Ganztags zum „Könner“-Status: Gemeinschaftsschule Hemsbach : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Heute noch besser als gestern!“ Das selbstbewusste Motto der Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule Hemsbach zum 60. Jubiläum meint individualisiertes, selbstständiges Lernen in der gebundenen Ganztagsschule.

„Heute noch besser als gestern!"
„Heute noch besser als gestern!" © Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule

„Sie haben ein interessantes Hobby und Freude an der Arbeit mit jungen Menschen? Um unser Angebot am Nachmittag so vielfältig wie möglich zu gestalten, sind wir stets auf der Suche nach geeigneten Themen und ProjektleiterInnen. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an unser Sekretariat.“

Diese „Stellenanzeige“ findet sich ziemlich weit oben auf der Startseite der Homepage der Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule Hemsbach im Rhein-Neckar-Kreis. Sie offenbart bereits den Geist der Schule – stets auf der Suche nach Neuem, nach neuen kreativen Ideen, neuen Menschen und neuen Netzwerken. Für all das ist die Gemeinschaftsschule mit ihren rund 360 Schülerinnen und Schülern offen. Nach innen wie nach außen.

So verwundert es nicht, dass die Mitglieder des Schulleitungsteams Torsten Stickel und Luisa Harth auf die Frage, was sie selbst als Pluspunkt ihrer Schule einschätzen, hervorheben: „Wir sind eine lernende Institution, die auch bereit ist, Dinge über Bord zu werfen, die sich als nicht vorteilhaft für unsere Schülerinnen und Schüler herauskristallisieren.“

Dass Flexibilität und Kreativität sowie die Bereitschaft, zuzugreifen, wenn sich Gutes bietet, den Schulalltag prägen, hat sich schon am Morgen unseres Besuches gezeigt, als Schulleiterin Christin Hoffmann den Termin kurzfristig nicht wahrnehmen kann. „Kein Problem, wir finden schon eine Lösung“, verspricht Schulsekretärin Katrin Sananikone. Wenige Minuten später stehen Torsten Stickel und Luisa Harth zum Austausch bereit.

Eine „Azubi-Headhunterin“

Ein Beispiel für den „guten Griff“ ist auch Uschi Knieling. Seit die Friedrich-Schiller-Schule von deren Faible für die Natur, speziell für den Kartoffelanbau erfuhr, bereichert die Kartoffel-AG das umfangreiche Angebot an Arbeitsgemeinschaften im rhythmisierten Schul(Ganz)tag. „Die Schülerinnen und Schüler sind immer wieder fasziniert, was aus einer Knolle werden kann, was man damit alles machen kann, welche Pflege Kartoffeln benötigen. Es bereitet ihnen Freude“, sagt Uschi Knieling.

Doch es sind nicht nur die Arbeitsgemeinschaften, die sie bereichert. Gleichzeitig fungiert Uschi Knieling nämlich als „Azubi-Headhunterin“. Getreu der Devise: Rein ins Handwerk – raus ins Leben. Sie bietet wöchentliche Workshops für Schülerinnen und Schüler an, stellt ein Netzwerk mit Unternehmen zusammen und begleitet Jugendliche auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz zu ihren ersten Vorstellungsgesprächen. „Dabei geht es nicht nur um die Gestaltung einer Bewerbungsmappe, sondern auch um Kleidung, Auftreten und Sprache“, verrät sie.

Ihr Angebot ist nun Bestandteil der intensiven Berufsorientierung und -vorbereitung, die der Schule am Herzen liegt. Praktika ab Klasse 7, eine intensive Kooperation mit der Regionalen Jugendagentur „Job Central“, örtlichen Betrieben und der Arbeitsagentur sowie Informationsabende mit Beruflichen Gymnasien und Berufsschulen, aber auch das beständige Bemühen, neue Praktikumsplätze bei regionalen Unternehmen und Betrieben zu akquirieren, runden die Vorbereitung auf die Zeit nach der Schule ab.

Inklusive MINT-Schule

Der stellvertretende Schulleiter Torsten Stickel betont: „Dabei agieren wir stets mit Blick auf die Einzelnen, ihre Stärken und Schwächen.“ Luisa Harth ist überzeugt, dass das individualisierte Lernen und überhaupt „die Individualisierung in allen Bereichen“ ein Grund dafür ist, dass die Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule in diesem Jahr zu den 20 für den Deutschen Schulpreis ausgewählten Schulen gehört.

