Conrad-Schule Berlin: Ganztags mit Waldklasse : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Raus aus dem Klassenzimmer – rein in den Wald, heißt es für die „Waldklassen“ mit ihrem besonderen pädagogischen Konzept. Doch die Conrad-Grundschule in Berlin ist auch sonst eine innovative Ganztagsgrundschule.

Kein Ausflug, sondern Unterricht
Kein Ausflug, sondern Unterricht © Conrad-Grundschule Berlin

Manche staunen, andere Spaziergänger begrüßen sie fast täglich: Wer im Düppeler Forst im Südwesten Berlins unterwegs ist, trifft tagsüber eifrig umherlaufende, forschende, miteinander diskutierende, Notizen machende Kinder. Was viele nicht ahnen: Hier findet kein Ausflug, sondern der Unterricht der Conrad-Grundschule in Steglitz-Zehlendorf statt. Zumindest der zwei Waldklassen, die das, was die Natur bereithält, nutzen, um ganztägig jahrgangsübergreifend zu lernen.

Draußen zu sein, bedeutet für die Kinder von Klassenlehrerin Birgit Eiselt Alltag. Bei Wind und Wetter, zum Mittagessen mal draußen auf dem Schulgelände, mal beim Picknick im Wald. Nur die Freiarbeitszeit nach Montessori-Pädagogik von Oktober bis April am frühen Morgen und die Möglichkeit, am Nachmittag Inhalte zu vertiefen, am Schwimmunterricht teilzunehmen oder den eigenen Garten zu pflegen, finden nicht im Wald statt. Alle übrigen Klassen nutzen die Räumlichkeiten in der Schule, bei Bedarf auch das „Draußen-Klassenzimmer“ auf dem Schulgelände. Sie entsprechen organisatorisch der herkömmlichen Vorstellung von Unterricht mit anschließender Möglichkeit der Betreuung im Hort, der Teil der Berliner Ganztagsschule ist.

Selbstständige „Waldkönner“

Mitunter treffen Birgit Eiselt, ihr multiprofessionell aufgestelltes Team, das die Klassen täglich begleitet, und Schulleiter Dr. Hans-Gerrit Plessen auf das Vorurteil: „Die spielen ja nur“. Wer genauer hinschaut, erlebt, wie die Kinder ihre Neugier von ganz allein in die Bahnen der offiziellen Rahmenlehrpläne lenken. „Die Lerninhalte orientieren sich an der ganz normalen Regelschule. Und auch die ‚Waldkinder‘ müssen die üblichen Leistungsnachweise erbringen. Von hier aus kann man sofort problemlos in eine andere Schule wechseln“, sagt Birgit Eiselt.

Dass sie in der weiterführenden Schule, wie im Dreilinden-Gymnasium, mit dem die Schule eng kooperiert, auf ihren Wald verzichten müssten, fiele ihn nicht schwer. „Sie sind anpassungsfähig und haben gelernt, selbstständig zu arbeiten“, berichtet sie. Ein Beispiel belegt, was sie meint. Wenn die Klassen ihre Bollerwagen bestücken, packen sie neben Becherlupen, Schnitzmessern, Tablets, Notizblöcken und Waldbestimmungsbüchern auch schon einmal Hula Hoop-Reifen dazu. Nicht, um Sport zu treiben. Vielmehr begrenzt der auf den Boden gelegte Reifen eine Fläche, in der es gilt, die Anzahl der darin liegenden Tannenzapfen zu schätzen, zu zählen, zu Zehnerpäckchen zusammenzufassen.

„Alles Aufgaben aus dem Lehrplan. Wir laufen im Wald sozusagen am Lehrstoff vorbei und müssen ihn nicht künstlich ins Klassenzimmer tragen“, erläutert die Klassenlehrerin. Die Conrad-Grundschule ist nicht zufällig mit dem Siegel „Waldkönner“ der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald zertifiziert worden. Auch die Idee des Jahrgangsübergreifenden Lernens (JüL) wird in den Waldklassen aus Überzeugung umgesetzt.

