Ganztags gefördert: „Betonung auf individuell“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Franziskus-Schule in Dingelstädt mit dem „Bildungsgang zur individuellen Lebensbewältigung“ wurde vor 30 Jahren von einer Kongregation der Franziskanerinnen, die im Landkreis Eichsfeld verwurzelt ist, gegründet.

Mitte November 1989 startet ein Trabant im thüringischen Dingelstädt Richtung deutsch-deutsche Grenze, die hier in rund 30 Kilometern erreicht ist. Darin vier Nonnen der Franziskaner-Kongregation, die „auch mal in den Westen gucken wollten“, wie Schwester Paulis Mels schmunzelnd erzählt. Alle kamen natürlich am Abend wieder.

Schwester Paulis Mels © Online-Redaktion

Schwester Paulis Mels ist seit fünf Jahren die Schulleiterin der St. Franziskus-Schule, einer von den Thuiner Franziskanerinnen getragenen Schule für Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung. Die Kongregation der Franziskanerinnen vom hl. Märtyrer Georg zu Thuine ist eine 1869 gegründete katholische Ordensgemeinschaft, die nach den Regeln des heiligen Franziskus lebt, im Bildungs- und Sozialwesen sowie in der Seelsorge tätig ist und neben Schulen auch Internate, Krankenhäuser, Alten- und Behindertenheime unterhält. Die Schwestern tragen ein schwarzes Habit und einen ebensolchen Schleier.

Dingelstädt liegt im Eichsfeld, der bekannten katholischen Enklave in einer traditionell protestantisch und seit Jahrzehnten auch atheistisch geprägten Umgebung in Thüringen. Ihre Besonderheit und ihr Selbstbewusstsein hat die Region immer aufrechterhalten, auch in der DDR. Die wechselvolle Geschichte spiegelt der beeindruckenden Gebäudekomplex aus dem Jahr 1864, in dem sich von 1904 bis 1922 ein Lehrerinnenseminar für Volksschullehrerinnen und ein Waisenhaus befanden und in dem 1921 die Thuiner Franziskanerinnen ein katholisches Oberlyzeum mit angeschlossener Haushaltungsschule gegründet hatten, das 1940 von den Nazis geschlossen und zu einer „Deutschen Oberschule“ für Jungen umfunktioniert wurde. Schon am 5. August 1945 eröffneten die Schwestern ihre Oberschule für Mädchen wieder, doch der Betrieb wurde ihnen 1948 wieder entzogen, und 1952 schieden die letzten Ordensschwestern aus dem Schuldienst. Das St. Joseph-Gymnasium wurde zur Polytechnischen Oberschule „Käthe Kollwitz“.

„Unter der Hand gefördert“

Zunächst betrieb die Schwesterngemeinschaft der Heiligenstädter Schulschwestern weiter ein Waisenhaus und im damaligen St. Joseph-Heim ein Erholungsheim für Kurkinder. Ab 1972 konnten im neu gründeten „Heim für geistig behinderte Kinder“ schließlich Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der geistigen und körperlichen Entwicklung aufgenommen werden. Aber nicht beschult. Jedenfalls nicht offiziell. „Unter der Hand wurden die 'nicht schulbildungsfähigen' Kinder', wie man sie damals nannte, so gut es ging, gefördert“, wie Schwester Paulis Mels erläutert.

Gleich im Dezember 1990 investierten die Thuiner Franziskanerinnen nicht nur in das neu erstehende St. Joseph-Gymnasium, sie eröffneten auch in einem Gebäude des St. Joseph-Heims eine der ersten „Sonderschulen für geistig und mehrfach behinderte Kinder“ in Ostdeutschland, die 1993 den Namen St. Franziskus-Schule und die staatliche Anerkennung erhielt.

Die Schülerzahlen wuchsen schnell, bis auf rund 100 Kinder und Jugendliche. Beim Rundgang durch die Schule wirkt das Gebäude, als sei es erst letztes Jahr eröffnet worden. Ihren Standort zwischen dem St. Josef-Gymnasium und dem St. Joseph-Kinder- und Jugendhaus bezeichnet die Franziskus-Schule als „ideal“.

„Hier arbeiten alle in Teams‟

© St. Franziskus Förderschule

Ein Blick auf das Kollegiumsfoto macht schnell deutlich, dass sich die rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – ein multiprofessionelles Team, das nur zum Teil aus Lehrkräften besteht – nicht von denen einer staatlichen Schule unterscheiden: Die Schulleiterin und ihre Stellvertreterin Schwester Johanni Wieners tragen ihre Tracht, alle anderen arbeiten „in Zivil“. 

