Ganztags individuell: LVR-Förderschule Wuppertal : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

177 Schülerinnen und Schüler besuchen die LVR-Förderschule in Wuppertal. Sie werden höchst individuell gefördert. „Jeder Abschluss, den ein Jugendlicher hier erreicht, ist hart erarbeitet“, sagt Schulleiterin Christiane Strufe.

Dauerregen empfängt uns in Wuppertal. Selbst das üblicherweise strahlend grüne Schulgebäude der LVR-Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung wirkt an diesem Morgen traurig. Doch nicht lange. Kaum betreten wir die Schule deren Träger der Landschaftsverband Rheinland (LVR) ist, ändert sich das Bild schlagartig. Fröhliche, muntere Stimmen sind zu hören. An der Wand strahlt ein farbenfrohes, großflächiges Bild – Resultat des Mosaikprojektes „Fülle des Lebens“, wie wir später erfahren. Es mutet orientalisch an, zu sehen ist aber auch die Wuppertaler Schwebebahn, angestrahlt von der Sonne. Es zeigt alle Facetten des Lebens, vom Leben bis zum Tod, von der Sonne bis zur Trauer.

„Jeder ist ein ganz besonderer Mensch“

Facetten, die diese Schule, eine von insgesamt 37 Förderschulen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten des LVR in Nordrhein-Westfalen, kennzeichnen. Hier kommen 177 Kinder zusammen. Sie alle sind einzigartig, wissen ihre Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten, Krankenschwestern und Pfleger. Jedes Kind lebt mit einer Beeinträchtigung. Schulleiterin Christiane Strufe spricht mit größter Achtung von ihren Schülerinnen und Schülern.

„Jeder ist ein ganz besonderer Mensch mit eigenen Stärken und Bedürfnissen“, sagt sie. Die Einstellung begleitet die tägliche Arbeit ihres Teams. Viele der Sozialpädagoginnen und -pädagogen sind schon lange an Bord. Ihre Chefin bringt es auf inzwischen 28 Jahre an dieser Schule. Das Durchschnittsalter des Kollegiums liegt bei über 55 Jahren. „Einmal Förderschullehrerin, immer Förderschullehrerin und mit großer Wahrscheinlichkeit an dieser Schule, könnte das Motto meiner Kolleginnen und Kollegen lauten“, schmunzelt die Schulleiterin.

Ganztagsschule als Lern- und Lebensraum

Fragt man sie, was ihre Schule auszeichnet, so fallen ihr manche Antworten ein: „Unsere Schule ist Lernort und Lebensraum“, lautet die eine. Beobachtet man die Kinder und Jugendlichen am Anfang und Ende des Schultages erhält man die Bestätigung: Sie kommen fröhlich, gehen aber nicht happy, dass es endlich nach Hause geht. Nicht nur im Elternhaus, sondern auch hier finden sie Bezugspersonen, denen sie bedingungslos vertrauen. Ein Ergebnis des Konzepts, insbesondere den Jüngsten im Primarbereich möglichst wenig Personalwechsel zuzumuten. Klassenteams, zusammengesetzt aus den Professionen der Förderschulen, unterrichten und begleiten die Klassen mit zehn bis elf Kindern.

Die Ziele sind klar definiert: Die Schülerinnen und Schüler sollen einerseits zu einer größtmöglichen Selbstständigkeit befähigt werden. Im Schulprogramm klingt das so: „Das gleichberechtigte Zusammenwirken der gesamten Schulgemeinschaft zielt ... auf die aktive Teilhabe der Schülerinnen und Schüler am gesellschaftlichen Leben ab. Gegenseitige Wertschätzung, Achtung und Toleranz sind die Grundlage unseres Miteinanders.“

„Ein jeder nach seinen Fähigkeiten“

Eine zweite Antwort lautet: „Im harmonischen Miteinander mit den Eltern lernen die Kinder nicht nur Selbstständigkeit und Lebensbewältigung, sondern auch das, was jede Schülerin und jeder Schüler anderer Schulen lernt.“ Das Einmaleins ebenso wie Deutsch, Englisch, Geografie und Sport. Ein jeder seinen Fähigkeiten entsprechend. Mit Noten für jene, die den Hauptschulzweig besuchen, mit Berichtszeugnissen für andere Schülerinnen und Schüler. Dabei investieren manche Pädagogen außergewöhnlich viel Zeit, formulieren „offizielle“ Zeugnisse für die Eltern und persönliche für die Kinder. In ihnen ermuntern sie, zeigen Fortschritte auf, weisen auf noch brachliegende Potenziale hin.

„Von Versetzung aber spricht kein Mensch“, berichtet Christiane Strufe. Vom Sitzenbleiben schon gar nicht. Es wird geschaut, ob es pädagogisch sinnvoll ist, ein Kind noch ein Jahr länger in einer Klassenstufe zu halten. „Es geht um das pädagogische Durchlaufen der Schule“, ergänzt die Schulleiterin. Sie weiß um Vorbehalte: „Manche Außenstehende urteilen schnell, hier werde ja nichts verlangt. Manchmal ist sogar von Kuschelpädagogik die Rede. Aber seien Sie sicher, die Schülerinnen und Schüler lernen im Rahmen ihrer Möglichkeiten und werden entsprechend gefördert und gefordert. Jeder Abschluss, den ein Jugendlicher hier erreicht, ist hart erarbeitet.“ Unterrichtet werden die jungen Menschen aus einem weiten Einzugsgebiet – manche haben bis zu 90 Minuten Anfahrt – in den Bildungsgängen „Geistige Entwicklung“, „Lernen“, Grundschule und Hauptschule mit den entsprechenden Abschlüssen.

