„Besser als Unterricht“: Selbsttätig lernen im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Getreu ihrem Namensgeber bestimmt die Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler das Lernen an der Comenius-Schule Stendal. Die Vision von einem „Haus der Gewerke“ bezieht praktisches Lernen einzigartig mit ein.

Gebäude
Meisterwerk der Moderne: Schulgebäude von 1929 © LDA Sachsen-Anhalt, Gunar Preuß

Ein wenig erinnert die Schule an ein freundliches Hotel. Ein kompetentes, aufmerksames, zugewandtes und in seinen Aussagen klares „Personal“ kümmert sich um die rund 500 Schülerinnen und Schüler der Comenius-Ganztagssekundarschule Stendal. Sie fühlen sich spätestens dann geborgen, wenn sie morgens von den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern persönlich begrüßt werden und sich zum Check-in im Klassenraum treffen. Beim gemeinsamen Frühstück und Lesen werden auch Themen aufgegriffen, die die Kinder und Jugendlichen aktuell beschäftigen. „Hier finden wir Raum für Persönliches, aber auch für aktuelle Ereignisse im Ort und in der Welt“, berichtet Schulleiterin Jessika Hellge. Den erforderlichen Zeitpuffer hat die Schule durch eine Umstrukturierung der Unterrichtseinheiten gewonnen. Die Doppelstunden währen nur 80 statt 90 Minuten.

Bei einem Besuch 2022 war auch Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff von der Comenius-Schule begeistert. Denn das Schulgebäude ist ein Meisterwerk der Moderne: Es ist 1929 im Stil der Neuen Sachlichkeit gebaut worden. Das Bauhaus ist ein Aushängeschild des Landes Sachsen-Anhalt, und dessen Tradition hat die Schule mit ihrer Vision vom „Haus der Gewerke“ in vielfältiger Weise aufgegriffen.

„Bauen Sie doch eine ganze Schule“

Jessika Hellge kam vor drei Jahren als Schulleiterin nach Stendal. Bei ihrer Suche nach einer Stellvertreterin für die anspruchsvolle Aufgabe erhielt sie Kontakt zu Andrea Scheck. Die beiden fanden auf Anhieb, dass „wir auf einer Wellenlänge funken“. Andrea Schenk sagte zu. Gemeinsam mit ihrem Kollegium entwickeln die beiden agilen, viel und freundlich lachenden neuen Führungskräfte seit Sommer 2022 Visionen, wie es gelingen kann, „unserer Aufgabe, Jugendliche ausbildungsbereit zu machen, nachzukommen.“

Getreu dem Ansatz des Namensgebers der Schule, des Pädagogen Jan Amos Comenius (1592-1670), der die radikale Forderung vertrat, „alle alles ganz zu lehren“, und dabei die Selbsttätigkeit der Lernenden in den Mittelpunkt stellte, strebten beide vom ersten Tag ein Lehren und Lernen bei größtmöglicher Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler an. Sie träumten von der Weiterentwicklung des bereits existierenden selbstbestimmten Lernens nach Wochenplänen und deren Übertragung auf möglichst alle Klassen.

In ihren ersten Monaten als Schulleiterin hatte Jessika Hellge öfter mit ihrem damaligen stellvertretenden Schulleiter Manfred Teichert über die Zukunft der Bildung diskutiert. Eingebrannt hat sich ihr sein Kommentar: „Bauen Sie doch eine ganze Schule.“

Das „Haus der Gewerke“

Auf dem Schulhof sollen ökologische Nischen entstehen
Auf dem Schulhof sollen ökologische Nischen entstehen © Comenius-Schule Stendal

Womit er den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Der innere „Neubau“ der Schule begann im ganz Kleinen, genauer, mit dem Bau dreier Hochbeete  und eines Insektenhotels. Aktuell gestalten Schülerinnen und Schüler, unterstützt durch die Stiftung Umwelt-, Natur- und Klimaschutz des Landes Sachsen-Anhalt, den Schulhof neu, bauen Gabionen (Steinkörbe) und Bänke, bepflanzen alles. Freude bereitet es ihnen, wie Tim und Lena (beide 14) sagen. Beide hatten zuvor nie Gartengeräte in der Hand und stufen diese praktische Arbeit sogar als „besser als Unterricht“ ein.

Das „Große“ aber folgt noch. Gemeinsam und unterstützt von zahlreichen Unternehmen und Architekten aus der Region, die auch in den Technikunterricht eingebunden sind, wird derzeit ein „Haus der Gewerke“ geplant und später in wesentlichen Teilen selbst gebaut. Ein dreigeschossiges Gebäude entsteht. Die dafür notwendigen Baukosten von rund 300.000 Euro haben die Schülerinnen und Schüler selbst errechnet.

