Fördern im Ganztagsgymnasium: Freihof-Gymnasium Göppingen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Seit zehn Jahren bietet das Freihof-Gymnasium in Göppingen seinen Schülerinnen und Schülern ein Ganztagsangebot an. Besonders die Jüngeren nutzen es. Von Differenzierung und Rhythmisierung profitieren alle.

Schulleiter Günter Roos sowie die Ganztagskoordinatoren Judith Sandner-Nicklich und Christian Beug sind realistisch. „Unser Ganztagesangebot nutzen in erster Linie die fünften und sechsten Klassen. Der Stundenplan der Älteren ist angesichts der dichten Stundentafel im achtjährigen Abitur ohnehin voll und zieht sich bis in den Nachmittag“, berichten sie übereinstimmend. Zahlen belegen die Einschätzung.

Während in den ersten beiden Jahrgangsstufen des im Herzen Göppingens gelegenen Gymnasiums nahezu 90 Prozent der Kinder die Ganztagsangebote annehmen, fällt die Quote ab Klasse 7 kontinuierlich ab. Das aber ist, so glaubt Judith Sandner-Nicklich, verständlich. Nicht nur die hohe Zahl an Pflichtunterricht lässt die Motivation, den Ganztag zu nutzen, sinken. Es sind auch die in Baden-Württemberg üblichen Rahmenbedingungen. So findet der Konfirmandenunterricht für die evangelischen Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse traditionell am Mittwochnachmittag statt. Auch die Musikschulen bieten ihre Kurse nachmittags an.

Fachunterricht am Nachmittag stellt sie und das gesamte Kollegium vor neue Herausforderungen. Dafür seien besonders motivierende Unterrichtskonzepte zu entwickeln, forschendes Lernen zum Beispiel. Das Ganztagsgymnasium ist insgesamt vom „6+2-Rhythmus“ (sechs Stunden Unterricht am Vormittag, zwei am Nachmittag) zum „5+3-Rhythmus“ übergegangen.

Unabhängig davon sind Roos und Sandner-Nicklich der Überzeugung, dass die Akzeptanz der Ganztagsschule in ihrem Bundesland noch verbessert werden kann. „Wir sind auf einem guten Weg, doch es bedarf noch größerer Aufklärungsarbeit bei den Eltern“, sagt Roos. Die Ganztagesangebote seien halt immer noch für diejenigen besonders interessant, die auf eine Betreuung angewiesen seien. Die Notwendigkeit aber nehme mit dem Älterwerden des Kindes ab.

Rhythmisierung und Differenzierung

Schülermentor und Schülerin
© Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Freihof-Gymnasiums

Gut möglich, dass derzeit noch skeptische Mütter und Väter den – über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinausgehenden – Mehrwert des Gymnasiums mit Ganztagesangebot zu schätzen lernen, wenn sie das Freihof-Gymnasium besucht haben. Das Konzept der Schule ist verblüffend einfach und bedarf doch ausgeklügelter Logistik. Rhythmisierung und Differenzierung kennzeichnen den Stundenplan, der in wesentlichen Teilen Jahr für Jahr unverändert bleibt.

„Wer zu uns kommt, weiß genau, worauf er sich einstellen kann“, betont Judith Sandner-Nicklich. So weiß er, dass auch der Freitag ein langer Tag mit Fachunterricht bis 15.40 Uhr ist. Warum ausgerechnet Freitag und nicht Donnerstag, an dem der Unterricht um 12.40 Uhr endet? „Zum einen, weil wir so den entlastenden Wochenrhythmus mit drei langen Tagen – Montag, Mittwoch, Freitag – und zwei kurzen Tagen – Dienstag und Donnerstag  –beibehalten können. Zum anderen war das schon immer so, unter anderem, weil wir an diesem Tag die städtischen Sportstätten nutzen können. Der Freitag stand hier noch nie zur Diskussion“, so Sandner-Nicklich.

