmeckt der großen Mehrheit. Hausaufgaben können erledigt werden. Dabei wird den Eltern nicht garantiert, dass ihr Kind zu Hause nichts mehr zu tun hat oder alle Aufgaben dank Betreuung fehlerfrei erledigt sind: „Im Sinne einer positiven Fehlerkultur erkennen wir, was verstanden worden ist oder wo wir mit dem Kind erneut ins Gespräch kommen müssen“, sagt Petra Schreiber. in einer Umfrage zur Zufriedenheit mit der OGS konnten die Eltern 2017 noch Anregungen geben. Eine typische Rückmeldung: „Ansonsten macht weiter so, mein Kind geht gerne in die OGS.“

Bildungshaus im Kirchspiel

Viel hat sich in den vergangenen drei Jahren getan. An bewährten Traditionen wie dem Pflanzen eines Apfelbaums für jede neue Eingangsklasse und der jährlichen Apfelsaftproduktion wurde festgehalten. Der Erlös aus dem Verkauf des Apfelsafts fließt unter anderem in Stipendien für Kinder, um deren Teilnahme an bestimmten kostenpflichtigen Angeboten zu ermöglichen. Neues wie die Teilnahme aller Kinder am Osterfeuer – mit Holz aus dem eigenen Schulwald – kam hinzu. Und Großes steht an.

Apfelsaftaktion: Schülerinnen und Schüler ernten Äpfel
Philosophieren beim Ernten: „Weiß der Apfelkern, dass er ein Apfelbaum wird?“ © Grundschule Medelby

Spätestens 2020 soll die kleine Grundschule zum Bildungshaus im Kirchspiel Medelby – dem Pfarrbezirk mit den Orten Weesby, Holt, Böxlund, Osterby und Jardelund – ausgebaut sein. Dazu gehören dann Kita und Schule, Schul- und Versammlungsräume, eine Akademie. Die freiwillige Feuerwehr und Rettungswache findet ebenfalls Platz auf dem Gelände. Die Bildungsanlaufstelle in der Region steht in den Startlöchern. Dass die Wahl auf den Standort Medelby fiel, darf als Ergebnis der Schulentwicklung dieser Grundschule gezählt werden. Und auch als Resultat ihrer gezielten Öffnung nach außen. Schreiber: „Hier lag so viel Potenzial, dass es uns leicht gefallen ist, ein stabiles Netzwerk zu schaffen.“

Die Entwicklung der Schule hat sich herumgesprochen. Die Grundschule Medelby wurde Referenzschule für den Ganztag in Schleswig-Holstein, erhielt das Siegel „Qualität vor Ort“ von der Deutschen Kinder-und Jugendstiftung und zählt seit Kurzem zu jenen zehn Schulen im Land, die am Bund-Länder-Programm „Leistung macht Schule“, teilnehmen.

Vielleicht, so denkt der Betrachter, sollte Fußball-Bundesligist Hamburger SV, der viele Fans unter den Grundschülern und Grundschülerinnen hat und dessen Fahne im Garten des Einfamilienhäuschens gegenüber der Grundschule flattert, sich hier einmal nach erfolgreichen Entwicklungsstrategien erkundigen.

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