In einer Videokonferenz brachten sich alle Akteure, angefangen von der Schule über den Schulträger, das Hochbauamt, Unternehmer und Baugewerbeverband zu Beginn des Jahres auf den Stand der Dinge und wägten ab, was möglich ist. Als gemeinsames Ziel wurde ein Massivbau ausgegeben, möglichst ökologisch, klimaneutral, in der Handschrift des Bauhauses.

In dem Gebäude sollen später eine analoge und digitale Versuchswerkstatt für alle Arbeitsschritte von Firmen entstehen. Jessika Hellge ist überzeugt: „Das wird eine unglaubliche Bereicherung für unsere Schülerinnen und Schüler sowie eine optimale Möglichkeit der Berufsorientierung.“ Das Projekt, das der teilgebundenen Ganztagsschule die Nominierung für den bundesweiten SchuleWirtschaft-Preis 2023 bescherte, sorgt für Furore. Medien aller Form berichteten bereits darüber.

Kompetenzen für das 21. Jahrhundert

Es sind jedoch nicht nur solche „großen“ Projekte, die die Sekundarschule in den vergangenen Jahren bei immer mehr Schülerinnen und Schülern, einschließlich der Eltern, beliebt und begehrt macht. Es sind auch die strukturellen Veränderungen. Etwa, wenn es um das Konzept „Selbstorganisiertes Lernen Fördern“ (SELF) geht. Ihm liegen die sogenannten 21st-Century-Skills, die junge Menschen auf die wachsende Komplexität des modernen Lebens vorbereiten, zugrunde: kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität.

Info-Point zum Anne-Frank-Tag
Info-Point zum Anne-Frank-Tag © Comenius-Schule Stendal

Für die Comenius-Schule steht fest, dass Schülerinnen und Schüler, um erfolgreich in Ausbildung und Beruf bestehen zu können, in der Lage sein müssen, gut digital und analog zu kommunizieren, effektiv und problemlösend zusammenzuarbeiten, kreativ zu sein, kritisch zu denken, ihre Arbeitsprozesse selbst zu strukturieren und schließlich ihre Arbeitsergebnisse und damit auch sich selbst zu präsentieren. Dafür müssen sie medienkompetent sein und Technologien verstehen. Den klaren Auftrag formuliert Andrea Scheck: „Jede Schülerin und jeder Schüler muss davon profitieren.“

Drei Stunden sind für SELF wöchentlich in den Jahrgangsstufen 5 bis 8 reserviert, jeweils für einen ganzen Jahrgang zur gleichen Zeit. Das klassenübergreifende Arbeiten wird durch den zusätzlichen Einsatz einer Lehrkraft sowie einer pädagogischen Mitarbeiterin aufgestockt, sodass das Lernformat dem Anspruch auf individualisierte Hilfestellungen, aber auch Beobachtungen möglichst gerecht werden kann. Neben den Klassenräumen stehen den Schülern im SELF immer auch die Lernwerkstatt inklusive PC-Arbeitsplätze sowie der PC-Pool zur Verfügung. Dort arbeiten die Schülerinnen und Schüler, zusätzlich unterstützt von externen Kooperationspartnern, erproben sich in Experimenten zu Themen, die einen Lehrplanbezug haben. Die Benotung erfolgt sowohl prozessbegleitend als auch ergebnisbezogen.

Selbstständig  auf vielen Ebenen

Als angehende UNESCO-Schule werden in diesem Rahmen auch Natur- und Umweltthemen aufgegriffen. Woran und auf welcher Niveaustufe jede und jeder Einzelne arbeitet, ist im persönlichen Ordner festgehalten. Dieser enthält Vorschläge für unterschiedliche Arbeits-, aber auch Präsentationsmethoden. Im dazugehörigen Projektheft besteht die Gelegenheit, den eigenen Fortschritt und auch die individuellen Ziele festzuhalten und mit den eigenen Erwartungen und der Einschätzung der Lehrkräfte abzugleichen.

Selbstverständlich erhalten die Schülerinnen und Schüler fachlichen Input. Ihn liefern gerne auch Externe, etwa wenn es um Fragen rund um Bauhaus geht. Jessika Hellge ist sicher: „Unsere Kinder und Jugendlichen werden von Anfang an auf selbstständiges Lernen eingenordet. Sie können zunehmend besser damit umgehen.“ Andrea Scheck schmunzelt: „Auch wenn wir sie ab und zu fragen müssen, ob sie tatsächlich das für sie Beste herausgeholt haben.“

Beide wissen auch, dass individuelles Lernen unterschiedliche Materialien und Methoden erfordert. Manchmal wird auf Materialien früherer Jahrgänge zurückgegriffen, mitunter liniertes statt unliniertem Papier eingesetzt. Schließlich soll das Ergebnis der Hamburger Schreibprobe in Jahrgang 5 nicht ignoriert werden. Der Test nämlich offenbarte, dass 40 von 84 Schülerinnen und Schülern die Mindeststandards nicht erfüllen.

