Ganztag mit „Förderung nach oben“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Georg-August-Zinn-Schule in Kassel hat als „die neue GAZ“ einen Leiter Digitalisierung und ein Pflichtfach Kulturelle Bildung. „Der Ganztag muss ein Gesamtkonstrukt sein“, sagt Schulleiter Dominik Becker.

Georg-August-Zinn-Schule
Seit 1992 Europaschule: Georg-August-Zinn-Schule. © Online-Redaktion

Wenn es um die Digitalisierung geht, können Lehrkräfte häufig von ihren Schülerinnen und Schülern noch was lernen. An der Georg-August-Zinn-Schule steht dieses Expertenwissen den Lehrerinnen und Lehrern seit diesem Schuljahr auch ganz offiziell zur Verfügung: Wer in seinem Unterricht digitale Endgeräte, Programme oder Apps einsetzen möchte, aber selbst noch unsicher ist, kann Hilfe „buchen“.

Zwölf Schülerinnen und Schüler des Wahlpflichtkurses Digitalisierung bereiten dann die entsprechende Hard- und Software vor und stehen auch während des Unterrichts unterstützend zur Seite. Sie administrieren Tablets, erstellen Erklärvideos und Steckbriefe für Apps. An der „GAZ“, wie alle die Integrierte Gesamtschule im Stadtteil Oberzwehren nennen, finden die Lehrerinnen und Lehrer es nicht ehrenrührig, solche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

„Leiter Digitalisierung“: Sprechstunde und „Fobi-Snacks“

Die Georg-August-Zinn-Schule hat aber seit 2020 auch einen „Leiter Digitalisierung“, der Mitglied der Schulleitung ist. „Uns war klar, dass wir für die Digitalisierung nicht einfach nur einen Kollegen beauftragen können, der das so nebenbei macht“, sagt Schulleiter Dominik Becker. Schon als Referendar hatte sich Sait Toprakoğlu um die Digitalisierung der Schule gekümmert. Er habe für das Thema schon immer gebrannt. Toprakoğlu hält nicht nur Sprechstunden ab, sondern hat selbst ein digitales Fortbildungsformat entwickelt.

Die „Fobi-Snacks“ sind „kurze und knackige“ 45-Minuten-Online-Seminare, in denen der Leiter Digitalisierung und Lehrkräfte, die bereits Erfahrung mit Apps in ihrem Unterricht gesammelt haben, eine 15 Minuten lange Einführung geben. Dann können die Teilnehmenden 20 Minuten selbst ausprobieren, gefolgt von zehn Minuten Austausch. „Die Kunst ist, zu bündeln und darzustellen, wo welche Frage beantwortet wird, und dann die Informationen adressatengerecht aufzubereiten. Ein Kollege ist bei uns zum Beispiel nur für Fragen rund um die Tablets da“, erläutert Said Toprakoğlu.

Wichtig sei, dass die Lehrerinnen und Lehrer erkennen können, was digitale Werkzeuge ihnen konkret bringen. „Sie müssen sehen, wie das ihren Arbeitsalltag und den der Lernenden erleichtert.“ An der Georg-August-Zinn-Schule habe niemand gesagt, dass er mit der Digitalisierung nichts zu tun haben wolle, was seine Arbeit und „Mission“ schon von Anfang an erleichtert habe. Stufenleiterin Anke Scholz ist begeistert: „Als Englischlehrerin nutze ich eine App, die zur jeweiligen Lektüre Sekundärmedien zuordnet, das ist ein Traum! Die Schülerinnen und Schüler können mithilfe einer App Vokabeln lernen – so oft könnte ich gar nicht bei jedem Einzelnen sein.“

