Zwischen den Schuljahren: Kurt-Körber-Gymnasium Hamburg : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Schulleiter Rainer Köker spricht über veränderte Zeitstrukturen, Studienzeiten  und über das Zusammenwachsen eines Stadtteils zu einem Bildungszentrum.

Online-Redaktion: Herr Köker, Ganztagsgymnasien sind bisher noch die Exoten unter den Gymnasien. Wie kommt es, dass Ihre Schule eine gebundene Ganztagsschule ist?

Rainer Köker: Noch sind wir nur teilgebunden. Momentan sind die Klassen 5 bis 9 ganztägig, im kommenden Jahr kommt der 10. Jahrgang hinzu. Unsere Motivation, diese Schulform zu wählen, rührt aus unserer sehr heterogenen Schülerschaft: Wir haben einen hohen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund, die einer größeren Unterstützung bedürfen, als man sie in einem herkömmlichen G8-Gymnasium leisten kann. Zum Beispiel genügen die Sprachkenntnisse der Kinder häufig noch nicht den Anforderungen, während andere Kompetenzen und Fähigkeiten sehr gut sind. Das Ganztagsangebot ermöglicht diesen Schülerinnen und Schülern, den ganzen Tag Deutsch zu sprechen. Unabhängig vom Migrationshintergrund gibt es auch viele Kinder, die in ihren Familien und ihrem Sozialraum nicht die Voraussetzungen finden, vernünftig lernen zu können.

Online-Redaktion: Musste vor dieser Entscheidung für die Ganztagsschule viel Überzeugungsarbeit im Kollegium geleistet werden?

Köker: Es waren viele Gespräche notwendig. Wir haben intensiv darüber diskutiert, ob Ganztagsschule die richtige Antwort auf unsere Herausforderungen ist. Die Einsicht, dass es das Beste für die Schülerinnen und Schüler sowie den Stadtteil ist, setzte sich letztlich durch, sodass zwei Drittel des Kollegiums für die Entwicklung zur Ganztagsschule votiert haben. Zum Schuljahr 2005/2006 sind wir dann gestartet.

Online-Redaktion: Verfügen Sie in Ihrer Schule über ausreichend Arbeitsplätze für die Kolleginnen und Kollegen?

Köker: Im ersten Jahr haben wir uns erst einmal mit dem beholfen, was wir an Räumlichkeiten hatten. Auf Wunsch der Kollegen haben wir dann zwei Räume umgebaut: Dort sind zwei Arbeitsräume mit Computerarbeitsplätzen entstanden, in denen man sich in kleinen Gruppen zur Besprechung treffen oder Klausuren korrigieren kann. Es zeigt sich allerdings, dass auch diese Raumkapazitäten bereits an die Grenzen stoßen und wir erweitern müssen. Ein dritter Raum dient überdies als Kommunikationsort für das Kollegium.

Online-Redaktion: Welche festen Möglichkeiten des Austauschs innerhalb des Kollegiums haben Sie eingeführt?

Köker: Wir sind auf dem Weg zu Jahrgangsteams. Zur Etablierung benötigen wir wohl noch zwei Jahre. Sie werden aber mit Sicherheit kommen, denn es ist absehbar, dass dies der richtige Weg ist, um Abstimmungen zu erleichtern und die Möglichkeiten der individuellen Förderung zu verbessern.

Online-Redaktion: Was haben Sie methodisch verändert, um individuell besser fördern zu können?

Köker: Wir haben eine Leistungsvereinbarung ausgehandelt, mit der wir nach einem Methodenmix streben. Wie eine Evaluation am Ende des Schuljahrs zeigte, sind wir damit erfolgreich: So liegt die Aufgabenzeit, in der die Kinder und Jugendlichen individuell und selbstorganisiert Aufgaben lösen, bei rund 20 Prozent. Der lehrerzentrierte Unterricht ist in diesem Mix ein Element neben Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Einzelarbeit und Präsentationen von Ergebnissen. Die Lehrerinnen und Lehrer haben dazu auch Fortbildungen zu kooperativen Lernformen besucht.

So weit es möglich ist, unterrichten wir in Doppelstunden, denn diese Zeiteinheit befördert den eben beschriebenen Wechsel in den Lernstrukturen. Im abgelaufenen Schuljahr wurden 80 Prozent so unterrichtet. Dazu sind Fächer mit zwei Wochenstunden jetzt als Epochenunterricht organisiert: Wir fassen - wo es sich anbietet - je zwei Fächer mit zwei Wochenstunden zu einem Fach mit vier Wochenstunden zusammen. Das bedeutet, dass die Zweistundenfächer im Wechsel nur halbjährlich, dann jedoch mit vier Stunden unterrichtet werden.

