Ganztag mit Ergotherapie: „...immer und überall etwas lernen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

270 Schülerinnen und Schüler lernen an der Anna-Freud-Schule in Köln, einer Förderschule mit „umgekehrter Inklusion“ und einem Ganztag voller Angebote, vom barrierefreien Lehrgarten bis zur AG „Anna paddelt“.

Schreibwerkstatt in der Bib mit Jugendbuchautorin Gerlis Zillgens
Schreibwerkstatt in der Bib mit Jugendbuchautorin Gerlis Zillgens © Anna-Freud-Schule

Seit 16 Jahren leitet Ludwig Gehlen die Anna-Freud-Schule des Landschaftsverbandes Rheinland in Köln-Müngersdorf. Der erfahrene Pädagoge strahlt Souveränität, Ruhe, Zufriedenheit und Überzeugung aus. Die Anna-Freud-Schule mit den Förderschwerpunkten körperliche und motorische Entwicklung in der Sekundarstufe I und II und ihren vielen Wegen zu Abschlüssen, bis hin zu Fachoberschulreife und Abitur, ist Teil seines Lebens. So wie seines Stellvertreters Sebastian Muders.

Wer mit den beiden spricht, spürt: Hier arbeiten Menschen, die ihren rund 270 Schülerinnen und Schülern zugetan sind, die sie nicht als Objekt betrachten, denen man etwas beibringen muss. Sie betrachten die jungen Menschen als Subjekte, deren Lernbegleiter sie sein wollen. Die deren Ressourcen und Stärken sehen. Ludwig Gehlen formuliert das treffend so: „Kinder mit Handicap müssen eine Sonderbegabung entwickeln, um mit ihrem Handicap umgehen zu können.“

Sebastian Muders nickt sofort zustimmend. Beide wissen in diesem Denken das gesamte Kollegium hinter sich. Zu diesem zählen rund 60 Lehrerinnen und Lehrer, zwei Drittel davon sind Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Es gibt außerdem 25 Pflegekräfte und Therapeuten, eine Schulpsychologin, eine Bibliothekarin und all jene, die eine Schule am Laufen halten – angefangen von den Sekretärinnen bis hin zum Hausmeister.

Hauptfächer sind wichtig, aber nicht alles

"Anna taucht": Sport wird an der AFS groß geschrieben.
"Anna taucht": Sport wird an der AFS groß geschrieben. © Anna-Freud-Schule

Die Förderschule im Kölner Westen zeichnet vieles aus. Natürlich zählt der Ganztag dazu. Er erst ermöglicht die Vielfalt an Arbeitsgemeinschaften, Sport- oder Musikangeboten. Doch an oberster Stelle des Besonderen steht ein besonderes Bewusstsein für einen erweiterten Lernbegriff. Gehlen und Muders fassen das so zusammen: „Bei uns zählen nicht nur die pflichtmäßigen Unterrichtsinhalte, insbesondere Hauptfächer. Bei uns herrscht der Geist, dass die Kinder immer und überall etwas lernen, sei es in Mathematik oder bei der Therapie.“

Rückfrage: Lernen bei der Therapie? Antwort der beiden: „Da lernen sie was über sich und ihren Körper. Und sie lernen, was ebenso wichtig ist, die notwendige Pflegesituation in Würde zu ertragen.“ Hauptfach und Therapie stehen gleichberechtigt nebeneinander, auch wenn Ludwig Gehlen einräumt, dass „sich der Fachlehrer wahrscheinlich doch noch durchsetzt, wenn er und ein Therapeut sich einmal nicht einig darüber werden, ob nun gerade die Teilnahme am Fachunterricht oder an der Therapie wichtiger ist. Muders: „Das passiert immer seltener.“

Eine Szene aus dem Alltag belegt die Individualisierung. Im Klassenraum der 6c sitzt Lukas als einziger Schüler und arbeitet an Matheaufgaben. Betreut wird er von einer Zehntklässlerin und seinem Klassenlehrer. Alle anderen sind an diesem Nachmittag in Kurse gegangen. „Ich genieße es, endlich mal alles ganz in Ruhe erledigen zu können“, sagt der Elfjährige. Kurz vor Ende der Stunde packt er seine Sachen und geht zur Physiotherapie. An der Anna-Freud-Schule finden – integriert in den Schulalltag – nicht nur Physiotherapie, sondern auch Logopädie und Ergotherapie statt. Sie werden von qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landschaftsverbandes Rheinland in gut ausgestatteten Räumlichkeiten durchgeführt.

