Die etwas andere Ganztagsgrundschule: Gau-Odernheim : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Individuell, offen, inklusiv, partizipativ und leistungsorientiert: Alle diese Attribute treffen auf die Ganztagsgrundschule im rheinland-pfälzischen Gau-Odernheim zu.

Die Sonne strahlt, vom Schulhof schallt Musik. Schülerinnen und Schüler haben sich mit Lehrerin Martina Mai zum Flash-Mob-Dance auf dem Schulhof versammelt, an den Fenstern der lichtdurchfluteten Schule kleben in fröhlicher Farbe geschriebene Zettel: „Dem Lernen Flügel verleihen“. Es ist das Motto des von der Robert-Bosch-Stiftung ausgelobten Deutschen Schulpreises. Genauso könnte auch der Leitgedanke dieser von 280 Kindern besuchten Schule am Rande eines Weinhanges lauten. Die Schülerinnen und Schüler, die wir erleben, erfüllt Leichtigkeit. Sie lernen gerne, sie freuen sich auf jeden Morgen, den sie hierher kommen dürfen. 200 nutzen den Ganztag. 80 besuchen die Halbtagsschule. Die positive Lernumgebung genießen sie gleichermaßen.

Auf die pädagogische Vielfalt kommt es an

Ein Blick in die Klassenzimmer offenbart die Besonderheiten der Schule. Dabei trifft der Begriff „Klassenzimmer“ die Wahrheit nicht. Man wähnt sich eher in einem Mehrfamilienhaus mit unterschiedlich großen Wohnungen für die mit Tiernamen bezeichneten Gruppen. Im Obergeschoss leben und lernen ganztägig die Haie und Muscheln, daneben tummeln sich Seesterne und Flamingos, Frösche und im Erdgeschoss Delfine und Eisbären. Traditionelles Schulmaterial sieht man eher nicht. Natürlich gibt es Tische und Stühle, doch daneben stehen Bänke, Sofas, ja ein alter Kinosessel. Die Räume sind angefüllt mit Büchern, Arbeitsmaterialien aller Art. Vieles haben die Pädagogen der Schule zur Verfügung gestellt. Manches haben sie selbst gebaut – auf eigene Rechnung und ohne Stundenkontingent.

Schülerinnen und Lehrerin im Unterricht
© Grundschule Gau-Odernheim

Die Methode des Offenen Unterrichts strahlt aus jeder Ecke. „Doch eine Montessorischule sind wir nicht, auch wenn viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechend ausgebildet sind und dies in ihre tägliche Arbeit einfließen lassen“, stellen Schulleiterin Susanne Rammenzweig-Fendel und ihre Konrektorin Susan Kayser schnell klar. Einige in ihrem Team arbeiten völlig frei mit den Kindern, andere setzen stärker auf klassische Inhalte. Es ist eine Mischung – ein wenig Waldorfschule, ein wenig Montessori-Pädagogik, ein wenig Freinet. Und Frontalunterricht? „Na ja“, sagt die Schulleiterin, „im Prinzip gibt es ein wenig davon. Wir nennen es aber lieber Einführung in einzelne Themen.“ Diese Phasen allerdings halten sich in Grenzen.

Seit sieben Jahren Ganztagsgrundschule

Grenzen aufgebrochen hat die Schule mit dem Wandel zur Ganztagsschule vor sieben Jahren. Susanne Rammenzweig-Fendel löste ihren „alten“ Chef ab und der machte ihr Mut: „Sie können diese Schule mit diesem Team verändern.“ Heute erinnert sich die Schulleiterin an die Geburtsstunde und wundert sich manchmal selbst noch darüber, wie rasant alles ging. Eigentlich wollten sie und der harte Kern der Ganztagsbefürworter mit zwei Pilotklassen in den Ganztag starten. Das Konzept stellten sie den Eltern vor. Und wurden völlig überrascht: Statt der erhofften 50 lagen binnen kürzester Zeit 120 Anmeldungen auf dem Tisch. Aus geplanten zwei wurden fünf, aus jeweils zwei Jahrgängen zusammengestellte Klassen. Das große Ziel komplett jahrgangsgemischter Gruppen, sprich von Klasse 1 bis 4, wurde 2006 realisiert. Doch selbst das vertraute Wort „Jahrgangsstufe“ zählt in Gau-Odernheim nicht mehr zum Sprachgebrauch: Die Rede ist hier von „Niveau“ 1 bis 4.