In den Kernfächern haben wir feste Studienzeiten eingeführt, in denen die Kinder und Jugendlichen mit Wochenplänen arbeiten. Daneben gibt es flexible Studienzeiten: Die Schüler entscheiden bei Unterrichtsausfall und Vertretungsunterricht selbstständig, mit welchen in den Klassen hinterlegten Materialien zu den Kernfächern sie arbeiten möchten. Sie können Stoff üben, bei dem sie selbst Defizite erkannt haben. Sie können bereits Gelerntes wiederholen oder sich auch schon an neuen Inhalten ausprobieren. Die Lehrer geben den Schülerinnen und Schülern schon im regulären Unterricht Hinweise, welche Übungen in den flexiblen Studienzeiten für sie sinnvoll wären.

Online-Redaktion: Wo haben Sie sich Anregungen geholt, wie man Unterricht anders gestalten kann?

Köker: Wir haben uns im Gymnasium Klosterschule umgesehen, das schon sehr lange Ganztagsschule ist, und Modelle und Strukturen von dort übernommen. Derzeit ist Max-Brauer-Schule, eine Gesamtschule, für uns von Interesse, weil diese ein Vorreiter in Hamburg für das Ausprobieren neuer Ideen ist. Gleichermaßen gibt es aber auch Ideen, die sich aus der eigenen Schulgeschichte entwickeln. Wichtig ist es, einen Mix aus Ideen zu finden, der zu unserer Schule passt.

Beim G8 sind die Möglichkeiten zur Rhythmisierung begrenzt. Wenn man 34 Unterrichtsstunden in einem Stundenplan von maximal 40 Stunden unterbringen muss, bleiben gerade mal sechs Stunden, die man dazu nutzen kann. Entscheidend sind neben den längeren Zeiteinheiten die an unserem Gymnasium eingeführten verlängerten Pausen. Wir haben uns natürlich auch bemüht, vielfältige Angebote in der Mittagspause und im Nachmittagsbereich einzubinden. Rhythmisierung hat meiner Meinung nach neben veränderten Zeitstrukturen auch mit anderen Lernformen zu tun. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich bewusst werden, woran und wofür sie arbeiten. Sie müssen wissen, welchen Sinn das Lernen für sie persönlich hat.

Als eine Form der Veränderung des Lernprozesses sehen wir unsere Projektkurse, die derzeit nur in Klasse 11 laufen, die wir aber ausweiten möchten. Es gab neben dem Modellprojekt "e-truck" bisher den Projektkurs "Öffentlichkeitsarbeit", in dem die Schülerinnen und Schüler die Öffentlichkeitsarbeit für die Schule erledigen, und den Kurs "Geländegestaltung", in dem unter anderem ein Beachvolleyballfeld geplant und umgesetzt worden ist. Mittelfristig werden wir die Zeitstrukturen noch stärker verändern müssen, um Elemente wie die Projektarbeit umsetzen zu können.

Online-Redaktion: Wie ist das Mittagessen organisiert?

Köker: Unsere Mittagspause folgt auf zwei Doppelstundenblöcke. Das Essen wird von Müttern gekocht und liegt preislich bei 2,50 bis 3 Euro pro Mahlzeit. Wir sind noch auf der Suche nach einer besseren Lösung, denn viele Schülerinnen und Schüler nehmen das Mittagessen nicht wahr, sondern gehen in der Pause lieber zur Imbissbude oder in den Supermarkt. Nun müssen wir mit den Klassenlehrern, Eltern und externen Experten überlegen, wie wir hier umsteuern können. Obwohl wir zunächst eigentlich mit so wenig Regularien wie nötig auskommen wollten, ist jetzt zumindest für die Klassen 5 und 6 beschlossen, dass diese demnächst zusammen mit ihren Klassenlehrern in die Mensa gehen müssen. Sie sind allerdings nicht verpflichtet, dort eine Mahlzeit zu kaufen, sondern können auch selbst Essen mitbringen. Wir erhoffen uns davon eine andere Kultur des Essens und des gemeinsamen Gestaltens der Mittagspause.

Online-Redaktion: Was schließt sich an die Mittagspause an?

