Ganztags auf der Suche nach dem Samenkorn : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Am Emsland-Gymnasium Rheine stehen der „menschenfreundliche Umgang“ und die Suche nach den Stärken der Schülerinnen und Schüler an erster Stelle, so Schulleiterin Dr. Diana Schilling.

Schulgarten
Der Schulgarten © Online-Redaktion

Der Hinweis fiel eher in einem Nebensatz und bezog sich im Kern auf die angestrebte intensivere Nutzung des Schulgartens. Als Dr. Diana Schilling lächelnd von den Fünftklässlern „ihres“ Emsland-Gymnasiums in Rheine und deren Bemühungen, Blumensamen zum Keimen zu bringen, berichtete, dachte die Leiterin der Schule eigentlich „nur“ an die Möglichkeit, die Pflanzaktivität der Schülerinnen und Schüler fächerverbindend zu nutzen.

Doch ganz ungewollt hatte sie im weitesten Sinne das Leitmotiv der Schule erwähnt: „Wir finden deinen Schatz und werden ihn heben.“ Man könnte auch sagen: Wir schauen einmal, was aus dir, der kleinen Pflanze, wird, und wie wir dich dabei unterstützen können – so, wie das Samenkorn gegossen werden muss, um stark und kräftig zu werden. Denn genau darum geht es dem Gymnasium mit seinen aktuell 657 Kindern und Jugendlichen.

Offenheit und Vielfalt als Stärke

„Wir werden manchmal kritisch gefragt, warum wir eigentlich keinen ausgewiesenen Schwerpunkt anbieten“, erzählt die Schulleiterin und liefert ihre Antwort umgehend mit: „Unsere Stärke ist unsere Offenheit und Vielfalt. Wir sind so breit aufgestellt, dass eigentlich jede Richtung für die Schülerinnen und Schüler möglich ist.“ 

Dazu zählt die Kooperation mit den drei weiterführenden Schulen der Stadt, dem Gymnasium Dionysianum, dem Kopernikus-Gymnasium und der Euregio-Gesamtschule. Die Größe der Einrichtungen bedingt, dass nicht an jeder alle Kurse angeboten werden können. Also wird zusammengearbeitet. Die Schülerinnen und Schüler pendeln, müssen auf ihr „Lieblingsfach“ nicht verzichten. Am Emsland-Gymnasium trifft sich in aller Regel, wer Spanisch lernen möchte.

Doch zurück zum Samenkorn. Eine Voraussetzung für fruchtbaren Dünger stellt, um im Bild zu bleiben, nach Ansicht von Diana Schilling das „außergewöhnliche“ Engagement der Eltern dar. Das zeige sich beispielsweise in den Aktivitäten des Fördervereins, aber auch in dem „Zukunftsworkshop“ der Schule, in dem Eltern, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler gemeinsam Projekte für die Schule planen und umsetzen. Ein Beispiel ist die von Diplom-Oecotrophologin Maria Brüggemann geleitete KostBAR mit ihrem wöchentlichen ökologischen und regionalen Mittagsangebot und dem Wasserspender, von dem täglich alle an der Schule Beteiligten profitieren. 

Als zweite Voraussetzung nennt die Schulleiterin das gute Funktionieren des Kollegiums, dem sie seit knapp zwei Jahren „vorsteht“. Ideen der anderen werden gerne aufgegriffen, Ziele und Wege gemeinsam bedacht, beschlossen, erprobt und gegebenenfalls angepasst. Dabei gilt, heruntergebrochen auf die einzelne Unterrichtseinheit oder -reihe: „Wir möchten nicht mit einem starren Fahrplan, sondern mit einem Lernziel in den Unterricht gehen.“ 

Das Lehrerfachraumkonzept setzt sich durch

Top-Platzierungen beim Bolyai-Mathematikwettbewerb © Emsland-Gymnasium Rheine

Den Schülerinnen und Schülern ist dies nur recht. Denn am Emsland-Gymnasium werden sie in die Planung und Gestaltung eingebunden, so wie es von der Qualitäts- und UnterstützungsAgentur des Landesinstitut für Schule in Nordrhein-Westfalen empfohlen wird. „Früher dachte ich, das geht nur in der Oberstufe. Heute weiß ich, man kann auch die Schülerinnen und Schüler im fünften Jahrgang einbeziehen“, räumt Diana Schilling ein. 

