Boostedt: Eine Schule der Integration und Mitbestimmung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt in Schleswig-Holstein ist viel mehr als ein Haus des Unterrichts. 560 Schülerinnen und Schüler sind an fast allen Entscheidungen beteiligt.

Vorderansicht der Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt
© Schule Boostedt

Wie oft muss man es erleben, was draußen drauf steht, findet sich innen nicht unbedingt wieder – bei Lebensmitteln, Absprachen, Ankündigungen oder Versprechen. Doch wer ein geeignetes Beispiel dafür sucht, dass innen eben auch gelebt, was draußen angekündigt wird, sollte ins beschauliche Boostedt im Landkreis Segeberg im südlichen Schleswig-Holstein reisen. Hier in der 4.500 Einwohner zählenden Gemeinde findet man die gleichnamige Grund- und Gemeinschaftsschule mit offenem Ganztag. 560 Schülerinnen und Schüler besuchen sie. Sie tun es gerne. Denn die Ankündigung, eine Schule der Beteiligung sein zu wollen, wird hier erfolgreich umgesetzt.

Klassenrat, Schülerpatenschaften und selbstorganisierte Arbeitsgemeinschaften sind ebenso selbstverständlich wie die konsequente Einbindung und Verzahnung des Vor- und Nachmittags. Lehrkräfte, Erzieherinnen, Schulsozialarbeiterinnen und ganz selbstverständlich auch die Eltern und Schüler sind und werden gefragt. Immer.

Schulleiterin Dagmar Drummen und Schulsozialarbeiterin Pamela Krassau, die „ganz nebenbei“ den Ganztag an der Schule maßgeblich mit aufgebaut hat, formulieren das Gemeinsame so: „Diese Form des Miteinanders gelingt durch großes Vertrauen, Respekt vor dem Anderen und seinen Ansichten sowie gegenseitige Wertschätzung. Alle haben die Möglichkeit, sich einzubringen und das Schulleben aktiv mitzugestalten.“

Erfolgreiche Schülerinitiativen

Die Aussage der beiden kommt auf den Prüfstand. Wir fragen zwei zufällig vorbeikommende Schülerinnen: „Dürft Ihr nicht nur mitreden, sondern auch mitentscheiden?“ Ihre spontane Antwort: „Und wie…“ Sie wollen ein Beispiel erzählen. Der Zufall will es, dass Dagmar Drummen und Pamela Krassau, eben diesen Fall erwähnt haben. Konkret geht es um den „Vertrag zur Nutzung von elektronischen Geräten“. Für die Schülerinnen und Schüler geradezu ewige Zeiten galt an ihrer Schule ein absolutes Handy-Verbot. Die Regel besagte, dass diese ab 7.30 Uhr tabu waren. Die Schulleiterin erläuterte in diesem Zusammenhang: „Was nicht heißt, dass wir uns der digitalen Entwicklung verweigern. Interaktive Tafeln und Tablets gehören inzwischen zum Alltag.“ So ganz mochten sich die älteren Schülerinnen und Schüler damit nicht abfinden. Zugleich wollten sie das Vertrauen nicht schädigen und ihr geliebtes Handy heimlich nutzen. Sie beschlossen, aktiv zu werden, und entwickelten ein Muster für eine Vereinbarung. Das Ergebnis: Das Handy bleibt tabu. Doch Neunt- und Zehntklässlern wird zugestanden, es in der zweiten großen Pause innerhalb der Pausenhalle zu nutzen.

Schülerinnen im Kunstunterricht
© Schule Boostedt

Diskussionsbedarf gibt es an vielen Schulen auch bei der Frage, ob und wann Schülerinnen und Schüler welchen Alters das Schulgelände verlassen dürfen. In Boostedt haben sich die Gremien, allen voran eben auch die Betroffenen, an einen Tisch gesetzt. Herausgekommen ist eine Vereinbarung für die „höheren Semester“. Donnerstags zieht sich der Unterricht der Neunt- und Zehntklässler anders als an allen anderen Tagen bis in den Nachmittag. Nun dürfen sie die dritte Pause außerhalb des Schulgeländes verbringen. Vorausgesetzt sie halten sich an gemeinsam festgelegte Regeln – pünktliche Rückkehr, Beachtung der Verkehrsregeln, kein Konsum von Drogen bis hin zur Zusage, darauf zu achten, das gute Verhältnis zwischen Schülern und Anwohnern positiv zu pflegen. Unterschrieben wird der Vertrag von der Schülervertretung, der Schulleitung, jedem einzelnen Schüler und den Erziehungsberechtigten. Und zwar exakt in dieser Reihenfolge.

Details im Blick

Die Beispiele mögen als „Kleinigkeiten“ durchgehen. Doch sie dokumentieren den Geist der Schule, der auch Details in den Blick nimmt. „Größer“ wirkt da, dass die Schule bei Treffen, Tagungen und Kongressen, bei denen es um die Weiterentwicklung der Schule geht, ganz selbstverständlich Schülerinnen und Schüler einbindet. Schulleiterin Drummen: „Es geht dabei um unsere Kinder. Und ausgerechnet die sollen nicht gefragt werden? Das geht gar nicht.“ Ihre Kollegin Aileen Alfs-Kollbaum, die sich im Netzwerk „Lernen im Ganztag“ engagiert, stimmt hundertprozentig zu. Derweil lauscht ihr Sohn unserem Gespräch. Ruhig, manchmal interessiert, manchmal ins Kartenspiel vertieft. Ein Randaspekt. Vielleicht. Aber einer, der den Geist der Schule widerspiegelt: Das Kind gehört immer dazu.