„Was überzeugte die Eltern?“ wollen wir wissen. Rammenzweig-Fendel: „Ich glaube, wir konnten die Mütter und Väter damit gewinnen, dass wir eine Lernsituation für ihre Kinder schaffen wollten, die natürlich ist. Das Jahrgangsübergreifende gehört doch dazu. Schließlich ist keiner von uns im Alltag immer mit Gleichaltrigen zusammen.“ Was sie bescheiden verschweigt: Der Funke, die Begeisterung für Kinder, überzeugte. Das verrät uns ein im Ort zufällig angesprochener Vater, der jenen Elternabend nur zu gut in Erinnerung behalten hat. Das Vorurteil, an dieser Schule herrsche grenzenlose Freiheit, die möglicherweise dazu führe, dass die Kinder weniger als andere lernen, konnte schnell widerlegt werden. In der Jahrgangsstufe 3 schnitt die Grundschule Gau-Odernheim bei bundesweiten Vergleichsarbeiten VERA, insbesondere im Bereich Deutsch, gut ab. Eine Mutter, die wir vor der Schule treffen, räumt ein, dass sie zunächst unsicher gewesen sei, ob ihr Kind mit der Freiheit umgehen könne. „Heute weiß ich, es kann es. Ich vertraue ihm. Meine eigenen Ängste hatten wohl die Skepsis hervorgerufen. Auch ich kannte Schule doch nur ganz anders.“

Ein Geschenk wird zurückgegeben

Wir werfen einen Blick in den Unterricht. In einer Ecke sitzen Kinder und rechnen. Sie unterhalten sich. Fragen den Nachbarn, wie er die Aufgabe lösen würde. Ein paar Meter weiter liegen Klassenkameraden auf dem Boden. Sie zeichnen – zwischen ihnen steht ein Teller mit Obst. Es herrscht fröhliche Lernatmosphäre. Die Klassenteams bestehen jeweils aus mehreren Personen – Fachlehrer, Förderlehrer, Erzieher, pädagogische Mitarbeiter und junge Menschen, die hier ein Freiwilliges Soziales Jahr leisten. Nicht immer sind alle anwesend. Doch die Kinder wissen genau, wer welche Fachkompetenz hat und wann er ansprechbar ist. Die Klassenkameraden sind es immer. Ältere helfen Jüngeren, Leistungsstärkere den weniger Leistungsstarken. Ganz natürlich dabei sind jene Kinder, die einen ausgewiesen Förderbedarf oder eine körperliche Beeinträchtigung aufweisen. „Unsere Mischung reicht von Beeinträchtigung bis hochbegabt“, sagt das Schulleitungsteam.

Deutlich widersprechen sie der Kritik, die Leistungsstärkeren litten unter diesem Konzept und würden nicht ausreichend gefördert. „Erst wenn ich etwas erklären kann, habe ich es wirklich verstanden“, versichert Susanne Rammenzweig-Fendel und räumt trotzdem ein: „Ja, manchmal sind diese Kinder unsere Hilfslehrer.“ Aber sie gewännen enorm an sozialen Kompetenzen und Selbstbewusstsein. Sie trauten sich mehr zu und wagten sich deswegen oft an Dinge, die sie sonst gescheut hätten. Und noch etwas fügt die Schulleiterin hinzu: „Die älteren Kinder waren auch einmal die Kleinen. Das Geschenk, das sie im ersten Schuljahr von anderen erhalten haben, geben sie später an die Gemeinschaft zurück.“

Eine Mischung aus Pflichtaufgaben und freier Wahl

Schülerinnen und Schüler im Halbkreis an einem Tisch
© Grundschule Gau-Odernheim

Zurück zum Unterricht. Das Ritual ist täglich ähnlich. Im Morgenkreis legt ein jedes Kind fest, was und vor allem wie es das an diesem Tag erledigen möchte. Geleitet wird der Kreis von einer Mitschülerin oder einem Mitschüler. Ein paar Dinge sind dann allerdings regelmäßig vorgeschrieben: Lernwörter müssen geübt, ein Text gelesen, eine Seite gerechnet und ein Text pro Woche abgeschrieben werden. Welcher Text ausgewählt wird, bleibt dem Kind überlassen. Die Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur, ihren Tag zu planen und einzuteilen. Sie lernen auch, sich selbst einzuschätzen. Im Logbuch halten sie täglich fest, was sie geschafft haben. Ein Achtjährige berichtet glücklich: „Wenn ich nachmittags sehe, was ich alles gepackt habe, bin ich ganz stolz.“ Nicht allen gelingt das immer und auf Anhieb so. Susan Kayser schmunzelt: „Wenn wir merken, das ein Kind immer wieder das Gleiche macht, schubsen ihn wir es schon einmal.“ Manche Klassen arbeiten auch mit Wochenplänen – wichtig ist allen Kollegen die Mischung aus Pflichtaufgaben und freier Wahl.