Lernen im „Flipped Classroom“

Für Schulleiter Dominik Becker ist „das Beeindruckendste an der Digitalisierung“, dass sie den Jugendlichen ermöglicht, in ihrem eigenen Tempo zu lernen. „Im Unterricht können sie nicht einfach mal die 'Pause'-Taste drücken, wenn es ihnen zu viel wird oder sie unkonzentriert sind. Aber virtuell können sie die Aufgaben bearbeiten, wann es ihnen passt. Schüler wie Eltern haben mir zurückgespiegelt, wie erleichternd sie das finden.“

Becker Zinn
Schulleiter Dominik Becker neben der Büste von Georg August Zinn. © Georg-August-Zinn-Schule

Gelernt werde jetzt mehr im Stil des „Flipped Classroom“: Grundlagen eignen sich die Schülerinnen und Schüler zu Hause an. In der Schule kann vertieft, differenziert und geübt werden. Katja Schmoock, die stellvertretende Schulleiterin, findet es deshalb auch „super, dass virtuell so viele verschiedene Abstufungen in den Aufgabenstellungen möglich sind“, die der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler gerecht werden.

Die Digitalisierung ist für den Schulleiter nicht Zweck, sondern didaktisches Mittel, „um solide Fähigkeiten zu schulen und zu stärken“. Er hält viel vom „händischen“ – nicht „handyschen“ – Rechnen und Schreiben. Während der Schulschließungen habe die Digitalisierung natürlich nochmals an Wertigkeit gewonnen. „Es darf dann nicht davon abhängen, welche Lehrkraft gerade unterrichtet, ob die Schülerinnen und Schüler mit digitaler Bildung in Berührung kommen.“

Die Stadt Kassel als Schulträger habe zügig gehandelt und der Georg-August-Zinn-Schule 236 Tablets zur Verfügung gestellt. „Alle Schülerinnen und Schüler können jetzt am digitalen Unterricht teilhaben.“ Da die Stadt einen kompletten Neubau für die Georg-August-Zinn-Schule plant, werden in der „Schule der Zukunft“ auch die WLAN-Probleme bald der Vergangenheit angehören.

Die neue GAZ: „Förderung nach oben“

Die Georg-August-Zinn-Schule, 1975 als Kooperative Gesamtschule gegründet, wurde 1992 als eine der ersten hessischen Schulen in das Landesprogramm „Europaschulen“ aufgenommen. Mit ihren 550 Schülerinnen und Schülern ist sie selbst „international“. Nicht alle sind sicher in der deutschen Sprache, daher gibt es drei Deutsch-Intensivklassen – für „Anfänger“ und „Fortgeschrittene“. Die Ursprünge liegen noch in der schulischen Integration von Aussiedlerkindern aus Russland und Polen vor über 30 Jahren.

„Wir empfinden unsere Buntheit als Vorzug“, meint Dominik Becker. Die Schülerinnen und Schüler wüssten zu schätzen, „was wir hier machen“. Das habe sich nochmal richtig in den Zeiten der Schulschließungen gezeigt, wie Katja Schmoock berichtet: Manche Jugendliche „flehten, als besonders leistungsschwach eingeschätzt“ zu werden, um in den Genuss von Präsenzunterricht zu kommen.

Säulenmodell
Schulentwicklungsprogramm „die neue GAZ“ © Georg-August-Zinn-Schule

Seit 2000 offene Ganztagsschule, stieg die „GAZ“ 2015/2016 mit dem 5. Jahrgang in das Profil 2 des Hessischen Ganztagsprogramms ein und ist nun „gebundene Ganztagsschule an drei Nachmittagen“. Die Idee war auf der „Nikolaustagung“, die jedes Jahr stattfindet, entstanden, noch unter seinem Vorgänger Mathias Koch, erinnert sich Schulleiter Becker, der damals Leiter des Hauptschulzweigs und stellvertretender Schulleiter war und 2020 die Schulleitung übernahm. „Ein Wunsch war einfach, mehr Zeit für die Schülerinnen und Schüler zu haben.“ Inzwischen ist der Ganztag in Klasse 10 angekommen und „die neue GAZ“ ein umfassendes Schulentwicklungsprojekt, zu dem die Rhythmisierung und die Verknüpfung von Vormittag und Nachmittag gehören.