„Die Gesellschaft hat sich verändert, und Schule muss dem Rechnung tragen. Auch durch ein anderes Arbeitszeitmodell für uns.“ Alle zwei Wochen ist der Montag ihr besonders dichter Arbeitstag. Fünf Stunden Fachunterricht am Vormittag folgen eine Stunde Mittagsbetreuung und zwei Stunden Fachunterricht am Nachmittag, unterbrochen von einer knapp 60minütigen Pause. „Für mich ist das kein Stress, denn in der Woche habe ich dafür mittwochs frei“, versichert sie. Schwierig sind die Arbeitsbedingungen des Kollegiums in der Schule: Nicht einmal ein Quadratmeter Schreibtischfläche steht pro Lehrkraft zur Verfügung. „Ganztag erfordert bessere Rahmenbedingungen“, lautet der Appell.

Zahlreiche Unterstützungsangebote

Lange aufhalten möchte sich Judith Sandner-Nicklich mit Klagen nicht. Sie und das gesamte junge Kollegium haben vielmehr die Schülerinnen und Schüler im Blick. Und die profitieren von fast täglichen Förder- und Unterstützungsangeboten. Eine ist die für alle verbindliche Lernzeit montags und freitags von 11.05 bis 11.50 Uhr für die fünften Klassen, eingebettet zwischen Fachunterricht und Bewegungs- und Entspannungsangeboten. Während dieser Stunde begleiten die Klassenlehrer_innen die Kinder bei den Hausaufgaben. „Denn in einer Ganztagesschule sollten Haus- zu Schulaufgaben werden“, ist Schulleiter Günter Roos überzeugt.

Die älteren „Semester“ können ihre Lernzeit selbst gestalten. Die Schülerinnen und Schüler entscheiden selbst, ob sie ihre Hausaufgaben in dieser Stunde machen oder sich etwa auf eine Klassenarbeit vorbereiten und bei Bedarf Rat und Unterstützung einholen. Verschiedene Fachlehrerinnen und Fachlehrer stehen als Ansprechpartner zur Verfügung. Die 15-jährige Sarah (Name geändert) findet dieses Angebot gut. „Meine Eltern können mir zum Beispiel in Mathematik und Physik nicht wirklich helfen. In der Lernzeit kann ich mich nicht nur toll auf Arbeiten vorbereiten, sondern durch Nachfragen bei Klassenkameraden und Lehrern Inhalte auch richtig gut verstehen“, berichtet sie.

Schülermentoren im Selbstorganisierten Lernen

Außenansicht der Mensa
© Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Freihof-Gymnasiums

Bestandteil des freiwilligen Ganztagesangebots ist das Selbstorganisierte Lernen (SOL), das an drei Tagen von 13.15 bis 14 Uhr (Montag, Mittwoch, Freitag) auf dem Stundenplan steht. Es richtet sich in besonderer Weise an die Jahrgangsstufen 5 bis 7. Unterstützung bei den Hausaufgaben, individuelle Förderung in Kleingruppen oder Lernspiele werden in dieser Zeit von älteren Schülerinnen und Schüler geboten. Diese haben sich intensiv vom Evangelischen Jugendwerk und der Religionspädagogin Rita Bohnenberger auf die Aufgabe als Mentor_innen vorbereiten und ausbilden lassen.

Pädagogische Übungen, Leitungsstile, Konfliktlösung und Durchsetzungsvermögen wurden an zwei kompletten Tagen trainiert. 50 Schülerinnen und Schüler oberer Jahrgangsstufen nehmen jährlich das Angebot wahr, sich als Mentoren ausbilden und als solche arbeiten zu können. Dass die Mehrzahl Mädchen sind, führt Bohnenberger darauf zurück, dass Mädchen oft ein größeres Interesse an sozialpädagogischen Aufgaben hätten und einfach meist schon ein wenig reifer seien. „Die Hauptmotivation der meisten, egal ob Mädchen oder Jungen, ist aber, dass sie gerne mit Menschen agieren“, ergänzt die Pädagogin. Sieben Euro pro Mentorenstunde, ein Zertifikat und ein Zeugniseintrag dienen als zusätzliche Anreize. Finanziert wird das Peer-to-Peer-Lernen unter anderem aus dem Jugendbegleiterprogramm des Landes Baden-Württemberg.

