Ganztags mutig Dinge ausprobieren : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die gut 300 Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Grundschule Babelsberg unterscheiden nicht zwischen Schule und Ganztag. „Sie erleben uns ja auch als Team“, erklärt Ganztagskoordinatorin Kirsten Michaelis.

„Schule im Kiez“ in Trägerschaft der Potsdamer Hoffbauer-Stiftung
„Schule im Kiez“ in Trägerschaft der Potsdamer Hoffbauer-Stiftung © Evangelische Grundschule Babelsberg

Aus Fehlern zu lernen, gilt nicht unbedingt als eine Stärke in Deutschland, auch nicht in der Schule. Dass es auch anders geht, belegt die Evangelische Grundschule Babelsberg. Das, was Schülerinnen und Schüler häufig als Druck empfinden, wurde hier wie an vielen Grundschulen des Landes für die ersten vier Jahrgangsstufen gestrichen: die Noten. An ihre Stelle treten zweimal jährlich ausführliche Lernentwicklungsgespräche und am Ende jedes Schuljahres ein umfassender Jahresbrief. Doch auch er fällt anders als gewöhnlich aus. Der Leistungsaspekt nach Unterrichtsfächern rückt in den Hintergrund, dafür erinnert der Brief an Erlebnisse und Ereignisse aus dem gemeinsamen Schulalltag: „Weißt du noch, als du in den Werkstatttagen…“ Das soll ein Wir-Gefühl herstellen und Motivation schaffen.

Die gut 300 Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Grundschule Babelsberg finden das „cool“. Zwei von ihnen führen mich freundlich zum Sekretariat in diesem altehrwürdigen Gebäude. Unterwegs entlocke ich ihnen ihre Gedanken zu den Noten. „Zuerst fand ich das doof. Ich wollte auch ein Eis für eine Eins bekommen“, gesteht eine Achtjährige lachend. „Als ich aber von Freundinnen, die auf eine andere Schule gehen, gehört habe, wie sie sich über schlechte Noten ärgern, habe ich schnell gemerkt, dass es besser ohne Noten ist.“ Und das Eis? „Ich bekomme es von Mama trotzdem, wenn wir aus dem Gespräch mit meinen Lehrerinnen rausgehen.“ Sie weiß, dass ab Klasse 5 Noten verteilt werden, und da „freue ich mich nicht drauf“.

„Wir probieren gerne etwas aus und schauen, ob es gelingt“

Hinter der Notenfreiheit steckt die pädagogische Idee, Kinder nicht zu früh „in Schubladen zu stecken“. Sie sollen den Kopf frei und den Mut haben, Dinge auszuprobieren, während sie sich beispielsweise in den mehrwöchigen „Werkstätten“ eigenständig einem Thema widmen. Bis zu fünf Wochen beschäftigen sie sich dann mit an den Lehrplänen ausgerichteten komplexen Inhalten. Dies geschieht fachübergreifend und in den Klassen 1 bis 3 auch jahrgangsübergreifend. Ab Klasse 4 lernen die Schülerinnen und Schüler in altershomogenen Klassen. Doch das System des themenorientierten Unterrichts setzt sich auch dort fort, jedoch in einzelnen Werkstatttagen.

Was für die Lernenden gilt, trifft auch auf das Kollegium zu. Schulleiterin Susanne Anders und die Koordinatorin des Offenen Ganztags Kirsten Michaelis unterstreichen dies nachdrücklich. „Wir probieren gerne etwas aus, schauen, ob es gelingt, und wenn nicht, ändern wir es wieder“, berichtet Susanne Anders. Aus ihrer Haltung machen sie auch bei den Vorstellungsgesprächen künftiger Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern keinen Hehl: „Auch wir werden Fehler machen“, kündigen sie an.

Ort des Lebens und Lernens in der Gemeinschaft
Ort des Lebens und Lernens in der Gemeinschaft © Vera Loitzsch

Entstanden ist so eine große Offenheit im Kollegium. „Bei uns fällt es niemandem schwer, zuzugeben, dass gerade etwas nicht so gelaufen ist wie geplant. Wir reflektieren gemeinsam und geben uns gegenseitig Unterstützung.“ Die hinter dieser Fehlerkultur stehende positive, den Menschen zugewandte Haltung beeindruckte auch die Jury des Deutschen Schulpreises. Sie nahm die Evangelische Grundschule Babelsberg 2023 in den Kreis der 15 Nominierten auf.