Vorzüge des JüL

JüL steigert die Selbstständigkeit der Kinder
JüL steigert die Selbstständigkeit der Kinder © Conrad-Grundschule Berlin

In den „Regelklassen“, die einzelne Waldtage in den Stundenplan integrieren, beginnt der altershomogene Unterricht ab Jahrgangsstufe 4. Dr. Hans-Gerrit Plessen stellt immer wieder fest, dass JüL die Selbstständigkeit der Kinder steigert. Bedenken, die Bedürfnisse älterer Schülerinnen und Schüler könnten zu kurz kommen, zerstreut er aus pädagogischer Erfahrung: „Sie profitieren sogar, weil sie beispielsweise auch lernen, Rücksicht zu nehmen. Außerdem tut es manchmal einfach gut, der ‚Erfahrene‘ oder die ‚Größere‘ sein zu können.“ JüL, davon ist die Schule überzeugt, gibt den Kindern zusätzlichen Entwicklungsspielraum und stärkt die Gemeinschaft.

Klassenlehrerin Birgit Eiselt ergänzt: „Die Jüngeren integrieren sich extrem schnell. Sie sehen, was und wie die Größeren etwas tun.“ Einen wesentlichen Vorteil des Lernens im Wald sieht die Schule in der Freiheit des Raumes. Hier falle beispielsweise nicht auf, wenn jemand einen gesteigerten Bewegungsdrang verspüre. „Und still muss es auch nicht immer sein“, betont Birgit Eiselt. Dennoch herrschen klare Regeln: „Bis dorthin dürft ihr euch frei bewegen. Wenn ich rhythmisch klatsche, versammeln wir uns wieder.“

Für die zumeist aus drei bis sechs Fachkräften bestehenden Teams aus Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern sowie Lernbegleitenden ist das nur eine Frage des Vertrauens und der klaren Absprachen. Darüber, wie und was gelernt wird, aber auch über die Bedürfnisse einzelner Kinder ihrer Klasse sprechen die Jahrgangsteams wöchentlich zu fest im Stundenplan etablierten Zeiten. Dabei entdecken sie immer wieder Fähigkeiten bei Kindern, die im Klassenzimmer eventuell nicht aufgefallen wären.

Ganztag mit AGs und Schulstation Dschungel

„Im Wald haben sie mehr Möglichkeiten, ihr spezielles Expertenwissen jenseits des Fachunterrichts zu zeigen“, weiß Eiselt. Gut erinnert sie sich an den Jungen, der stets wusste, wo welcher Käfer zu entdecken sei. „Fortan war er von den anderen als ‚Fachmann‘ gefragt“, erzählt seine Lehrerin. Sie selbst schätzt die große Flexibilität des Unterrichtens: „Natürlich planen wir unsere Schultage. Doch wenn wir wie neulich überraschend im Wald eine Libelle finden, beschäftigen wir uns gerne mit ihr und klären, warum sie sich hierher verirrt hat, was sie frisst, wie sie lebt.“

AGs vom Literatur-Club bis zu „Oskar lernt Englisch"
AGs vom Literatur-Club bis zu „Oskar lernt Englisch" © Conrad-Grundschule Berlin

Bei aller Begeisterung und Überzeugung bittet Schulleiter Plessen darum, das Phänomen Wald „nicht zu hoch zu hängen“. Aus reinem Selbstzweck dürfe Waldunterricht nicht angeboten werden. Regelklassen seien ebenso berechtigt und für viele klassisch denkenden Eltern wertvoll. Die meisten Eltern bevorzugen denn doch die Sicherheit des Bekannten, zumal mit dem Charme, dass die Aufenthaltsdauer am Nachmittag flexibler gehandhabt werden könne. Wohl auch ein Grund, warum sich rund 350 der 460 Schülerinnen und Schüler für den Ganztag mit Arbeitsgemeinschaften und Gelegenheit zum freien Spielen entscheiden.

