Ein Ganztagsangebot, das Motivation entfacht : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Wir möchten möglichst viele Aha-Erlebnisse ermöglichen“, sagt Ganztagskoordinatorin Bettina Mende. „Freies Lernen“, Projektlernen und Werkstatttage gehören daher zum Alltag der Lessing-Gemeinschaftsschule Salzwedel.

Die Schule wurde 2022 für den Deutschen Schulpreis nominiert.
Die Schule wurde 2022 für den Deutschen Schulpreis nominiert. © Lessing-Gemeinschaftsschule Salzwedel

Ganztagskoordinatorin Bettina Mende begrüßt uns mit der Gelassenheit eines „Urgesteins“, wie sie hier genannt wird. Sie ist Lehrerin für Sport und Geschichte und zeichnet auch verantwortlich für die Organisation des Projektlernens in der Lessing-Ganztags- und Gemeinschaftsschule in Salzwedel. Bettina Mende hat schon andere Zeiten erlebt. Zeiten, als das Gebäude an der Lindenallee ein Gymnasium beherbergte und drei Sekundarschulen der Stadt zu einer Gemeinschaftsschule zusammengelegt wurden. Bettina Mende weiß allem Gutes abzugewinnen. Doch wenn sie auf die aktuelle Schule und ihr Konzept zu sprechen kommt, strahlen ihre Augen. Es hat sich viel gewandelt. Vor allem der Blick auf jedes Individuum. „Da hat sich insbesondere seit 2015 extrem viel getan. Die Orientierung an den Schülerinnen und Schülern ist außergewöhnlich intensiv“, sagt Mende.

2015 war das Jahr, in dem Heike Herrmann die Schule als Schulleiterin übernahm. Sie traf auf ein Kollegium, das sich äußerst offen für Innovationen zeigte und bereits das Kooperative Lernen stärkte. Die vor Ideen strotzende „Neue“ wollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: „Ich wollte es mit der Schulentwicklung langsam angehen lassen.“ Doch da hatte sie die Rechnung ohne ihr Team gemacht. „Warum sollen wir warten, es liegen noch acht Wochen bis zum Beginn des neuen Schuljahres vor uns“, hörte sie. Ihre Mannschaft mochte nicht einsehen, warum die Sommerferien ungenutzt verstreichen sollten. „Eine ungewöhnliche, aber natürlich extrem wertvolle Haltung“, weiß Herrmann.

Individuelles Lernen

Das „Freie Lernen“ in Mathe, Deutsch und Englisch hielt Einzug an der Gemeinschaftsschule. Ein kleiner Auszug aus dem Konzept verdeutlicht die Idee: „Individuelle Schüler erfordern individuelle Lernprozesse. Dem werden wir unter anderem mit dem Freien Lernen gerecht. Jeder Schüler hat in diesen Fächern die Möglichkeit, nach seinen Interessen und Neigungen thematisch zu arbeiten.“ In der Praxis bedeutet es, dass das „Freie Lernen“ klassenübergreifend organisiert ist. Jeweils zwei Fachlehrkräfte pro Klasse sind Ansprechpartner und Lernbegleiter. In zwei Stunden in der Woche entscheiden Schülerinnen und Schüler selbst, welches Lernbüro sie für sich wählen. Pro Jahrgang begleitet jeweils eine Lehrkraft aus den drei Fächern ihr Lernen.

Die Freiwilligkeit hat auch Grenzen. Denn es gilt, im Schuljahr eine bestimmte Anzahl von am Lehrplan orientierten Bausteinen zu schaffen. Auf unterschiedlichen Niveaustufen. Was erreicht wurde, wird in einer Klassenarbeit des Faches, zu dem der inhaltliche Baustein zählt, überprüft. Alina Glaß kam als Referendarin hierher und ist vom Konzept völlig überzeugt. „Ja, die Vorbereitung der individuellen Bausteine ist aufwändiger. Aber ich merkte schon in der ersten Unterrichtsstunde, dass sie arbeiten, deutlich erfüllender ist“, sagt sie.

"Berufsorientierung vom Feinsten"
"Berufsorientierung vom Feinsten" © Tami Lea Herrmann

„Ich kann auf jede und jeden zugehen und sie unterstützen“, berichtet die frischgebackene Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Sie fügt hinzu: „Die Kinder und Jugendlichen arbeiten von sich aus differenziert. Sie unterstützen sich gegenseitig.“ Wie gelingt es in einer großen Gruppe, alle im Blick zu haben und individuelle Bedürfnisse nach Unterstützung zu erkennen? „Man merkt, wen man ‚laufen lassen‘ kann und wer stärkere Anleitung und Begleitung braucht. Dafür haben wir im ‚Freien Lernen‘ Zeit.“

Viele AHA-Erlebnisse

Den erforderlichen Input für die Bearbeitung und Auseinandersetzung mit einzelnen Bausteinen bieten die Lehrkräfte im Fachunterricht an. Ob die Gestaltung des „Freien Lernens“ in dieser Form Bestand haben wird, mag niemand vorhersagen. „Wir möchten uns stetig weiterentwickeln und stellen daher alles und immer wieder auf den Prüfstand“, versichert die Schulleiterin. So werden seit diesem Schuljahr verstärkt Lernplattformen genutzt.