Evangelische Grundsätze

Die 2006 gegründete Schule ist eine anerkannte Ersatzschule in Trägerschaft der Potsdamer Hoffbauer-Stiftung. Sie ist getragen von christlichen Werten. Die Kinder sollen die Geborgenheit und Akzeptanz erfahren, „die sie brauchen, um ihren Lernprozess zunehmend kompetent und aktiv in die Hand zu nehmen“, wie es auf der Schulhomepage heißt. Alle Hoffbauer-Grundschulen – es gibt weitere in Potsdam, Kleinmachnow, Bernau, Mahlow und Werder – sind Ganztagseinrichtungen, die in Kooperation mit Horten arbeiten.

Die Evangelische Grundschule Babelsberg bezeichnet sich mit ihren beiden Standorten als „Schule im Kiez“ und als ein „Ort des Lebens und Lernens in der Gemeinschaft – ein Ort, in dem Kinder das Vertrauen und die Unterstützung erfahren, die sie für einen erfolgreichen weiteren Bildungs- und Lebensweg brauchen“.

Konzeptionelle Entscheidungen sind hier selten in Stein gemeißelt. Etwa, wenn es um die Frage geht, ob die altershomogenen Klassen ab Klasse 4 dauerhaft Bestand haben werden. „Die Altershomogenität hat durchaus ihre Vorzüge“, sagt Susanne Anders, obwohl sie persönlich eine Befürworterin jahrgangsübergreifenden Lernens ist. Als Beispiel nennt sie, dass insbesondere bei älteren Kindern engere Beziehungen in der Klasse wachsen können, wenn alle etwa gleichen Alters sind. Dagegen spreche, so die Schulleiterin, dass „ich mich immer wieder dabei ertappe, in homogeneren Klassen weniger offen und individueller zu arbeiten“.

Ein verbundenes Team

Hochebene, Leseecke und Bastel-Wohnküche...
Hochebene, Leseecke und Bastel-Wohnküche... © Bauereignis

Die vor drei Jahren eingerichteten Lernbüros sichern das individuelle und selbstständige Arbeiten der Schülerinnen und Schüler. Fragt man diese, ob es ihnen im Unterricht oder in den Ganztagsangeboten besser gefällt, gucken manche ein wenig verdutzt. Sie unterscheiden nicht zwischen Schule und Ganztag. Kirsten Michaelis, die wie die übrigen Ganztagspädagoginnen und -pädagogen bei der Hoffbauer-Stiftung angestellt ist, wundert das nicht. „Sie erleben uns ja auch stets als Team“, berichtet sie.

Die Leiterin des Ganztags teilt mit der Schulleiterin ein Büro. Das Team der Lehrkräfte und Ganztagsfachkräfte nutzt gemeinsam einen Raum, der üblicherweise Lehrerzimmer heißt. Sämtliche Räume der Grundschule werden gleichermaßen für den Unterricht, für Arbeitsgemeinschaften, für die Hausaufgabenbetreuung oder Freies Spielen belegt. „Okay, daran mussten wir uns alle erst gewöhnen und auch ein paar Regeln vereinbaren, aber wenn wir im Gespräch bleiben, funktioniert es“, sagt die Ganztagskoordinatorin.

Im Hortbereich arbeitet die Schule offen. Das heißt, es befinden sich „vorbereitete Räume“ auf den verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Angeboten. Eine Magnettafel hilft den Kindern sich bezüglich Angebot und Angebotsort interessenbezogen zu orientieren. Kirsten Michaelis: „Diese Angebote bieten einen Rahmen, in dem sich eigene Ideen entwickeln können.“ Die Angebote orientieren sich an den Bildungsbereichen des Brandenburger Bildungsplans „Grundsätze elementarer Bildung in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung“.

Der Bildungsplan wurde 2004 gemeinsam mit der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege erarbeitet und soll sicherstellen, dass Kinder im Hort nicht nur betreut werden, sondern alle erforderlichen Bildungsmöglichkeiten erhalten. In der Evangelischen Grundschule Babelsberg stehen die Hortpädagoginnen und ‑pädagogen deshalb den Kindern jederzeit lernbegleitend zur Verfügung.