Die Schule bietet drei „Langtage“ bis 15:20 Uhr. Die zusätzliche Zeit nutzt sie für differenziertes, individualisiertes Lernen. Das Fach „Freies Lernen“ gab es bereits, aber nun wurde es von zwei auf vier Wochenstunden zum „Lernbüro“ aufgewertet. Hier engagiert sich auch Sait Toprakoğlu: „Die Schülerinnen und Schüler lernen in halber Klassenstärke in ihrem eigenen Tempo, können aus unterschiedlichen Materialien auswählen und an Projekten arbeiten. Mir ist besonders die 'Förderung nach oben' wichtig, wie ich es nenne. Es gibt immer Schülerinnen und Schüler, die noch mehr 'Futter' brauchen.“

„Der Ganztag muss ein Gesamtkonstrukt sein“

Dafür haben alle Kolleginnen und Kollegen Materialien entwickelt und zusammengetragen, die nach und nach durch digitale Angebote ergänzt werden. Ein Beispiel ist das virtuelle Wissensquiz, das Anke Scholz für ihren Unterricht nutzt: „Quizlet ist einfach heißer, als wenn ich nur abfrage und Punkte verteile.“ Viele Schülerinnen und Schüler würden das individualisierte Lernen inzwischen schon aus der Wochenplanarbeit ihrer Grundschule kennen. Das Lernbüro für alle Jahrgänge ist das Entwicklungsvorhaben, mit dem „die neue GAZ“ am bundesweiten Projekt „LiGA – Lernen für den Ganztag“ teilnimmt. Eingeführt wurden fächerübergreifende Jahrgangsteams. Die Teamkultur zahlt sich bis heute aus. „Wir lernen alle von- und miteinander“, erklärt Dominik Becker. Das schließt alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schule ein. Ein Beispiel: „Auch die Leiterin der Stadtbibliothek, die bei uns im Gebäude liegt, empfindet sich als zum Kollegium zugehörig. Sie besorgt Leseausweise für alle, und der Unterricht findet auch in der Bibliothek statt.“

Zum Ganztag gehört schließlich das Unterrichtsfach „Kulturelle Bildung“ (KuBi) für die Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klassen. Für jeweils ein halbes Jahr wählen sie einen der Bereiche Bewegung, Darstellen, Gestalten und Herstellen, die mit zwei Wochenstunden vormittags stattfinden. „Wir haben das bewusst in den Vormittag gelegt, um für Abwechslung im Tagesablauf zu sorgen“, erläutert Dominik Becker, „aber auch um die Gleichwertigkeit von KuBi mit dem Fachunterricht betonen. Es soll nicht nur wie ein Anhängsel am Nachmittag wirken.“

Nähen
Arbeitslehre in Corona-Zeiten: Masken nähen © Georg-August-Zinn-Schule

Gleiches gilt für die „Förder- und Forderstunde“, die früher am Ende des Schultages für Schülerinnen und Schüler wie ein Nachsitzen wirkte. Jetzt findet sie mitten am Tag integriert statt. AG-Angebote am Nachmittag wie Hip-Hop, Fashion und Fußball schätzen die Schülerinnen und Schüler, weil dort etwas ganz Anderes als Unterricht stattfinde und sie ohne Notendruck mitmachen können.

Insgesamt hat der Ganztag für eine Entschleunigung gesorgt, allein mit dem offenen Anfang ab 7.30 Uhr und den auf 20, 30 und 50 Minuten verlängerten Pausen, in denen die Schülerinnen und Schüler „auch einfach mal nur chillen und durchpusten können“, so Dominik Becker. Denn gerade für die Fünftklässler seien die langen Tage anfangs anstrengend. An jedem Mittwochnachmittag besteht die Möglichkeit, die zusätzliche Lernzeit zu nutzen. Sie wird von Studierenden und von Neunt- und Zehntklässlern der Schule begleitet. „Der Ganztag muss ein Gesamtkonstrukt sein“, fasst der Schulleiter zusammen.