Selbstständiges Lernen an „Aufgabenpaketen" in der Lernzeit
Selbstständiges Lernen an „Aufgabenpaketen" in der Lernzeit © Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule

Vielfalt lautet eine Devise dieser inklusiven MINT-Schule. Vielfalt bezieht sich auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, die Lerntypen und Lerntempi, die Wahl der Lehrmaterialien oder des Lernrhythmus. Die Schule fasst das im „V8-Prinzip“ zusammen: „Auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Orten zu vielfältigen Zeiten mit vielfältigen Materialien in vielfältigen Schritten mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen gemeinsame Ziele erreichen.“ Luisa Harth schließt auch die Lehrkräfte ein: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, mehrfach zu differenzieren, erwarten wir von uns allen, auch von neuen Lehrkräften, die zu uns kommen. Dementsprechend ist unser Team, zu dem auch fünf Sonderpädagoginnen und ‑pädagogen gehören, aufgestellt.“

Und so sind auch die „Aufgabenpakete“ für die Schülerinnen und Schüler zusammengestellt, denen sie sich in der freien Lernzeit widmen. Ob sie das zu zweit oder im größeren Team, im Klassenraum, an einem Arbeitsplatz im Schulgebäude, sitzend oder gemütlich liegend erledigen, bleibt ihnen überlassen. Unterstützung erhalten sie dabei von den sie begleitenden Lehrkräften, aber auch von Mitschülerinnen und -schülern. Die Themen legen die Fachlehrerinnen und Fachlehrer gemeinsam vor Beginn des Schuljahres fest.

Auf dem Weg zum „Könner“-Status

Die Kinder und Jugendlichen werden ab Klasse fünf gezielt und wöchentlich „gefördert und gefordert“, wie Torsten Stickel sagt. „Insbesondere in Mathe, Deutsch und Englisch möchten wir alle aus ihrer Komfortzone holen.“ Will heißen: Alle müssen sich dort mit Anforderungen auseinandersetzen, die eigentlich der nächsthöheren Schulform zugeordnet ist. „Fördern und fordern meint, die Schülerinnen und Schüler etwas zu pushen, um Lücken zu schließen, und sie zugleich herauszufordern“, ergänzt Luisa Harth.

Eine wertvolle Erfahrung war in diesem Zusammenhang die mehrjährige Teilnahme als Projektschule im Forschungsprojekt „DiaGU“ der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Im Rahmen eines vom BMBF geförderten Verbundprojekts zur inklusiven Bildung widmete es sich den unterrichtspraktischen Herausforderungen für den Umgang mit Heterogenität und der Förderdiagnostik. Es ging um Fragen wie: Wie können unterschiedliche Lernausgangslagen akkurat diagnostiziert werden? Wie kann Unterricht adaptiv gestaltet werden? Was ist praktikabel?

Auch im Unterricht haben die Lernenden möglichst große Eigenständigkeit. Wer sich als „Könner“ zeigt und in der Lage ist, selbstständig und konzentriert für sich zu arbeiten, darf sich frei im Haus bewegen und kehrt später wieder in seine Klasse zurück. Viele derer, die per Unterschrift von drei Lehrkräften den Könner-Status bestätigt bekommen haben, nutzen dafür das Lernatelier. „Das erfordert, dass wir die Schülerinnen und Schüler schrittweise an diese Möglichkeit heranführen. Und es setzt transparente und klare Absprache über das Prozedere voraus“, erläutert der stellvertretende Schulleiter.

Realistische Selbsteinschätzung lernen

In regelmäßigen Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern, auch im Beisein der Eltern, werden die Ziele für jede und jeden Einzelnen und die Schritte dorthin abgesteckt. Regelmäßig wird der Ist-Zustand – in der eigenen Wahrnehmung und jener der Lehrkräfte – bilanziert, um gegebenenfalls die Ziele und Schritte neu zu justieren. „Die Einschätzungen differieren gar nicht so extrem“, berichtet Torsten Stickel, was für ihn auch ein Resultat des guten Austausches und der frühzeitigen Befähigung der Lernenden, das eigene Lernen realistisch zu beurteilen, ist.

... mit Individualisierung in allen Bereichen
... mit Individualisierung in allen Bereichen © Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule

„Nur manchmal fliegen berufliche Zielvorstellungen und Wünsche vielleicht ein wenig hoch“, erzählt er schmunzelnd. Es wirkt, als würde sein Hund Denver, ein echter Collie, der auf viele Kinder eine extrem beruhigende Wirkung ausstrahlt, zustimmend nicken. Schülerinnen und Schüler mit einem diagnostizierten Förderbedarf lernen an der Schule, wo immer es möglich ist, gemeinsam in der Regelklasse. Darüber hinaus bietet ihnen die Gemeinschaftsschule zahllose lebenspraktische Erfahrungen – bis hin zum eigenständigen, aber begleiteten Leben in einer Trainingswohnung in Weinheim.

