Eichendorffschule Erlangen: Ganztags Talente entdecken : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Etwas noch Größeres als Arbeitsgemeinschaften“ will die Eichendorffschule mit dem Ganztag erreichen, so Schulleiter Helmut Klemm, nämlich die Potenziale der Kinder und Jugendlichen entdecken und entwickeln.

1986 konnte Helmut Klemm noch nicht ahnen, welchen Weg er in seinem Traumberuf Lehrer gehen würde. Doch als er sich auf die Suche nach dem Thema seiner Staatsexamensarbeit begab, wusste er, dass es etwas sein musste, was ihn interessierte. Er entschied sich für das Thema „Ganztagsschulen und Tagesheimschulen“. 

Schon damals war der angehende Lehrer von den Vorzügen der Ganztagsschule überzeugt. Er fand sich bei den Recherchen für den praktischen Teil seiner Arbeit schnell bestätigt. Die absolvierte er in der Ernst-Penzoldt-Schule, einer Ganztagsschule im Landkreis Erlangen-Höchstadt. Das Thema und die Erfahrungen müssen Helmut Klemm gelegen haben – er schloss mit der Note „sehr gut“ ab.

Mehr als drei Jahrzehnte später treffen wir ihn in der Eichendorffschule in Erlangen, einer Mittelschule mit gebundenem Ganztag seit 2015. 388 Schülerinnen und Schüler streben hier ihren Abschluss an. 28 Prozent haben keine deutsche Staatsbürgerschaft, manche haben keine oder kaum Deutschkenntnisse. Dass 35 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus Familien sind, die auf den „ErlangenPass“ angewiesen sind, findet er „einfach nur erschütternd in einer Stadt wie Erlangen“. 

„Unglaublich stolz auf das Erreichte“

Eine nicht selten soziale und schulische Herausforderung, dem sich die Eichendorffschule erfolgreich stellt, auch mit einem neuen Konzept: „Ganztagsschule als zeitgemäßer Bildungs- und Kulturort“. Es wurde gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Pädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) erarbeitet. Der erste Jahrgang, der nach dem neuen Konzept im Sommer die Schule verließ, vermeldete so viele erfolgreiche Mittlere-Reife-Abschlüsse wie noch nie. Helmut Klemm ist zuversichtlich: „Die Quote wird noch steigen.“ Die Schule nennt sich nicht zufällig seit einigen Jahren „Die neue Eichendorffschule“. Das Credo des Teams, zu dem auch 20 externe Fachkräfte gehören, lautet: „Wir können kompensatorisch wirken.“ Und: „Schule ist dann gut, wenn Schülerinnen und Schüler erfolgreich sind.“

Schulethos
„Wir brauchen keine Schulhausordnung. Wir haben unseren Schulethos.“ © Helmut Klemm

Hinter Klemm und seinem Team liegt ein beachtlicher Wandel. Vor etwas mehr als zehn Jahren stand es mit dem Renommee der Schule nicht zum Besten. 2019 dann gehörte die Eichendorffschule zu den 15 nominierten Schulen für den Deutschen Schulpreis. Zunächst machte sich Enttäuschung breit, dass es nicht der Hauptpreis war. Der Schulleiter, der aus seiner Leidenschaft für den Sport, speziell den Fußball, keinen Hehl macht, nahm es sportlich: „Wir haben uns kurz geschüttelt und dann im zweiten Moment gewusst, dass wir unglaublich stolz auf das sein können, was wir erreicht haben.“ 

Was hat sich verändert in diesen Jahren der Schulentwicklung? Helmut Klemm fragt: „Wieviel Zeit haben Sie?“ Er beginnt bei der Haltung und der Kommunikation, insbesondere mit den Schülerinnen und Schülern, aber auch mit ihren Eltern. „Wir bringen unseren Schülerinnen und Schülern große Wertschätzung entgegen. Und wir möchten wirklich aus jedem das Optimum herauskitzeln. Dafür geben wir ihm gerne etwas mehr Zeit, als vorgesehen“, verrät der Schulleiter.

Aus dem Tagebuch der Eichendorffschule

Monatlich wendet sich Helmut Klemm in einer Videobotschaft an die „Schulfamilie“. Die Videos sind inzwischen ein „Tagebuch der Eichendorffschule“. Er informiert über aktuelle Entwicklungen. Er macht, wie im September, Werbung dafür, dass sich möglichst alle Schülerinnen und Schüler zum Mittagessen anmelden: „Wenn es eine Frage der Finanzierung ist, wenden Sie sich gerne an uns.“ Bei solchen Themen spürt man seine Emotionen. Genau darin sieht er einen entscheidenden Vorteil gegenüber schriftlichen Elternbriefen. 205 Klicks gab es im September. „Das ist okay, auch wenn ich natürlich nicht weiß, wer zugehört hat und ob es alle verstanden haben.“

Was die Kommunikation im eigenen Team anbetrifft, sieht er noch Optimierungsbedarf. Eine gute Kommunikation sei „in Schulen schwer zu organisieren“. Von einem Jour Fixe hält er weniger: „Dann ist einer angesetzt, aber es gibt gerade nichts zu besprechen, und manche Kollegin oder Kollege ist sozusagen ‚umsonst’ in der Schule geblieben.“ Gespräche nur in Pausen und zwischendurch findet er allerdings nicht zufriedenstellend. „Daran müssen wir arbeiten“, blickt er in die Zukunft.