Rahmenpläne und Bildungsstandards kindgerecht formuliert

Selbstverständlich ist auch die Grundschule Gau-Odernheim den  Rahmenplänen und Bildungsstandards des Landes verpflichtet. Aber sie wurden so formuliert, dass auch die Kinder die Anforderungen nachvollziehen können, wie ein Beispiel aus dem Bereich Sachunterricht zeigt. Zunächst formulierte ein Kollegenteam die Standards für den Sachunterricht kindgerecht aus. Im Rahmenplan Sachunterricht findet sich beispielsweise unter der Perspektive Natur der Punkt: „Einen respektvollen Umgang mit der Natur anstreben und dabei berücksichtigen, dass die verschiedenen Lebewesen unterschiedliche Bedürfnisse an ihre Umwelt richten, Eingriffe in Naturvorgänge… unerwünschte Folgen haben können“. Für die Kinder übersetzt wurde der Punkt so: „Achtsam mit der Natur umgehen, darauf achten, dass verschiedene Lebewesen unterschiedliche Dinge brauchen und Eingriffe schaden können“.

Dazu sammelten die Kinder Fragen, die sie interessieren – Masterfragen sozusagen. Alle Fragen zieren Karteikarten in einer großen, allen zugänglichen Box. Luis (Niveau 3) etwa hat sich zu dem vorgegebenen Thema Natur aus dem Bereich „Unsere Natur und ihre Lebewesen erforschen“ folgende Karte auserkoren: „Der Förster: Welche Aufgaben hat der Förster? Wie lernt man diesen Beruf? Forsche und schreibe auf.“ Im Zielgespräch mit dem Lehrer legt er fest, bis wann er sich dem Thema wie genähert haben will. Er entscheidet sich, ein Wandplakat zu erstellen und ein Interview mit dem örtlichen Förster zu führen. Eine Klassenkameradin bevorzugt Details über die Orchidee zu erforschen.

Intensiver Austausch mit den Eltern

Zeit zu Lernen und zu Forschen haben die Kinder in zwei Hundertminutenblöcken am Vormittag und einem am Nachmittag. Dazwischen liegen Spiel- und Mittagspausen. Dann sind die Tischtennisplatten und der Fußballplatz belagert, am Rande wird balanciert und geklettert. Den Gong hat die Schule abgeschafft, das Lernen soll nicht gestört werden. Da kommt es schon einmal vor, dass Kinder länger im Lernhaus bleiben, vor lauter Forschen das Spielen vergessen. „Das macht aber doch nichts“, sagt uns ein Zehnjähriger: „Wenn ich gerade in ein Experiment vertieft bin, macht das doch genau so viel Spaß.“ Dennoch achtet die Schule darauf, dass die jungen Menschen Pause und Bewegung nicht vergessen. „Es ist eine Mischung aus Anspannung und Entspannung nötig, um Kinder zu fördern und zu fordern, ohne zu überfordern“, betont die Schulleiterin. Entspannung pur bietet der Mittwochnachmittag: Dann stehen 15 Arbeitsgemeinschaften, größtenteils angeboten von außerschulischen Partnern, zur Auswahl. In dieser Zeit trifft sich das Kollegium zu den regelmäßigen Teambesprechungen. „Denn so eine offene Form des Unterrichts erfordert viel Absprache und den Blick auf jedes einzelne Kind“, erläutert die Schulleitung.

Sie weiß, dass sie vom Kollegium hohe Einsatzbereitschaft einfordert, etwa wenn es darum geht, den Eltern regelmäßig eine Rückmeldung über den Wissensstand ihres Kindes zu schreiben. Das Feedback der Eltern zur „Leistung der Schule“ wird dankbar in die Überprüfung des eigenen Handelns und des Schulkonzeptes einbezogen. Getreu der Devise:  „Wir verstehen uns als lernende Institution. Die Grundschule Gau-Odernheim ist eine Schule für Alle.“

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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