Sie weiß aus Erfahrung: Solch demokratisch aufgebauter Unterricht steigert die Motivation, weil „jeder am Produkt beteiligt ist“. Indem die Schülerinnen und Schüler jeweils an den nächsten Erarbeitungsschritten beteiligt würden, entwickelten sie auch mehr Verantwortung für das, was sie tun. Weniger begeistert reagierten die Schülerinnen und Schüler zunächst auf die Entscheidung 2017, vom Klassen- zum Lehrerraumkonzept zu wechseln. „Sie haben anfangs gemurrt, weil sie zwischen den Unterrichtseinheiten pendeln müssen“, erinnert sich die Schulleiterin. Sie weiß, mitunter lag die Ursache für die Ablehnung in der nun erforderlichen Bewegung. 

Die Einführung des Doppelstundenkonzeptes reduzierte dann die auferlegte „Sportlichkeit“. So sei der Widerstand schließlich schnell verflogen. Inzwischen schätzen nahezu alle das neue Modell. Auch das Kollegium. „Wenn der Raum betreten wird, ist man umgeben vom Fach“, sagt Schilling. Stets seien alle Materialien zur Hand, wichtige Informationen und Erkenntnisse für alle sichtbar im Raum platziert. Der sei im Übrigen inzwischen deutlich schöner als früher: „Jeder von uns identifiziert sich mit seinen vier Wänden und fühlt sich dafür verantwortlich.“

„Lernen lernen“ in der Startphase

In erster Linie fühlen sich die Lehrerinnen und Lehrer natürlich für ihre Schülerinnen und Schüler verantwortlich. „Wo holen wir sie ab?“, lautet folglich die wichtigste Frage in Jahrgangsstufe 5. „Lernen lernen“ steht daher in dieser Phase einmal wöchentlich auf dem Stundenplan. 

Pflanzenfortschritt
"Wir schauen einmal, was aus dir kleiner Pflanze wird" © Online-Redaktion

„Den häufig von den Grundschulen gewählten Weg, nach Wochenplänen zu arbeiten, können wir in dieser Form nur fachbezogen umsetzen, weil die Zunahme der Fächer und Bezugspersonen eine andere Organisation der Unterrichtsabläufe erfordert“, berichtet die Schulleiterin. 

Also werden die Methoden des Lernens, Arbeitstechniken und die Verarbeitung von Informationen trainiert. Um jeder und jedem noch besser gerecht zu werden, soll zugleich der Austausch mit den Grundschullehrerinnen intensiviert werden: „Sie kennen die Kinder schließlich schon vier Jahre länger, wissen über ihre Stärken und Schwächen Bescheid.“ 

„... für unsere Sache brennen“

Solche Erkenntnisse gewinnt das Kollegium besonders intensiv über jene 94 Schülerinnen und Schüler, die aktuell das Angebot des Offenen Ganztags nutzen. Schließlich werden zahlreiche Arbeitsgemeinschaften und die Hausaufgabenbetreuung von den Lehrerinnen und Lehrern übernommen. Doch selbst Schüler sind aktiv dabei, die für die Jüngeren eine Lego-Roboter-AG leiten, seit das Angebot „Schüler helfen Schülern“ eingeführt wurde. 

Auch "Außenstehende“ engagieren sich. So wie jene ambitionierte Mutter, die ihre beliebte Koch-AG anbietet und damit dazu beiträgt, als gesunde Schule mit dem Profilfach Ernährungslehre anerkannt zu werden. Oder der pensionierte Elektroniker und Funkamateur, der mit Herzblut die AG Elektro-Basteln leitet und Begeisterung auslöst. Apropos Herzblut. Die Schulleiterin ist überzeugt: „Kinder wollen, dass wir und alle an der Schule Tätigen für unsere Sache brennen. Das wirkt auf sie.“ 

Schilling: „Wir Lehrkräfte erleben die Schülerinnen und Schüler im Ganztag ganz anders.“ Und sie denkt dabei an jenen Schüler, der ein begeisterter und guter Fußballspieler ist, im Matheunterricht aber bei jeder zweiten Frage den Kopf einzieht. Die Nachfrage, was der Junge in Mathe davon hat, wenn die Lehrerin erlebt, wie gut er mit dem Ball umgehen kann, beantwortet die Schulleiterin: „Er kann dann auch im Matheunterricht aufrecht sitzen, weil er zeigen konnte, was er besonders gut kann. Das steigert das Selbstbewusstsein. Er ist motivierter und lernt mehr.“ 

Ein „besserer Lernort“, wenn Talente erstrahlen können

Und sie fügt voller Überzeugung hinzu: „Eine Schule, in der ich meine Begabungen zeigen kann, ist ein besserer Lernort als eine Einrichtung, die nur die Defizite aufzeigt.“ Dass das Konzept aufgeht, zeigte sich erst kürzlich wieder, als 60 Emsland-Schülerinnen und -Schüler in Teams am internationalen Bolayi-Mathematik-Wettbewerb teilgenommen haben, von denen ein Team einen „sensationellen fünften Platz auf Landesebene“ erreichte.