Lernhäuser und Lernbüros

Sehr zufrieden ist er dagegen mit dem Konzept der Lernhäuser und Lernbüros. Die Idee dahinter lässt sich auf der Schulhomepage nachlesen: „Die sechs miteinander verbundenen Gebäudeteile unserer Schule erinnern stark an Trakte von Krankenhäusern oder Kasernen. So baute man in den 60er-Jahren eben auch Schulen, wenig förderlich für die Idee einer modernen Ganztagsschule. Wir (...) setzen der Macht des architektonisch Faktischen die Idee der Lernhäuser entgegen.“ 

Im Schuljahr 2020/2021 lernen nun 400 Schülerinnen und Schüler in sechs Lernhäusern – in jedem Lernhaus drei Klassen, denn jedes Lernhaus verfügt über drei Klassenzimmer. Darüber hinaus gibt es in jedem Lernhaus einen vierten Raum für die Differenzierung und als Teamraum. In vier Lernhäusern sind außerdem Lernbüros integriert. Ziel des Konzeptes ist, der Klasse als „Zwangsgemeinschaft“ weniger Bedeutung beizumessen. Sie wird durch Lerngemeinschaften ergänzt. Schülerinnen und Schüler lernen ab der siebten Jahrgangsstufe in Jahrgangsgemischten Lernteams im Lernbüro oder im Projekt. In den vorhergehenden Jahrgangsstufen werden sie methodisch darauf vorbereitet. Wichtig ist der Schule: Lernhäuser sind nicht vorrangig ein architektonisches Konzept, sondern vor allem ein pädagogisches. Lehrerinnen und Lehrer werden im Lernhaus zu langfristigen Lernbegleitern.

Von Baustein zu Baustein

Tablet Mathe
Vorbereitete Lernumgebung, Differenzierung und Erziehung zur Eigenverantwortung führen zum Erfolg. © Helmut Klemm

Sämtliche Lerninhalte sind in sogenannte Bausteine gegliedert, beispielsweise in Deutsch „Erläuterung schreiben“. Karteikarten mit den dazugehörigen Arbeitsaufträgen finden die Schülerinnen und Schüler in Boxen. Sie entscheiden, mitunter „gestupst“ von Lehrerin oder Lehrer, woran sie arbeiten und schnappen sich die entsprechende Box. Wer glaubt, einen Baustein fertig bearbeitet zu haben, führt ein Gespräch mit seinem Lernbegleiter. Anschließend kann er oder sie sich der Leistungskontrolle „stellen“. Zehn Stunden wöchentlich können die Jahrgänge bis zur 9. Klasse Mathe, Deutsch und Englisch im Lernbüro binnendifferenziert vertiefen, in der Abschlussklasse 10 sind es sogar 13 Einheiten. 

In der Zeit der Schulschließung wegen Corona drohte dieses Lernkonzept zu scheitern. Also digitalisierte die Schule in einer „Hau-Ruck-Aktion“, wie es Schulleiter Klemm nennt, die Materialien. Zu Hause konnte weitergelernt werden. Das konnte auch Haram Dar, Schülersprecher und Mitglied des Landesschülerrats, für sich nutzen. Der Zehntklässler,
der als einziger Mittelschüler im Jugendparlament von Erlangen sitzt und ein UNICEF-Büro in der Stadt leitet, wollte während des Schuljahres ein Praktikum im Europäischen Parlament absolvieren. Dank digitaler Lehrmaterialien konnte er es realisieren. 

Schülersprecher Haram: „für sich selbst sprechen“

Mit dem von Schülerinnen und Schülern gedrehten Kurzfilm „Haram. Nach einer wahren Geschichte“ gewann die „Filmschule“ der Eichendorffschule in diesem Jahr einen ersten Preis beim 68. Europäischen Wettbewerb „Digital EU – and YOU?!“, dem ältesten Schülerwettbewerb Europas. 841 Schulen nahmen am Wettbewerb teil. In der Kategorie „Kreativ durch die Krise“ war das Thema, wie es in Europa trotz Pandemie gelingen kann, zusammenzuhalten und sich verbunden zu fühlen.