Den Ganztag betrachtet die Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule, die seit diesem Jahr mit einer Gruppe in den bilingualen Unterricht in Geografie und Geschichte eingestiegen ist, als weitaus mehr als ein „Füllen des Tages mit netten Angeboten“. Er dient vielmehr zur Rhythmisierung, auch zum Wechsel zwischen besonders lernintensiven Fächern, Bewegungsangeboten oder Musik.

Gebundener Ganztag mit „Nachmittagsprojekten“

Der Tag beginnt gleitend um 7.45 Uhr und endet von Montag bis Donnerstag um 15.30 Uhr. Pausen bieten Zeit für ein Frühstück, aber auch Erholung und Bewegungszeiten. In der einstündigen Mittagspause stehen zahlreiche Spiele zur Verfügung, deren Ausgabe und Organisation die Schülerinnen und Schüler selbst übernehmen. Denjenigen, die es eher nach Ruhe dürstet, besuchen den Ruheraum, wo sie lesen, still spielen, puzzeln oder einfach nur „abhängen“, und einen leckeren Tee trinken können. Um sich dann gestärkt und aufnahmebereit wieder ihren Lernaufgaben widmen zu können.

An jedem Mittwoch runden „Nachmittagsprojekte“, oft in Kooperation mit lokalen Vereinen, den Ganztagesbetrieb ab, für die Klassen 5 bis 7 etwa das Biotop-Projekt, das Experimentier-Projekt, ein von einer Lehrkraft organisiertes Theater-  sowie das Imker-Projekt. Musiklehrer Jo Ossa leitet die Schulband „CrashKids“. Für die Klassenstufen 8 bis 10 gibt es am Mittwochnachmittag eine „Studierzeit“, in der Lehrkräfte der Fachbereiche Deutsch, Mathe, Französisch und Englisch mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Wie kann Unterricht adaptiv gestaltet werden?
Wie kann Unterricht adaptiv gestaltet werden? © Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule

Fast unbemerkt von den Schülerinnen und Schülern nutzt das Schulteam nahezu jede freie Minute, um die eigene Schulentwicklung voranzutreiben. Die bestehenden Netzwerke werden gepflegt und neue geknüpft. Eines ist das Kooperationstrio aus Hochschule, Schule und Betrieben der „Wissensfabrik“ in Ludwigshafen, das die MINT-Bildung fördert und dem sich bereits 130 Unternehmen vom Klein- bis zum mittelständischen Familienbetrieb, aber auch Großunternehmen und Stiftungen angeschlossen haben.

„Heute noch besser als gestern“

Die Wissensfabrik entwickelt Unterrichtseinheiten und maßgeschneiderte Inhalte für die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, in denen sie zugleich als die künftigen potenziellen Fachkräfte angesprochen werden, wie im Projekt „IT2School“ für Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen oder im Projekt „Kinder entdecken Technik – KiTec Digital“ für die 6. Klassen. Die MINT-Aktivitäten werden auch durch die Mitgliedschaft im Lernkreislauf MINTensiv der Klaus-Tschira-Stiftung unterstützt. Und das sind nur einige der vielen Kooperationspartner, bei denen die Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule schon erfolgreich „zugegriffen“ hat

Im Februar 2024 feierte die Schule ein Jubiläum. In der Festschrift gratulierte Bürgermeister Jürgen Kirchner, der zugleich Vorsitzender des Schulverbandes Nördliche Badische Bergstraße ist, zu „60 Jahren Beständigkeit, Erfolg und herausragender pädagogischer Arbeit“. Das Motto der Festschrift, die Fotos des (damals noch kleinen) Kollegiums von 1964 und anschließend das weit größere und auffallend junge Kollegium von 2024 zeigt, lautet selbstbewusst: „Heute noch besser als gestern!“

Wie an das Entwicklungspotenzial der Schülerinnen und Schüler glaubt die Friedrich-Schiller-Gemeinschaftsschule an das der gesamten Schulgemeinschaft. Das geschieht im Bewusstsein und mit der Bereitschaft, sich als Schule weiterzuentwickeln. „Denn“, wie Torsten Stickel sagt, „wir hinterfragen uns immer, ob das, was wir anbieten, gut genug ist.“

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