„Für jeden ist etwas dabei“

Parallel zu SOL werden an den drei Tagen zahlreiche andere Angebote unterbreitet: Chor, Orchester, Musicalgruppe, Theatergruppen, Multimedia oder Lesen in der Bücherei. Tastaturtraining, das japanische Brettspiel Go, ebenso Kochen oder Nähen stehen auf der Liste der Wahlmöglichkeiten wie die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche. Bewegungs- und Entspannungsangebote reichen von kleinen Sportspielen über Badminton, Inlineskaten, Tanz oder Jonglieren bis zu Taekwondo. Arbeitsgemeinschaften bieten auch „Schwimmen für Anfänger“, Basketball, Golf, Zirkussport sowie „Bewegungs- und Haltungsschulung“.

Unterstufen-Koordinator Christian Beug ist sicher, dass „für jeden etwas dabei ist“. Dennoch bleibt es jedem Schüler bzw. jeder Schülerin überlassen, ob sie eines der Angebote nutzen. Wer es nicht tut, hat die Möglichkeit, in dieser Zeit das Schulgelände für einen Abstecher in die Stadt oder zum Gespräch mit Freunden im Café zu verlassen. Vorausgesetzt, die Eltern haben zu Beginn des Schuljahres die so genannte „Stadterlaubnis“ unterschrieben. Judith Sandner-Nicklich hält die Regelung für sinnvoll. Da die durch eine Fußgängerzone getrennten Schulgebäude offen für Bürgerinnen und Bürger sind, lasse sich ohnehin schwer kontrollieren, ob sich die Jugendlichen während der freiwilligen Angebote in der Schule oder woanders aufhielten. „Da helfen nur klare Regeln und Vertrauen“, betont sie.

Zu den Regeln zählt der Freihofpass. In ihm wird festgehalten, an welchen Kursen, Arbeitsgemeinschaften oder Förderprogrammen ein Kind teilgenommen hat. Judith Sandner-Nicklich zieht eine positive Bilanz: „Bislang wurde das praktisch nie ausgenutzt und passiert ist auch noch niemandem etwas.“

„Sanfter Druck“ zur Teilnahme an der Individualbetreuung

Freiwillig und doch mit „sanftem Druck“ ist die Teilnahme an der Individualbetreuung durch Lehrkräfte. Für sie ist der Dienstagnachmittag reserviert. In den Sommerferien erhalten Eltern, für deren Kinder ein Förderbedarf unterschiedlichster Art im abgelaufenen Schuljahr ausgemacht wurde, Post von der Schule. Darin wird die Teilnahme an der Individualbetreuung angeraten. „Ob die Anregung aufgegriffen wird, entscheiden aber letztendlich die Eltern und ihre Kinder“, sagt Christian Beug. Die Erfahrung zeigt, dass viele die Chance nutzen, an ihren Schwächen zu feilen. Seien es allgemeine Lernprobleme, die Anforderungen von Deutsch als Zweitsprache für Kinder mit Migrationshintergrund, Hausaufgabenunterstützung oder Lese-Rechtschreibschwäche. Eines ist Christian Beug besonders wichtig: „Wir haben nicht nur die Förderung Leistungsschwächerer im Blick. Darum richtet sich ein Kurs am Dienstag speziell auch jene, die besondere Begabungen zeigen.“

Schülerinnen und Schüler entspannen auf Matratzen
© Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Freihof-Gymnasiums

Diese Form der Flexibilisierung und Individualisierung macht nach Ansicht von Günter Roos eine gute Schule aus. „Wir sind, so hoffe ich, auf einem guten Weg. Aber ich wünsche mir, dass die Politik den Mut hat, weniger Pflichtunterricht von den Schulen zu verlangen. Stattdessen sollten die Schulen mehr Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, um ihr Angebot noch stärker an den Interessen der Schülerinnen und Schüler auszurichten.“

Ein weiterer Aspekt steht zumeist im Zentrum der Fortbildungen, die Günter Roos, häufig gemeinsam mit Judith Sandner-Nicklich, als Schulberater für Ganztagsbetreuung beim Regierungspräsidium Stuttgart anbietet. „Wie überzeugen wir Kolleginnen und Kollegen von den Vorteilen des Ganztags?“ lautet dort die am häufigsten gestellte Frage. Seine Antwort: „Kollegen müssen früh in die Planung einbezogen, Bedenken ernst genommen werden.“ Die nächste Fortbildung findet am 11. Juni 2013 im Regierungspräsidium Stuttgart statt. 

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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