Die Eichendorffschule war die einzige teilnehmende Mittelschule aus Bayern. Die Jugendlichen der „Filmschule“ nutzten ihren Beitrag, um kurz und humorvoll vom Weg ihres Schülersprechers Haram mit pakistanischen Wurzeln zu erzählen – beginnend bei den anfänglich mageren Sprachkenntnissen über Gewalt und Mobbing und die Schwierigkeit „eine eigene Stimme zu finden“, obwohl er immer „besonders motiviert“ war. Am Ende sieht man den 16-Jährigen über das Europäische Jugendparlament sprechen. Sein Fazit: „Die einzige Möglichkeit, anderen eine Stimme zu geben, ist die, ihnen zu helfen, für sich selbst zu sprechen – digital oder analog, wird dabei zur Nebensache.“

Eine Schule mit fünf Schulen

„Die Filmschule?“, fragen sich Außenstehende. Sie erfahren: Die Eichendorffschule besteht eigentlich aus mehreren Schulen: Es gibt die Filmschule, die Ackerschule, die „Gesunde Schule“, die Kunstschule und die KICKFAIRSCHULE. Jede wird von einer eigenen „Schulleitung“, einem Lehrer oder einer Lehrerin, geführt. Die Filmschule nennt sich in Anspielung auf den Schulnamen „OAKvillage Production“ und kooperiert unter anderem mit dem Institut für Theater- und Medienwissenschaften der FAU. In der Kunstschule in Kooperation mit JuKS Erlangen unter Leitung von Lehrerin (und Stadträtin) Kerstin Heuer ist das Motto: „Kunst macht glücklich!“

Obst Box
Ernährung ist nicht erst seit Corona wichtig. © Helmut Klemm

Der Umgang mit der Natur wird geschätzt: Im Rahmen der Ackerschule in Kooperation mit der Jugendfarm Erlangen e.V. und dem Abenteuerspielplatz Brucker Lache unter Leitung von Lehrer Erik Brummel haben die Fünftklässler schon zwei Pflanzungen erfolgreich durchgeführt. Jetzt kann geerntet werden. Die GemüseAckerdemie hat das Projekt als AckerPerle 2020 ausgezeichnet, als bestes Ackerprojekt Bayerns. Auch hier übernahmen Schülerinnen und Schüler Verantwortung. So wie es auch alle ab Klasse 7 tun, wenn sie wöchentlich für 90 Minuten einer selbstgewählten, verantwortungsvollen Tätigkeit nachgehen. 

Eine Gruppe von Jugendlichen organisiert an der eigenen Schule die gesunde Pausenverpflegung oder gestaltet die Mittagszeit als Mensa-Assistenten. Andere helfen als Lesebegleiter. Und auch KICKFAIR ist wesentlich mehr als die Straßenfußball-AG in Kooperation mit dem Verein KICKFAIR e.V., aus der sie hervorgegangen ist. Die KICKFAIRSchule ist auch eine „Säule der Sozialerziehung“, die mit KICKFAIR-Werten und der „Drei-Halbzeiten-Methode“ Hausordnungen und Schulregeln überflüssig macht. 

Potenziale entfalten: „Größer als Arbeitsgemeinschaften“

Schulleiter Klemm: „Alles, was wir tun, dient uns dazu, einen ganzheitlichen Entwicklungsprozess unserer Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen.“ Die „Schulen“ der Eichendorffschule wollen mit vielfältigen Vorhaben und abwechslungsreichen Aktionen alle Talente und Kompetenzen fördern und dabei die Schülerinnen und Schüler anregen, Verantwortung für sich, die anderen und die Umwelt zu übernehmen. Konkret entwickeln die jeweiligen Schulleitungen Ideen für Projekte, wie etwa das Ende Oktober stattfindende Herbstfest.

Sie suchen sich dafür auch Verbündete, ob die Volkshochschule Erlangen bei den Arbeitsgemeinschaften im Campus Eichendorffschule, das Institut für Lern-Innovation (ILI) für digitale Bildung der FAU, die Stadtbibliothek, die Jugendkunstschule oder das städtische Markgrafentheater. Eine zentrale Rolle auf dem Campus spielen der Schulgarten und die Schulimkerei mit ihren zwei Bienenvölkern. In der Bienenhütte mit Gründach wird der „Erlanger Honig“ geschleudert. Schon in Kürze fällt der Startschuss für die nächste „Kreation“: Der Innenhof der Schule wird zum Hühnerhof umgewandelt.

„Wir wollten etwas noch Größeres als Arbeitsgemeinschaften“, begründet Schulleiter Helmut Klemm das Konzept. Die Eichendorffschule versteht sich als Ganztagsschule, die ein Ort der Potenzialentfaltung ist. „Mit kreativen Angeboten möchten wir die Talente und Begabungen unserer Kinder und Jugendlichen entdecken und entwickeln“, sagt der Schulleiter. Und noch besser: Die Schülerinnen und Schüler haben hier unzählige Gelegenheiten, sie auch selbst zu entdecken.

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