Engagement für die Demokratie – eine Kasseler Tradition

Nicht alles kann hier erwähnt werden, denn die „GAZ“ gilt als Schule, die „immer in Bewegung“ ist. Doch ohne die von der Stadt Kassel geförderte kommunale Schulsozialarbeit mit Sigrid Macholdt-Kahrs und Bernhard Linge oder das sogenannten Kasseler Übergangsmanagement Schule–Beruf mit Übergangsmanagerin Lisa Merl und Berufsorientierungsprojekten wie „MäteB – Mädchen in technischen Berufen“ und „JuBo – Berufsorientierung für Jungen“ würde die „Förderung nach oben“ wohl nur halb so gut gelingen.

Dass die Georg-August-Zinn-Schule seit nunmehr 30 Jahren Europaschule ist, ist auch die Anerkennung für ihre Demokratiebildung. „Das ist kein Selbstläufer“, erläutert der Schulleiter. „Alle fünf Jahre stellen wir uns der Rezertifizierung. Da müssen wir liefern und ein echtes Qualitätsmanagement vorweisen.“ Die Europaschule ermöglicht den Austausch mit europäischen Partnerschulen und viele Fremdsprachenkurse: Französisch, Spanisch, Russisch und Polnisch, einen erweiterten Englischunterricht in Klasse 6 und bilinguale Gesellschaftslehre in den Klassen 7 bis 10. Europäische Themen sind fest im Curriculum verankert.

„Ganzheitlich lernen – demokratisch handeln – europäisch denken“ lautet das Leitbild der Georg-August-Zinn-Schule. Es verweist auch auf ihren Namensgeber: Georg-August Zinn war von 1950 bis 1969 Hessischer Ministerpräsident. Mit 28 Jahren 1929 als jüngster Abgeordneter ins Kasseler Stadtparlament gewählt, lieferte sich der Jurist dort Auseinandersetzungen mit dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler und leistete als Anwalt aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 1945 wurde er erster hessischer Justizminister und 1946 Mitbegründer der neuen hessischen Verfassung. Besonders bekannt wurde seine Berufung von Fritz Bauer zum hessischen Generalstaatsanwalt 1956, mit der er die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen einleitete. Deren erster Höhepunkt: die sogenannten Auschwitzprozessen Anfang der 1960er Jahre.

„Just do it“: Berufspraktikum
„Just do it“: Berufspraktikum im Herbst 2019 selbst entwickelt © Georg-August-Zinn-Schule

An dieses Erbe, das auch ein Stück Kasseler Stadtgeschichte ist, knüpft die Georg-August-Zinn-Schule bis heute an. „Unsere Schülerinnen und Schüler lernen Demokratie durch das, was wir hier tun. Wir solidarisieren uns zum Beispiel aktuell mit der Wilhelm-Filchner-Schule und der Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen, die von rechts bedroht werden“ berichtet der Schulleiter. Beide Schulen haben kurz nach der Urteilsverkündung im Mordfall Walter Lübcke rechtsextreme Drohschreiben mit dem Kürzel „NSU 2.0“ erhalten. In der Initiative „Offen für Vielfalt. Geschlossen gegen Ausgrenzung“ engagieren sich daraufhin die nordhessischen Schulen verstärkt gegen rechtsextreme Gewalt. „Wir stehen für Menschenrechte und Menschenwürde“, betont Dominik Becker. „Dass wir 'Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage' geworden sind, verdankt sich dem Engagement unserer Schülerinnen und Schüler. Diese Einstellungen sind bei uns tief verwurzelt, eben auch, weil wir so bunt sind.“

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