Ein Ganztag voller Angebote

Doch nicht nur die Therapie zählt als gleichwertiger Lernraum. Gleiches gilt, wenn die Schülerinnen und Schüler per Schulbus auf Exkursion gehen, an den zahlreichen Veranstaltungen zur Berufsvorbereitung teilnehmen, wenn sie im barrierefreien Lehrgarten oder Labor ihre Fähigkeiten in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) steigern, wenn sie in speziell gebauten Booten an der Arbeitsgemeinschaft „Anna paddelt“ teilnehmen, tanzen oder Rollstuhl-Basketball spielen.

Gruppe
© Anna-Freud-Schule

In Letzterem und beim Tischtennis erreicht die Schule seit Jahren erfolgreich die Bundesfinals von „Jugend trainiert für Paralympics“. Motorisch schwerer eingeschränkte Schülerinnen und Schüler fahren jährlich auf eine einwöchige Skifreizeit oder messen sich in der noch jungen Trendsportart Riesenball.

Die Bedeutung des Tanzens hebt die Tanzpädagogin Sarah Schumacher hervor: „Seit einigen Jahren sammle ich Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler, die an unseren Tanzprojekten teilnehmen. Sie berichten davon, dass sie beim Tanzen ‚Unfassbares erleben’, dass sie ‚vieles aushalten und probieren müssen’, aber auch dass es ihnen ‚Bewusstsein und Zeit schenkt’, sie sich ‚größer fühlen’. Sie erzählen von Muskelkater und davon, dass sie vor Freude nicht schlafen können.“

Nicht zu vergessen sind die vielfältigen Möglichkeiten des musikalischen Engagements. „Ich möchte, dass wir in fünf Jahren eine klingende Schule sind“, gab der Schulleiter seinem ersten an der Schule angestellten Musiklehrer 2006 mit auf den Weg. Und fügte seinerzeit hinzu: „Sie machen das bitte und ich besorge das Geld.“ Gesagt, getan.

Den Bedürfnissen aller gerecht werden

Ein Höhepunkt heute: das Kontaktkonzert „Auf–Zu“. Gemeinsam mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln bereiten Schülerinnen und Schüler dieses Konzert vor. Der Auftritt löst nicht nur bei Kindern, Jugendlichen und Eltern Begeisterung aus. Der Intendant des WDR, Tom Buhrow, betonte: „Das Zusammenspiel von Lehrern, Studenten und Schülern hat dieses ganz besondere Konzert ermöglicht. Wir alle wissen, dass Heranwachsende gerade aus der Musik viel Kraft und Selbstwertgefühl schöpfen können. Dass es gelungen ist, mit dem Globophone ein eigenes Instrument zu entwickeln, das den Bedürfnissen aller jungen Musikerinnen und Musiker gerecht wird, indem es die Grenzen des Hörens auf ein ganzheitliches Erleben von Klang und Ton erweitert, beeindruckt mich sehr.“

Die AFS erhielt  mehrere Auszeichnungen für ihr kulturelles Schulleben.
Die AFS erhielt mehrere Auszeichnungen für ihr kulturelles Schulleben. © Anna-Freud-Schule

Das Globophone kann von bis zu vier Spielern gleichzeitig gespielt werden. Es handelt sich hierbei um ein Instrument, welches speziell an die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Muskeldystrophie angepasst ist. Hierfür wurde das Globophone so konzipiert, dass der benötigte Muskelaufwand zur Bedienung des Instrumentes möglichst gering ausfällt.

Betreuung und Beratung in kleinen Klassen

Als „besonders“ darf auch der Weg der Inklusion an dieser Schule bezeichnet werden. Schon lange vor den Vorgaben der UN-Richtlinie vor gut zehn Jahren hatte man hier begonnen, im Sinne der Inklusion zu arbeiten. Bereits 1989, als man noch „Rheinische Schule für Körperbehinderte“ hieß, bereiteten sich Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich körperliche und motorische Entwicklung gemeinsam in der gymnasialen Oberstufe auf das Abitur vor.

2013 wurde das Prinzip der „umgekehrten Inklusion“ auf die Klassen der Sekundarstufe I ausgeweitet. Schülerinnen und Schüler mit und ohne spezifischen Förderbedarf lernen grundsätzlich gemeinsam in den Klassen und Kursen. Sie profitieren dabei von der guten Betreuung und Beratung in kleinen Klassen. Sechstklässlerin Zoe bestätigt: „Ich wollte auf die Anna-Freud-Schule wegen der kleinen Klassen, um mich besser konzentrieren zu können. Das hat sich auch erfüllt. Ich hatte vorher nie Kontakt zu Kindern mit Behinderungen, und eigentlich sehe ich die auch gar nicht. Hier sind eben alle normale Menschen, normale Kinder.“

Wenn Ludwig Gehlen, Sebastian Muders und ihr ganzes Team solche Aussagen hören, strahlen sie innerlich. Dann wissen sie, ihre Vorstellung von Inklusion muss kein unrealistischer Traum bleiben.

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