Die AG-Angebote reichen vom Literatur-Club Leseratten über zahlreiche Sport-AGs bis zur Theater-AG und „Oskar lernt Englisch“. Die Ganztagsbetreuung, die in Berlin auch „ergänzende Förderung und Betreuung (eFöB)“ heißt, ist von Montag bis Freitag von 6 bis 18 Uhr geöffnet und hat in der Schule ein eigenes Gebäude zur Verfügung. Koordiniert von Bettina Hohoff, sind 22 Erzieherinnen und Erzieher, außerdem noch zwei Facherzieherinnen für Integration für die Kinder von Klasse 1 bis 6 da. Die Schulstation Dschungel mit Gregor Speth und Julia Schwarz bot im Schulgebäude zudem seit 1999 die schulbezogene Sozialarbeit an. Am Juli 2024 hat die Schulstation mit der tandem BTL gGmbH einen neuen Träger.

Öffnung nach außen

Die Conrad-Schule hat sich nicht nur beim unterrichtlichen Lernen geöffnet. Sie nutzt, was die Region zu bieten hat. Fest verankert sind die Theaterprojekte der fünften Klassen in Kooperation mit der Drehbühne Berlin in der Schule, aber eben auch vor Ort im Theater. Gerne gesehener Gast war Prof. Stefan Rahmstorf. Der Professor für Physik der Ozeane leitet die Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Auch die bekannte Stuttgarter, in Berlin lebende Aktivistin Irmela Mensah-Schramm war schon in Workshops zu Besuch, um zu erzählen, warum sie seit 40 Jahren Hakenkreuze und Naziaufkleber im öffentlichen Raum entfernt oder mit Herzen übermalt. Die Conrad-Schule ist schließlich „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.

In seiner Schulentwicklung zeigt sich das multiprofessionelle Team ebenfalls offen für Anregungen von außen, organisiert spannende schulinterne Fortbildungen, beispielsweise zur Montessori-Pädagogik oder mit einer Psychologin zum Thema Achtsamkeit. Schulleiter Plessen weiß: „Achtsam zu sein gegenüber den Bedürfnissen aller unserer Kinder, aber der Kolleginnen und Kollegen kommt eine zentrale Bedeutung bei der Schulentwicklung zu.“

Faszinierende pädagogische Konzepte

Schule als Lern- und Lebensort
Schule als Lern- und Lebensort © Conrad-Grundschule Berlin

Er denkt dabei unter anderem an die Frage, wie die jährliche Lesewoche gestaltet sein sollte, damit sie eine hohe Akzeptanz findet, oder an die Wirkung gemeinsamer Feste. Er weiß um die Identifikationskraft der traditionellen Faschingsparty, in der er selbst als DJ fungiert, oder des 100-Tagefests der JüL-Klassen eins bis drei Fünftklässler oder der traditionellen Wochenendfahrt des Kollegiums. Inspiration erhielt Dr. Hans-Gerrit Plessen schon früh durch seinen Vater Wilhelm Plessen, der als Pädagoge in den 1960er Jahren in der ländlichen Erwachsenenbildung tätig war und schon 1964 für ein Präsenzmodell für Lehrkräfte plädierte, damit Schule ein Lern- und Lebensort für alle werden könne.

Impulse nahm der Schulleiter auch bei dem dänischen Pädagogen und Familientherapeuten Jesper Juul auf, weswegen die Schule immer noch mit dem in Berlin ansässigen Deutsch-Dänischen Institut für Familientherapie und Beratung kooperiert. Inklusion ist in der Conrad-Schule selbstverständlich: „Alle Kinder, die hier im Umfeld wohnen, sollen bei uns lernen und leben können“, betont er. Entwickelt hat sich offensichtlich Bemerkenswertes, das wiederum ausstrahlt. Seit zwei Jahren empfangen Plessen und sein Stellvertreter Stefan Kaping an der Conrad-Schule künftige Schulleiter koreanischer Schulen im Rahmen ihrer Ausbildung. Sie sind fasziniert von den pädagogischen Konzepten und tragen die Ideen in ihre Heimat.

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