Aussonderung ausgeschlossen

Als dritte Antwort hält Christiane Strufe den engen persönlichen Kontakt und individuellen Blick auf jedes einzelne Kind parat. Ermöglicht wird er unter anderem durch die Zeit, die dank des Ganztagsmodells der nun bald 50 Jahre alten Förderschule zur Verfügung steht. Dieser ist Voraussetzung für den Erfolg der Schülerinnen und Schüler. Die Definition des Begriffs Erfolg spiegelt den Geist der Schule wider: „Erfolg ist, wenn das Kind angst- und schmerzfrei, fröhlich und gerne zur Schule kommt“, sagt Strufe. Damit dies gelingt, widmet sich das multiprofessionelle Team allen Kindern intensiv. Vom ersten Schultag an.

Beispiel eines normalen Schuljahresbeginns: Nach der feierlichen gemeinsamen Begrüßungsfeier mit Eltern, Freunden und Verwandten, besucht an den ersten beiden Schultagen nur die Hälfte der „Neuen“ die Schule, die übrigen bleiben noch zu Hause. An den folgenden zwei Tagen wechselt die Gruppe. Man möchte die Gruppen anfangs klein halten. Die Eltern, „die Experten für ihr Kind“, wie Christiane Strufe sagt, sind dabei, wenn im intensiven Austausch erste Eindrücke mit und über die Kinder gesammelt werden. Welche Vorlieben hat es? Hat es Zugang zu Sprache und Musik? Hält es Blick- und Körperkontakt? Was sind seine Interessen? Welche Pflegenotwendigkeiten bestehen? „Das Wohl und die Bedürfnisse des Kindes stehen im Zentrum aller Überlegungen“, betont die Schulleiterin nochmals.

Die Kennenlernphase dient auch der Überlegung, wie die innere Differenzierung am sinnvollsten gestaltet und gelebt wird. Kinder mit ähnlichen Fähigkeiten (am Tisch sitzen können, schon mit Stiften umgehen können, erforderliche vollumfängliche Betreuung) werden in Lerngruppen eingeteilt. Mit einer klaren Ansage: Aussonderung ausgeschlossen. Auch das Kind mit Schwerstmehrfachbehinderung bleibt im Klassenraum und im Klassenverband.

Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe

Inklusion ist an der LVR-Förderschule Wuppertal gelebte Selbstverständlichkeit. Entsprechend positiv steht Christiane Strufe den gesamten Inklusionsbemühungen in Deutschland gegenüber. „Inklusion ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Wenn wir alle lernen würden, im Kontakt miteinander zu leben, gäbe es viel weniger Probleme“, ist sie überzeugt. Schon jetzt arbeitet ihre Schule eng mit der benachbarten Gesamtschule zusammen. Die Gesamtschule Barmen wurde gerade mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Viele sind in Wuppertal davon überzeugt, dass die Kooperation mit der Förderschule ihren Teil dazu beigetragen hat.

Strufe glaubt, dass Inklusion an jeder Schule gelingen kann, dass Regel- und Förderschule durchaus „eins“ werden können. „Vorausgesetzt,“, sagt sie, „dass die räumlichen und sächlichen Bedingungen stimmen.“ Pflegeräume müssen existieren, Lernhilfen für alle Sinne sind selbstverständlich, Klassenräume müssen groß genug sein, damit zum Beispiel das Bett für das Kind, das im Liegen lernen muss, Platz findet. Es bedarf der Räume für Therapie, für Bewegung bis hin zum Schwimmbad.

Den Blick nach vorne gerichtet

Die aktuelle Situation stellt sie nicht zufrieden. Ihr Fachpersonal ist inzwischen gefragt. Sie muss es teilweise für Inklusionsaufgaben in andere Schulen abordnen. Das fehlt dann für den differenzierten Unterricht der eigenen Schülerinnen und Schüler. Und so droht die aktuelle Lehrer-Schüler-Relation (1:6) sich zu vergrößern. Zur Inklusion zählt in Wuppertal aber nicht nur der Alltag im Schulleben. Wie geht es danach weiter?

Um Antworten ringt seit einigen Jahren „Anschub“. Das Netzwerk befasst sich mit der Situation von Menschen mit Behinderungen im Übergang von der Schule in das Berufsleben. Erklärter Wille ist die Inklusion. Ziel ist der Erhalt und die konkrete Verbesserung der individuellen Berufsvorbereitung und der Berufsperspektiven für alle Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das gilt nicht nur die Förderschulen, sondern vor allem auch für die allgemeinbildenden Schulen. Das Netzwerk bietet Möglichkeiten zur Information, zum Austausch, zur Beratung, zur gegenseitigen Unterstützung und gemeinsamer Öffentlichkeitsarbeit. Es ist Plattform zur Entwicklung neuer Ideen und Konzepte.

„Sommernachtsträume“

Als ein Konzept bester Inklusion entpuppte sich die Kooperation der LVR-Förderschule mit der benachbarten Schule am Nordpark und mit dem Sinfonieorchester Wuppertal. Zwei Jahre lang besuchten die Musikerinnen und Musiker die Schulen, ermöglichten den Kontakt zu ihren Instrumenten und stellten diese vor. Es wurde musiziert, gesungen, gelauscht und gelernt. Fast wöchentlich fanden die Begegnungen statt, die Anfang Juni im gemeinsamen Konzert „Sommernachtsträume“ mündeten.

In der historischen Stadthalle Wuppertal erklang Musik von Mendelssohn, Beethoven und Grieg. Ein unvergesslicher Abend – nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für das Orchester. Dirigent Toshiyuki Kamioka brachte es auf den Punkt: „Nicht Sie, die Schulleiterin, die Kinder und ihre Eltern haben zu danken. Wir sind es, die Danke für diese eindrucksvolle und wichtige Erfahrung sagen müssen.“

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