64 Schülerinnen und Schüler lernen im aktuellen Schuljahr 2020/2021 in neun Klassen in der Ganztagsschule. Pro Klasse sind das sechs bis acht teils schwerstbehinderte Schülerinnen und Schüler, manche auch bettlägerig. Die Klassen sind in vier Stufen gegliedert: Unter-, Mittel-, Ober- und Werkstufe bauen aufeinander auf. Klassenlehrerin beziehungsweise Klassenlehrer sind immer eine Sonderpädagogin oder ein Sonderpädagoge. Jeder Klasse sind außerdem zwei sonderpädagogische Fachkräfte zugeordnet. Des Weiteren arbeiten Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Logopäden und für autistische Kinder geschulte Fachkräfte mit.

„Alle arbeiten hier in Teams zusammen und ergänzen sich gut“, betont die Schulleiterin. „Das ist ein Kontrast zu einer meiner früheren Schule, an der alle Einzelkämpfer waren.“ Vorbereitung der Mahlzeiten, Pflege und spezielle Fördermaßnahmen gehören zu den Aufgaben sämtlicher pädagogischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch der Lehrkräfte.

Der Unterricht ist auf jede Schülerin und jeden Schüler individuell zugeschnitten. In Deutsch und Mathematik arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit Wochenplänen. Kinder und Jugendliche, die leistungsstärker sind, erhalten pro Woche zwei zusätzliche Stunden in Deutsch und Mathematik. „Das alles braucht viel Zeit für die Vorbereitung“, erklärt Schwester Paulis Mels, „aber dafür müssen wir ja auch keine Abiturklausuren korrigieren.“

Eine offene Schule

Die Schultage dauern von 8 bis 15 Uhr mit einer Mittags- und Erholungspause von 12 bis 13.15 Uhr. Bewegung ist auf dem Fußballplatz, dem Trampolin und im Sandkasten möglich. Bei Regenwetter gibt es Musik und Spiele im Haus. Jeden Montag bieten die Lehrerinnen und Lehrer am Nachmittag noch 75-minütige Wahlkurse an. Aktuell stehen „Haus und Garten“, „Lesen macht Spaß“, Töpfern, „Turnhalle“, „Unterstützende Kommunikation“, Singen mit Schwester Paulis Mels („Da singen wir alle Schlager“), „Musikschule – Ein Instrument lernen“ und „Schmuck basteln“ zur Auswahl.

Holzwerkstatt © Online-Redaktion

In der AG „Dingelstädt entdecken“ besuchen die Schülerinnen und Schüler unter anderem die Feuerwache, die Post und das Rathaus. „Der Netto-Supermarkt ist hier eine der wichtigsten Pilgerstätten“, meint die Schulleiterin mit einem Augenzwinkern. Beispielsweise für Besorgungen für das Schüler-Café. Jeden Tag öffnen die Werkstufenschülerinnen und -schüler von 9.30 Uhr bis 10.30 Uhr das Schüler-Café mit Büfett, auch für die Lehrkräfte und für Gäste. Durch das regelmäßige Einkaufen der Lebensmittel, den Verkauf der Speisen und den Umgang mit Geld werden die Jugendlichen, die im Café mitarbeiten, von Woche zu Woche selbstständiger.

An jedem Dienstag gibt es außerdem von 13 Uhr bis 14.30 Uhr das Franziskus-Café, für das die Schülerinnen und Schüler der Werkstufe mehrere Kuchen backen, in der Aula die Tische eindecken, Kaffee und Tee servieren und ein Pläuschchen mit ihren Gästen halten. Es gibt schon Stammgäste wie den Apotheker-Stammtisch oder die „Lustigen Omas“. „Wir sind eine sehr offene Schule“, betont die Schulleiterin. 

Parallel zum Café öffnet der Franziskus-Laden, für den die Schülerinnen und Schüler praktische Gegenstände und Dekorationen aus Holz, Ton oder Stoff herstellen. Für die Schulleiterin ist wichtig: „Sie lernen Ausdauer, handwerkliches Geschick, den Pinzetten- oder Dreipunktegriff, die Hand-Auge-Koordination. Und zugleich lernen sie Arbeitsregeln kennen.“ Auch die Schulbibliothek verwalten die Schülerinnen und Schüler selbst.