Ähnlichen Grundzügen wie dem „Freien Lernen“ folgt das Projektlernen in den Jahrgängen 5 bis 10. Es erlaubt Schülerinnen und Schülern ebenfalls verschiedene Freiheiten, angefangen beim Zeitmanagement. Frei wählen können sie auch Methoden, Sozialformen und Präsentationsformen. Heike Hermann: „Das Projektlernen stärkt alle notwendigen Kompetenzen und macht die Schüler zu wirklichen Subjekten ihres eigenen Lernprozesses.“ Das erfordert zugleich eine veränderte Rolle der Lehrkräfte. So richten einige von ihnen zu Beginn der Stunden die Fragen an die Schülerschaft: „Wie schätzt ihr euren Leistungsstand ein? Was möchtet ihr heute tun? Wie kann ich euch dabei helfen?“

Am Ende geht es auch um den Erwerb übergeordneter Kompetenzen, wie der Methodenkompetenz. Zu der gehört etwa die Beherrschung von Methoden der Themenfindung und -eingrenzung, der Informationsbeschaffung und -organisation, der Präsentation von Arbeitsergebnissen und schließlich der Reflexion und des Feedbacks. Bettina Mende, die für das Projektlernen zuständig ist, drückt es so aus: „Wir möchten den Schülerinnen und Schülern möglichst viele Aha-Erlebnisse ermöglichen.“

Praxislernen mit Werkstatttag

Das Projektlernen umfasst wöchentlich vier Stunden in den Klassenstufen 5 bis 10, jeweils begleitet von zwei Lehrkräften pro Klasse. Sechs Wochen erarbeiten die Schülerinnen und Schüler zu einem übergeordneten Thema – pro Schuljahr gibt es vier Projektthemen – zunächst Pflichtaufgaben und im Anschluss eine Präsentation zu einem Unterthema, welches sie interessiert. Danach stellen alle ihre Ergebnisse den anderen Mitschülern vor. Bettina Mende: „So lernen sie auch voneinander. Positiv ist die Vielfalt der Unterthemen, die völlig nach Interesse und Neigung gewählt werden.“ „Im Projektlernen unterstützen sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig, betont Schulleiterin Heike Herrmann. „Und sie lernen, sich selbst zu motivieren.“

Stolz auf das Erreichte
Stolz auf das Erreichte © Tami Lea Herrmann

Zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt die Lessing-Schule mit ihrem Werkstatttag, der als „Forschendes Lernen“ und Praxislerntag pro Woche einen Tag lang ebenfalls den herkömmlichen Unterricht im Stundentakt ersetzt. Als Modellschule im „Modellprojekt 4 + 1“ hat die Gemeinschaftsschule, die 2022 für den Deutschen Schulpreis nominiert worden war, ab Klasse 7 den Praxislerntag in regionalen Betrieben oder in den von Externen angebotenen Werkstätten in der Schule eingeführt. Insgesamt wirken weit über 100 Unternehmen aus der Region in dem Landesmodellprojekt mit. Sie bieten eine Fülle von Einblicken und erhoffen sich davon zugleich, geeignete Auszubildende und spätere Fachkräfte zu finden.

Im Werkstatttag sieht Schulleiterin Heike Hermann zwei Vorteile: „Wir betreiben hier Berufsorientierung vom Feinsten, und gleichzeitig reduzieren wir in großem Umfang den Unterrichtsausfall.“ Die externen Anbieter der Werkstätten, zu denen beispielsweise Tischlern, Kochen, Schneidern oder Schulhofgestaltung gehört, können aus dem Budget des Ganztags finanziert werden.

Motivation und Werte

Viel Zustimmung bei den Schülerinnen und Schülern erhalten diejenigen, die als außerschulische Partnerinnen und Partner Arbeitsgemeinschaften des Ganztagsangebots unterbreiten. „Da spüren wir häufiger eine noch stärkere Motivation, als wir sie entfachen können“, sagt Bettina Mende. Drei Wünsche dürfen Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr äußern, zwei davon werden ihnen als dann verpflichtende Arbeitsgemeinschaften erfüllt. Für die Schulleiterin ist der Stellenwert der AGs unumstritten: „Sie bieten die wunderbare Möglichkeiten, sich selbst auszuprobieren.“

Hier wie im Unterricht oder der morgendlichen Warm-Up-Zeit von 7.30 bis 8 Uhr, in der organisatorische Dinge besprochen werden und die Beziehungsarbeit einen besonderen Raum findet, wird auf einige Grundregeln geachtet. Werte im Umgang miteinander („Wir grüßen uns“) werden gepflegt und über allen Tagen schwebt ein Geist von Ruhe. Die Minuten für die wup-Zeit werden durch das Konzept als Modellschule (80 plus 10) gewonnen, wonach die Doppelstunde „nur“ 80 Minuten umfasst. Die übliche Schulklingel wurde abgeschafft. Was einen Beitrag dazu leistete, dass Hektik nur selten aufkommt. Das ist ganz im Sinne der von allen liebevoll als „Urgestein“ der Schule bezeichneten Bettina Mende.

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