Ganztag in Graz: „Wir sind SmARt.i“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

In der Praxisschule der PH Steiermark in Graz ist „innovatives Lernen“ nicht nur ein Schlagwort – für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehramtsstudierende. Die Neue Mittelschule nutzt dafür den Ganztag, der in der Steiermark gerade einen Aufschwung erfährt.

Außenansicht der Praxisschule der Pädagogischen Hochschule Steiermark in Graz
© M. Größler / Pädagogische Hochschule Steiermark

10- bis 14-Jährige wuseln über den Schulhof, kreuz und quer – neben Studentinnen und Studenten, die gerade ebenfalls Pause machen. Zusammen stehen sie in der Mensa für das Mittagessen an. Hier in Graz, in der Hauptstadt der Steiermark, lässt sich auf den ersten Blick nicht sagen, ob man sich in einer Schule oder einer Universität befindet. Und auf den zweiten lässt es sich auch gar nicht trennen, denn genau das ist die Idee: Die Neue Mittelschule ist an die Pädagogische Hochschule angebunden und auch in deren Gebäuden untergebracht. Hier machen Lehramtsstudierende die ersten Schritte ihrer pädagogischen Laufbahn. „Wir wollen die Verbindung zwischen Forschung und Praxis herstellen“, erklärt Prof. Elgrid Messner, die Rektorin der PH Steiermark. „Wir wollen innovative Praxis sehen.“

Zur innovativen Praxis gehört die „verschränkte Ganztagsschule“, die der gebundenen Ganztagsschule in Deutschland entspricht. Vor vier Jahren führte die Schule den verschränkten Ganztag ein, der auch im Bundesland Steiermark noch die Ausnahme darstellt. Dafür warb die Hochschule die Schulleiterin Andrea Wagner von einer anderen Ganztagsschule ab. Deren Arbeit wird Elgrid Messner nicht müde zu loben: „Es ist dem Engagement von Frau Wagner und ihrem Team zu verdanken, die sich unablässig für die Sicherung der Unterrichtsqualität einsetzen, dass sich der Ruf der Schule seither um 180 Grad gedreht hat. Wir könnten mit unseren Anmeldezahlen zwei bis drei Schulen aufmachen.“

Die Praxisschule hat neben ihrem Schulalltag die Aufgabe, Unterricht zu entwickeln, Studierende auszubilden und sich an Praxisforschung zu beteiligen. „Das ist natürlich unser Standortvorteil, dass die Studierenden problemlos bei uns vorbeischauen können. Sie wollen sich manchmal ganz punktuell moderne Unterrichtsmethoden ansehen, die sie aus ihrer Schulzeit nicht kennen“, berichtet die Rektorin.

Ganztag in der Steiermark

Auf dem Flur schwärmt auch eine Mutter, deren Tochter heute probeweise am Unterricht teilnimmt, um zu sehen, ob sie sich an der Schule zurechtfindet. „Ich hoffe, es gefällt ihr“, meint die Mutter. „Was mir sofort auffiel, ist, dass beim ersten Gespräch die Lehrerin nicht mit mir, sondern mit meiner Tochter sprach. Das Kind steht hier wirklich im Mittelpunkt, und das habe ich an anderen Schulen schon ganz anders erlebt.“

Schülerinnen und Schüler auf einem Floß
Kennenlerntage mit Bootstour © M. Grasser /NMS

Ein solches Lob dürfte Schulleiterin Andrea Wagner besonders freuen, denn dass die Schülerin und der Schüler im Mittelpunkt stehen und sich der Unterricht an ihnen orientieren soll und nicht umgekehrt, ist genau ihr Anliegen. Inzwischen ist auch das Ganztagskonzept ein Pro-Argument für ihre Schule geworden: „Die Sichtweise der Eltern hat sich verändert. Vor fünf Jahren hieß es noch: Warum sollte ich mein Kind in eine Ganztagsschule geben, ich bin doch nachmittags zu Hause? Jetzt sehen die Eltern die Chancen dieser Schulform und empfehlen uns weiter. Unsere Schülerzahlen sind sukzessive immer weiter angestiegen.“

Die Nachfrage nach Ganztagsschulen steigt überhaupt in Österreich. Als das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2017 seine Ausbauoffensive bekannt gab, mit der ab dem Schuljahr 2017/2018 rund 750 Millionen Euro zur Verfügung stehen, freute sich auch Ursula Lackner. „Die Ganztagsschule bietet die Zeit für die beste Förderung unserer Kinder. Zeit fürs Lernen, für Spaß, für Bewegung, für Kunst, für Hausübungen, für Lernhilfe“, wird die Bildungslandesrätin bei Radio Steiermark zitiert.