Umweltschule in Europa

Im Projekt „Berufliche Orientierung für Schülerinnen und Schüler mit Schwerbehinderung in Thüringen“ arbeitet die Ganztagsschule mit dem Internationalen Bildungs- und Sozialwerk e.V. Leinefelde-Worbis, einem Bildungsträger der Region, zusammen. Die Jugendlichen können hier über drei Jahre an einem Wochentag in Berufsfelder in den Bereichen Holz, Küche, Wäscherei, Nähen sowie Garten- und Landschaftsbau hereinschnuppern. Der Bildungsträger berät auch die Eltern und informiert Betriebe über die Möglichkeiten der Beschäftigung für die Schülerinnen und Schüler.

2014 wurde die St. Franziskus-Schule erstmals als „Umweltschule in Europa – Thüringer Nachhaltigkeitsschule“ ausgezeichnet und seitdem immer wieder als solche bestätigt. Themen wie Mülltrennung, Müllvermeidung, Energie sparen sind fester Bestandteil des Schulalltags. So bauen die Schülerinnen und Schüler beispielsweise Gebrauchtmaterialien um. 2019 sammelten sie beim jährlichen Frühjahrsputz vor Ostern den Plastikmüll an der Unstrut auf. Überhaupt steht die Natur immer wieder auf dem Lehrplan: Wald, Tiere und Pflanzen, die vier Elemente und gesunde Ernährung. Die Schülerinnen und Schüler bewirtschaften die Gemüsegärten oder bauen Insektenhotels. Mit ihrem Engagement ist die Brücke über die Unstrut, die durch das Gelände fließt, verschönert worden.

Insektenhotel © Online-Redaktion

Die Schulleiterin weiß aber auch, dass der Computerraum der „Lieblingsunterrichtsraum‟ der Schülerinnen und Schüler ist. „Sie freuen sich immer, wenn der Unterricht mal durch ein Youtube-Video aufgelockert wird.“ Pro Klasse gibt es bisher ein Tablet. Es sei noch Grundlagenarbeit zu leisten, wenn Schülerinnen und Schüler im Distanzunterricht zu Hause mit digitalen Medien lernen sollen. Die St. Franziskus-Schule ist jedenfalls beim Digitalpakt dabei.

„... vor allem: individuell“

Inklusion fördert die Franziskus-Schule selbstverständlich auch, das ergibt sich schon aus ihrem christlichen Leitbild. Ein Beispiel ist die Koch-AG „Cookies“: Je fünf Schülerinnen und Schüler der St. Franziskus-Schule und des benachbarten St. Josef-Gymnasiums treffen sich in der Lehrküche der Franziskus-Schule zum gemeinsamen Kochen und Backen, wobei gleichzeitig Ernährungsbildung stattfindet. Die „Cookies“ traten schon mehrmals beim Thüringer Schülerkochpokal an.

Da der Spiel- und Schulhof der Franziskus-Schule direkt an den Schulhof des Gymnasiums grenzt, haben Schüler der Werkstufenklasse in den letzten Jahren öfter gemeinsam mit Schülerinnen des Gymnasiums dort Pflanzaktionen durchgeführt. Die Schülerband, die aus dem Wahlkurs „Rhythmus und Blues“ hervorging, trat beim gemeinsamen Weihnachtskonzert auf. Sportbegeisterte beider Schulen treffen sich beim Unstrutlauf oder bei den Tischtennis-Mini-Meisterschaften des TTV Dingelstädt.

Und wie findet sich die kirchliche Trägerschaft im Schulalltag wieder? Die Schulleiterin bringt es auf einen einfachen Nenner: „Wir beginnen jeden Tag im Morgenkreis mit einem Gebet und besuchen die Messe, aber das allein wäre ja etwas wenig als Begründung einer katholischen Schule. Ich denke, dass Wohlfühlen und das Urvertrauen der Geborgenheit, das wir hier bieten, mit der Spiritualität zusammenhängt. Wir fangen jede Schülerin und jeden Schüler in seinem ganzen So-Sein auf und schauen gemeinsam, dass sie sich als gewollte Personen verstanden sehen.“

Selbstgemachtes im Franziskus-Shop © Online-Redaktion

Der Bildungsgang für den Förderbedarf in der geistigen Entwicklung heißt in Thüringen „Bildungsgang zur individuellen Lebensbewältigung“. Schulleiterin Paulis Mels stimmt zu: „Der Ausdruck gefällt mir, und wir betonen vor allem: individuell!“

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Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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