Eine Schule in der Erstaufnahmestelle

Dies trifft in ganz besonderem Maße auch auf die nach Einschätzung der Beteiligten größte Herausforderung der jüngsten Vergangenheit zu. Eineinhalb Kilometer von der Schule entfernt richtete das Land eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlingsfamilien ein. An Dagmar Drummen und ihr Team erging der Auftrag, dort eine Außenstelle der Schule aufzubauen. „Und die gesamte Gemeinde stand vor der Aufgabe, diese von Leid und Flucht gezeichneten Menschen willkommen zu heißen und ihnen den Alltag möglichst angenehm gestalten zu helfen“, berichtet Aileen Alfs-Kollbaum. Sie lebt mit ihrer Familie in Boostedt und weiß heute: „Hier wollten alle, dass uns das gelingt.“ Man kann mit Fug und Recht behaupten: Es ist gelungen.

Schülerinnen vor einem Wandgemälde
© Schule Boostedt

Runde Tische wurden gebildet – die Schule saß daran. Auch in der Schulgemeinde wurde geplant. Nicht immer lief alles reibungslos. Beispielsweise, wenn die Schulleiterin nicht wie gewohnt ständig erreichbar war. Alfs-Kollbaum: „Wir sind ein Haus der offenen Türen. Wenn wir eine Frage haben, gehen wir direkt zur Chefin. Und plötzlich stand zwar ihre Tür offen, aber sie war nicht da. Oft.“ Grund für ihre Abwesenheit: Dagmar Drummen befand sich in der Außenstelle, um dort Vorbereitungen für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache (DaZ) in der Basisstufe und in der Aufbaustufe zu treffen. Darin sind die Fächer Mathematik, Sport, Musik, Kunst, Gesellschaftswissenschaften und Naturwissenschaften schwerpunktmäßig vertreten.

Flüchtlingskinder in den Arbeitsgemeinschaften

Heute unterrichten in der Außenstelle 14 Kolleginnen und Kollegen in neun Lerngruppen rund 150 Flüchtlingskinder im Alter zwischen sechs und 15 Jahren. Gelingt Integration in der Abgeschiedenheit einer Flüchtlingsunterkunft? „Wenn die dort lebenden Menschen tatsächlich isoliert wären, könnte man von Integration nicht sprechen“, wissen Dagmar Drummen und ihr Team. Eine hohe Fluktuation, unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und -stände verhindern die Teilnahme am regulären Unterricht. Doch Lehrkräfte und das am Nachmittag arbeitende Personal haben einen kreativen Weg gefunden, den Kindern aus der Außenstelle den Kontakt zu den Boostedter Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen.

Tagein, tagaus begleitet eine junge Frau, die hier ihr Freiwilliges Soziales Jahr ableistet, nachmittags Flüchtlingskinder zum Schulgebäude. Dort nehmen sie an den zahlreichen Angeboten der offenen Ganztagsschule teil. Sie reichen von Flag Football – einer Vorstufe des American Football – über Musikarbeitsgemeinschaften bis hin zu Sport, Kochen und Tanzen. Sein musikalisches Repertoire präsentiert der Schulchor bei Auftritten in der Außenstelle. Mit einem gewollten sinnvollen Nebeneffekt: Eltern der Chormitglieder wollen ihren Kindern lauschen. Sie fahren zur Darbietung in die Außenstelle. Kontakt zwischen den Menschen entsteht. Integration wird auf den Weg gebracht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich zu den Hobbykickern des Ortes immer wieder auch Fußballfans aller Länder einfinden.

„Wir dürfen uns nicht ausruhen“

Neben dieser Herausforderung steht mit gleicher Bedeutung der täglich, reguläre Unterricht. Hier arbeitet die Schule konsequent binnendifferenziert, bietet ein umfassendes Angebot für die vierstündigen Wahlpflichtfächer ab Klasse 7 – unter anderem mit Darstellendem Spiel, Gesundheit und Bewegung. Die Berufsorientierung setzt bereits ab Jahrgang fünf ein. Zweiwöchiger Werkstattunterricht, Potenzialanalyse, Betriebspraktika, eine Praktikumsbörse und die enge Kooperation mit Betrieben im Ort gehören dazu.

Blick auf den Schulhof
Gemeinsam beschlossen: die „höheren Semester“ dürfen in einer Pause den Schulhof verlassen © Schule Boostedt

An der 45 Minuten-Stunde wird festgehalten. „All das aber funktioniert nur, weil wir alle zusammenarbeiten, das Personal am Vor-, das am Nachmittag, Schulsozialarbeiterinnen, Sekretärin, Hausmeister, Schülerinnen und Schüler und natürlich die Eltern“, betont Dagmar Drummen. Und wenn doch einmal Probleme auftauchen oder Veränderungen angeregt werden? „Dann holen wir wieder alle an einen Tisch, wägen ab und entscheiden. Gemeinsam. Und im Wissen, dass wir uns nie ausruhen dürfen“, sagt sie. Aileen Alfs-Kollbaum und Pamela Krassau müssen dem nichts hinzufügen. Sie nicken und strahlen.

 

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