Praxisbezug, wo immer er möglich ist

Ernte aus dem Klostergarten
Ernte aus dem Klostergarten © Comenius-Schule Stendal

Praxisbezogenes Lernen ist hier mehr als ein Schlagwort. Unter Anleitung von Lehrer Max Heckel errichten Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 6 im Klostergarten des Stendaler Altmärkischen Museums einige Fachwerkhäuser in traditioneller Bauweise aus Holz, Lehm, Stroh und Wasser. Ein außerschulischer Lernort der besonderen Art. Jessika Hellge: „Das Projekt ‚Steinedal‘ könnte nicht ohne präzise Planung entstehen. Das ermöglichen externe Ingenieure.“ Die Kooperation mit dem Altmärkischen Museum, bei der auch Räume der Volkshochschule Stendal genutzt werden, ist langfristige geplant.

Max Heckel fasst in dem Projekt den Technik- und Hauswirtschaftsunterricht zusammen und verbindet das mit Geschichtsunterricht über die Region. Mit dem „praktisches Arbeiten in historischen Mauern“, wie die Schule das nennt, sollen insbesondere auch traditionelle Bau- und Handwerksberufe attraktiv werden. Gebaut werden auch Spiele für den Verkauf beim Handwerkermarkt. Die Pflege des Klostergartens wiederum bezieht Biologie- und Sachunterricht ein, wenn die geernteten Früchte beispielsweise zu Marmelade verarbeitet werden.

Ähnliche Ziele verfolgte das „Produktive Lernen in Schule und Betrieb“, ein eigenständiger Bildungsgang, der seit über 18 Jahren an der Comenius-Schule vom Team um Uwe Bauherr angeboten wird. Es stellt eine Alternative zum traditionellen Unterricht in den Klassenstufen 8 und 9 dar und ermöglicht die Verbindung von Theorie und Praxis. An drei Tagen in der Woche arbeiten Schülerinnen und Schüler an einem Praxisplatz ihrer Wahl. An den anderen beiden Tagen besuchen sie die Lernwerkstatt in der Comenius-Schule. Für den Bildungsgang gibt es einen Abschluss, der dem Hauptschulabschluss gleichgesetzt ist. 22 Plätze sind jährlich zu vergeben.

Ganztag an inner- und außerschulischen Lernorten

Die Bindung an die Region sowie zahlreiche externe Kooperationspartner öffnet der Comenius-Schule nicht nur zahlreiche außerschulische Lernorte, sondern bereichert die Angebotspalette des von Ganztagskoordinatorin Sarah Arndt organisierten Ganztags. An vier Tagen der Woche gibt es für die 5. und 6. Klassen ein ganztägiges Bildungs- und Betreuungsangebot  von 7. 30 Uhr (Frühbetreuung) bis 15 Uhr, das auch in „Ausfallstunden“ zum Tragen kommt. Treffpunkt ist die Cafeteria der Schule. In beiden Pausen findet außerdem die „Bewegungspause“ auf dem Schulhof statt.

Schülerinnen und Schüler sind DFB-Junior-Coachs
Schülerinnen und Schüler sind DFB-Junior-Coachs © Comenius-Schule Stendal

Um 12 Uhr beginnt das Ganztagsangebot mit dem „Mittagsband“. Anschließend können an drei Tagen zahlreiche Kurse und Projekte besucht werden. Das mehr als vielfältige Angebot reicht von Sportspielen über die „Holzwürmer“, die Schülerfirma, „Deutsch als Zielsprache“ oder den „Ukraine-Treff“, Angeln, die Schreibwerkstatt, den „Drum Circle“ bis zu Streetdance mit der Tanzschule, von Thymio (kleine Roboter), Graffiti, Lesen bis zur Arbeit in einer Radwerkstatt.

„Wir richten uns nach dem Bedarf und den Wünschen der Kinder“, garantiert Andrea Scheck. Und fügt einen unschätzbaren Vorteil der Arbeitsgemeinschaften hinzu: „Mittwochs sind so viele externe Kooperationspartner im Haus, dass wir immer auch anderthalb Stunden Zeit haben, um uns als gesamtes Team zu treffen und auszutauschen. Am Ende profitieren alle davon.“

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