Die Steiermark wirbt mit dem Slogan „Bildungsland Nummer 1“. Immer mehr steirische Gemeinden setzen auf die Ganztagsschule. Die Zahl hat sich seit 2004/2005 mehr als vervierfacht, 2018 bieten mehr als die Hälfte der 645 Volks-, Sonder- und Neuen Mittelschulen schon Ganztagsklassen an. Im April stellte die steirische Landesregierung mehr als 5,3 Millionen Euro für 331 Schulstandorte bereit. Seit Juni kommen weitere 2,16 Millionen hinzu, von denen 69 Schulstandorte profitieren sollen.

Gefördert wird vor allem Personal am Nachmittag für Sport, Musik oder soziales Lernen, aber auch die räumliche Ausstattung wie Mensen, Küchen, Gruppenräume oder Außenanlagen. Die Förderung hat sich seit 2016 verdoppelt. Statt 4.500 Euro pro Jahr und Gruppe stehen nun zusätzlich zur Personalförderung 9.000 Euro pro Jahr und Gruppe zur Verfügung.

Mehr Ruhe und besseres Schulklima

Schüler an einem Notebook
© A. Wagner / NMS

175 Schülerinnen und Schüler lernen an der an der Praxisschule der PH Steiermark in Graz, und 44 Lehrkräfte sind hier beschäftigt. Der Schultag dauert von 7:45 bis 16:05 Uhr, freitags bis 13.20 Uhr. Einen großen Unterschied zur Halbtagsschule sieht Schulleiterin Wagner im Schulklima. „Ich erinnere mich, dass es in einer meiner früheren Schulen ständig Konflikte gab, die dann immer zwischen Tür und Angel gelöst werden mussten. Bei uns ist es mit Einführung der Ganztagsschule viel ruhiger geworden, nicht nur, weil wir die Schulglocke abgestellt haben. Auf unser Schulklima sind wir stolz.“

Die Schülerinnen und Schüler fühlten sich hier wohl und kämen gerne. Die Lehrerinnen und Lehrer seien viel näher an den Kindern und Jugendlichen dran. „In der Ganztagsschule merken wir schnell, wenn es einem Schüler nicht gut geht. Womit ich nicht gerechnet und was ich vielleicht auch unterschätzt habe, ist, dass das auch belastend für die Kolleginnen und Kollegen, insbesondere die Klassenleitungen, sein kann“, bilanziert die Schulleiterin.

Schülerinnen und Schüler klettern im Hochseilgarten
Kennenlerntage im Hochseilgarten © M. Grasser / NMS

Einige Lehrkräfte hat die Ganztagsschule auch verloren, aber viele sind dazugekommen. Und seit dem Schuljahr 2014/2015 können Schulleitungen mit dem Programm „GetYourTeacher“ selbst unter den Bewerberinnen und Bewerbern aussuchen. „Beim Bewerbungsgespräch mache ich klar, was die Ausrichtung unserer Schule ist“, betont Andrea Wagner. „Viele Lehrer, die nun zu uns kommen, haben Ideen, die sie umsetzen wollen. Meine Aufgabe ist es, sie darin zu unterstützen und nicht zu demotivieren.“

Das Kollegium arbeite hart daran, dass die Schülerinnen und Schüler sich für ihr Lernen mitverantwortlich fühlen, berichtet die Schulleiterin. „Früher hieß es oft, die Eltern seien verantwortlich für den Lernerfolg ihrer Kinder. Jetzt sind wir zum Glück so weit, dass die Schüler ihre Lernschritte planen, durchführen und reflektieren, einmal im Halbjahr auch in Eltern-Lehrer-Schüler-Gesprächen.“ In den täglich einstündigen Lernzeiten werden Wochenpläne genutzt, denen Kompetenzraster zugrunde liegen. Organisatorisch sei das eine sehr große Herausforderung. In den Hauptfächern unterrichteten Lehrkräftetandems, die nach Möglichkeit auch in den Lernzeiten eingesetzt sind. „Dank der stärkeren Ausstattung mit Lehrerstunden in der verschränkten Ganztagsschule“, erläutert Andrea Wagner.

Differenziertes Lernen mit smART.i

Schülerinnen lesen
© A. Wagner /NMS

An der Praxisschule ist die Lesekompetenz ein wichtiger Pfeiler. Jeden Tag lesen alle Klassen für 30 Minuten im „Treffpunkt Lesen“. Weniger gute Leserinnen und Leser üben in dieser Zeit in Kleingruppen. Im naturwissenschaftlichen Bereich arbeitet die mit dem MINT-Gütesiegel ausgezeichnete Schule mit forschendem Lernen: Die Schülerinnen und Schüler entwickeln eigene Fragestellungen, lösen Aufgaben in der Gruppe und bewerten die Ergebnisse gemeinsam. Im Wahlpflichtfach „Naturwissenschaftliche Experimente“ wird dieses Unterrichtsprinzip vertieft.