Eines der größten Projekte des Emsland-Gymnasiums ist der Literaturkurs „Lampenfieber“, der 2010 den Kulturpreis der Stadt Rheine erhalten hat. Als langjährige Theatertradition der Schule – unter anderem mit der Backstage-AG, in der erste Bühnenerfahrungen gesammelt werden – ist sein Ziel, „Talente erstrahlen“ zu lassen, in diesem Fall von kreativen und darstellerischen bis zu Organisationstalenten. Schülerinnen und Schüler resümieren dann manchmal: „Es war wirklich die beste Schulwoche meines Lebens! Danke dafür!“

Fairtrade-Team
Fairtrade-School: Das Team der "Feränderer" © Emsland-Gymnasium Rheine

Das umfangreiche offene AG-Angebot, zu dem auch die Pop-Chor-AG, die Fußball-AG oder die Aquarium-und-Fische-AG gehören, findet montags bis donnerstags am Nachmittag statt. Jede Woche treffen sich auch die „Feränderer“ der Fairtrade-AG, die sich in der Stadt vernetzt haben und mit dem Weltladen Rheine kooperieren. Denn das Emsland-Gymnasium gehört seit 2015 zu den sogenannten Fairtrade-Schools, die „mit kleinen Schritten“ die Schule – und die Welt – „fairer und nachhaltiger machen“ wollen.

Kooperationen sind überhaupt die Voraussetzung für das vielfältige Angebot: ob mit der PraxisHochschule Rheine, dem Jugend- und Familiendienst, der Stadtbücherei, dem Filmclub Rheine oder der Münsterländischen Volkszeitung. Auch die lokale Wirtschaft ist vertreten, wie ein Biolandhof in Neuenkirchen und ein Bäcker in Ibbenbüren in der KostBAR oder ein heimischer Hersteller von Windkraftanlagen, der sowohl Betriebspraktika als auch Projekte der „Praktischen Physik“ ermöglicht.

Pädagogischer Lernort mit grünem Klassenzimmer

Dr. Diana Schilling plädiert für Schulen, die einen menschenfreundlichen Umgang pflegen, die nach Stärken – eben nach den fruchtbaren Samenkörnern – suchen. Ein idealistisches Ziel, dem Noten widersprechen oder entgegenstehen? „Nein“, sagt sie, „Schülerinnen und Schüler möchten benotet werden. Noten dienen ihnen als Orientierung und Zielvorgabe.“ Bedingung sei allerdings, dass sie verstehen, warum sie diese oder jene Note erhalten. Man müsse halt viel mit ihnen reden. 

„Das allerdings ist ziemlich einfach. Schülerinnen und Schüler sind in der Regel super Gesprächspartnerinnen und -partner.“ Übrigens auch untereinander. Im Emsland-Gymnasium agieren sie schon seit vielen Jahren erfolgreich als sozial engagierte SaMS, als schulübergreifend in der Stadt Rheine ausgebildete Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wenn es um die Vermittlung oder Vertiefung von Inhalten geht. Dabei begegnen sie sich zumeist gemäß dem Motto: „Wer den anderen kennt, versteht sich.“

Hexenküche am Emsland
Schatz- und Talentsuche: Chemieprojekt © Emsland-Gymnasium Rheine

Ob und wie gut das alles funktioniert, an welchen „Stellschrauben“ in den kommenden Jahren noch gedreht werden muss, möchte das Kollegium durch eine Ausweitung der Selbstevaluation erfahren. Die Schulleiterin benennt spontan einige weitere Ziele: den Ausbau des fächerverbindenden Lernens, mehr Musikangebote im außerunterrichtlichen Unterricht wie Chor und Orchester und besonders das Erwecken des Schulgartens aus seinem Dornröschenschlaf:  Denn der soll künftig ein pädagogischer Lernort mit grünem Klassenzimmer sein.

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