Spielgruppen und Spielräume können die Kinder ebenso wie die Spielpartnerinnen und -partner frei wählen. Sie haben regelmäßig die Möglichkeit zum freien Spiel auf dem Schulhof oder drinnen. Dabei entstehen oft situative Angebote und Gesprächsrunden. Gleichwohl haben die Kinder feste Bezugspädagoginnen und -pädagogen, die die Entwicklungen und Interessen der Kinder beobachten und dokumentieren, Bildungsimpulse geben und sich kontinuierlich mit den jeweiligen Klassenlehrerinnen und -lehrern austauschen. Eine Vielfalt von offenen und festen Angeboten, die zum Teil von Schuljahr zu Schuljahr variieren, sowie die freiwillige Hausaufgabenbetreuung runden das Angebot ab.

Die Vorzüge der Doppelbesetzung

Spielräume: Die Kinder können Gruppen und Räume frei wählen.
Spielräume: Die Kinder können Gruppen und Räume frei wählen. © Vera Loitzsch

Die Kooperation der Pädagoginnen und Pädagogen geht über die gemeinsame Raumnutzung weit hinaus. Wenn eben möglich, befindet sich ein Tandem von zwei Personen beider Professionen – eine Lehrkraft und eine Erzieherin – im Unterricht und unterstützen die Schülerinnen und Schüler bei ihrem Lernprozess. Sie planen gemeinsam die Stundengestaltung, auch wenn die unmittelbare Unterrichtsplanung und der didaktische Aufbau einer Unterrichtseinheit natürlich Sache der Lehrkraft bleiben. Doch die Doppelbesetzung ermöglicht mehr Individualisierung.

Die Evangelische Grundschule Babelsberg versteht sich auch als inklusive Schule. Das wird durch Sonderpädagoginnen und Einzelbegleitungen für die rund acht Prozent Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die die Schule jährlich aufnimmt, ergänzt. Dass die Inklusion zu Beginn manch einem Sorgenfalten auf die Stirn zauberte, verschweigen Susanne Anders und Kirsten Michaelis nicht. Durch Kommunikation, Fortbildungen, unterstützende Angebote und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, haben sich die ersten Kolleginnen und Kollegen getraut, den Schritt ins Neuland zu wagen.

Die ständige Bereitschaft der Sonderpädagoginnen Anne Mudrack-Raeck und Katharina Herrmann, ihr Wissen zu teilen, trugen dazu bei, den inklusiven Weg mit Überzeugung zu gehen. Und das baulichen Umständen trotzend. Wenn erforderlich, werden Kinder im Rollstuhl in obere Stockwerke halt getragen. Es geschieht so selbstverständlich als wäre es an dieser Schule, die beim Mittagessen auf Bio setzt, immer schon so gewesen. Miteinander, rücksichtsvoll gegenüber den Mitmenschen und der Natur, das sind Werte, die hier gelebt werden.

Demokratische Spielregeln

Frühzeitig lernen die Kinder die demokratischen Spielregeln – etwa in den Klassenräten oder dem Schulparlament. Aktuell steht eine erfreuliche Frage zur Entscheidung an: „Was machen wir mit den 5.000 Preisgeld des Deutschen Schulpreises?“ Darüber werden Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mitentscheiden. Zu den Werten gehört aber auch der sorgsame Umgang mit allem, was die Schule ausmacht. Wohl auch ein Ergebnis der großen Identifikation mit ihr. Die wurde nochmals gestärkt, als die Schule ihre „Räume neu denken musste, weil wir so groß geworden sind“.

Inklusive Schule
Inklusive Schule © Bauereignis

Unter dem Stichwort „flexible Nutzung von Räumen“ und wissend um die Förderung durch das Investitionsprogramm zum beschleunigten Infrastrukturausbau der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, entwickelte die Schule gemeinsam mit der Berliner Innenarchitektin Katharina Sütterlin von „Bauereignis“ Ideen für neue Möbel. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern. Sie durften nicht nur sagen, was sie sich wünschten, sie bauten die überwiegend aus Holz bestehenden Möbel unter fachlicher Anleitung mit.

Und so entlockt ein Blick in nahezu jeden Raum dem Betrachter ein „Ooh“. Sei es, ob der Hochebenen, der den unterschiedlichen Größen der Kinder angepassten Stühle, der Leseecke oder der Bastel-Wohnküche. Der Blick auf die von den Schülerinnen und Schülern gebauten Möbel überzeugt alle, die angesichts derart romantischer Beschreibung des Lebens und Lernens in dieser Grundschule ins Grübeln über den Lernerfolg kommen mögen: Wer so etwas als Kind auf die Beine stellt, hat etwas gelernt.

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