Die Schülerinnen und Schüler gestalten auch den „Radioigel“ mit, das Bildungsradio der Pädagogischen Hochschule. Zusammen mit Studierenden und Lehrkräften entwickeln sie Radiobeiträge und sprechen sie dann selbst ein. „Mit dem Radio als Lernform knüpfen wir auch an die Interessen der Kinder und Jugendlichen für neue Medien an“, berichtet die Schulleiterin.

Noch relativ jung sind die sogenannten Schwerpunktklassen. In der ersten Klasse der Mittelschule (Schulstufe 5) startete im Schuljahr 2016/2017 die Praxisklasse „smART.i – Soziales Miteinander – (ART)Kunst und Inklusion“.  In ihr lernen „23 SchülerInnen mit tollen Begabungen“, darunter „ein Autist, drei Kinder mit Lernbehinderung, 1 englischsprachige SchülerIn, 2 SchülerInnen mit LRS, 1 SchülerIn mit ADS“, wie es auf der Schulhomepage heißt. Inklusion ist alles.

„Die Schülerinnen und Schüler arbeiten über ein Schuljahr an fünf fachübergreifenden Projekten mit differenzierten Aufgaben und finden kreative Lösungen. Die Kolleginnen und Kollegen, die in Zweier- oder Dreierteams arbeiten, sind bei diesem Prozess mehr Coaches, also Lernbegleiter“, erläutert Andrea Wagner. Kunst wird in den Unterricht integriert, wie im „Plastikprojekt“, das sich gegen Plastikmüll engagiert, und den Kunstwettbewerb „Think Green – Be Smart“ einschließt, und auch Englisch mit der „English Corner“.

Erfolgreiches Kapitel in der Unterrichtsentwicklung

Schüler mit Kopfhörer und Mikrofon
Schulfunk Radioigel © A. Wagner / NMS

In den höheren Klassen (Schulstufe 7 und 8) lernen die Schülerinnen und Schüler intensiver mit digitalen Medien, vornehmlich mit Notebooks. Auf einer Online-Lernplattform sind Arbeitsblätter, Materialien, Übungen und Informationen verfügbar, die beispielsweise für die Gestaltung von E-Books und „Digital Storytelling“ genutzt werden. „Das heißt aber nicht, dass wir in den Notebook-Klassen auf das klassische Schreiben verzichten“, betont die Schulleiterin. „Es geht hauptsächlich darum, die digitalen Medien als praktische Ressource im Alltag und nicht nur als Unterhaltungsmedium kennenzulernen.“

Schülerin Jessica zeigt stolz ihr Lerntagebuch mit einer Geschichte in englischer Sprache. In Englisch gibt es fünf Module und acht Lernabschnitte, die Schülerinnen und Schüler erreichen können. So wird Differenzierung ermöglicht. Mit Hilfe eines „Fortschrittsbalkens“ auf den Laptops können alle regelmäßig ihren Wissensstand verfolgen.

Noch ganz frisch ist die „Projektklasse Flexible Eingangsstufe“, die man hierzulande nur aus der Grundschule kennt. Im Schuljahr 2017/2018 sind die altersgemischten Projektklassen gestartet, in denen die Schülerinnen und Schüler in Kursen individuell „gefordert und gefördert“ werden. Die Verweildauer soll variieren können, von einem bis zu drei Jahren. Die ersten Erfahrungen sind laut Andrea Wagner ermutigend: „Die Schülerinnen und Schüler, die über viele Freiheiten in ihrer Lernorganisation verfügen, sind in ihrem Wissensstand weiter als die Schülerinnen und Schüler der Parallelklasse.“

Es scheint ein weiteres erfolgreiches Kapitel in der Unterrichtsentwicklung der Praxis-Neue-Mittelschule geschrieben.

Die Neue Mittelschule (NMS) wurde in Österreich als gesetzlich verankerte Regelschule 2012 eingeführt. 2015 wurden alle ehemaligen Hauptschulen zu Neuen Mittelschulen, in denen alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden und zugleich pädagogische Maßnahmen zur inneren Differenzierung und Individualisierung des Lernens, neue Wege der Leistungsrückmeldung sowie eine fundierte Bildungs- und Berufsorientierung und –Beratung vorgesehen sind, um Bildungs- und Berufsentscheidungen zu verbessern.

Neue Mittelschulen, die als Praxisschulen an Pädagogischen Hochschulen geführt werden (PNMS = Praxis-Neue-Mittelschulen) gibt es österreichweit, beispielsweise an der PH Tirol, der PH Salzburg, der PH Kärnten, der PH Niederösterreich oder der PH Wien.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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