Köker: Zwei weitere Doppelstunden mit Unterricht beziehungsweise an drei Tagen nach dem dritten Block ein offenes Angebot. Hier finden Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote und Förderangebote statt. Daneben bieten wir für eine Klasse ein besonderes Profil an: Die Schülerinnen und Schüler erhalten hier eine Musik-Theater-Ausbildung, wozu sie eine gebundene AG mit zwei Wochenstunden besuchen. Vieles verschränkt sich dann auch mit den Inhalten anderer Fächer wie Deutsch, Sport, Musik oder Kunst. Im vergangenen Schuljahr hat die Musik-Theater-Klasse ein Musical einstudiert. Im kommenden Schuljahr werden wir neben dieser Klasse eine Forscherklasse mit einem naturwissenschaftlichen Schwerpunkt anbieten. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Möglichkeit erhalten, in einer Forscherwerkstatt längere Forschungsprojekte durchzuführen.

Online-Redaktion: Wer beaufsichtigt die Hausaufgabenbetreuung und die Förderangebote?

Köker: Wir fallen als Ganztagsschule unter die neue Berechnung und erhalten nur noch etwa ein Viertel dessen, was Ganztagsschulen früher an zusätzlichen Ressourcen erhielten. Die zusätzlichen Lehrerstunden setzen wir in den Profilklassen, in einer Stunde Lese- und Sprachkompetenzförderung und in einer Stunde für den Klassenrat ein. Damit sind die Lehrerstunden aufgebraucht. Die offenen Angebote werden deshalb fast ausschließlich durch Honorarkräfte wie Lehramtsstudenten oder Sporttrainer durchgeführt.

Online-Redaktion: Wie funktioniert bei Ihnen der Kontakt mit dem außerschulischen Personal?

Köker: Es gibt eine Ganztagsschulkoordinatorin. Eine ihrer Aufgaben ist genau das Sicherstellen dieser Kommunikation. Aber zugegebenermaßen ist das nur ein erster Ansatz.

Online-Redaktion: Welche außerschulischen Lernorte besuchen Ihre Schülerinnen und Schüler?

Köker: Seit sechs Jahren läuft in Klasse elf ein Projekt mit zwei Universitäten und zwei Ausbildungsbetrieben zum Bau autonom gesteuerter Fahrzeuge, das "e-truck"-Projekt. Über einen Zeitraum von acht Monaten bauen und programmieren die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Studierenden und Auszubildenden in den Universitäten und Betrieben.

Des Weiteren ist uns die Orientierung in den Stadtteil wichtig. Wir unterhalten eine Kooperation mit dem Stadtteilkulturzentrum Kulturpalast, und Schülerinnen und Schüler helfen gerade mit, ein Stadtteilarchiv beziehungsweise eine Geschichtswerkstatt aufzubauen.

Online-Redaktion: Haben Sie in den zwei Ganztagsschuljahren schon Veränderungen im Schulleben beobachten können?

Köker: Wir haben festgestellt, dass es bei den Schülerinnen und Schülern ungeheuer viel Potential gibt, wenn man bereit ist, ihnen etwas zuzutrauen und ihnen Verantwortung zu übergeben. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Jugendlichen inzwischen bei uns die Öffentlichkeitsarbeit und die Gestaltung des Schulgeländes und -gebäudes betreiben, ist wirklich beeindruckend.

Das Miteinander in der Schule verändert sich - es muss sich auch verändern. Früher wussten wir Lehrer praktisch nichts darüber, was unsere Schüler nachmittags machten. Nun wollen wir hier in Billstedt gemeinsam mit anderen Institutionen zu einem Bildungszentrum zusammenwachsen, das die Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt. Schule, Jugendhilfe, Vereine und Kirche müssen alle gemeinsam daran arbeiten, dass sich ein Kind bei uns gut entwickeln kann. Das funktioniert meiner Ansicht nach nur in der Ganztagsschule.

Online-Redaktion: Und welche Herausforderungen gibt es noch?

Köker: Eine der größten Herausforderungen bleibt die Individualisierung des Lernens, wozu sich die Lehrerrolle deutlicher wandeln muss. Das muss aber im großen Zusammenhang mit der Veränderung der Zeitstrukturen und der Arbeit im Kollegium gesehen und zeitgleich weiterentwickelt werden. Das hat uns die Arbeit mit dem Wochenplan gelehrt, mit der wir vor eineinhalb Jahren begonnen haben. Kollegen sagten, sie könnten ja nicht nach der Wochenplanarbeit und dem Besichtigen der Ergebnisse am nächsten Tag in die Klasse kommen und weitermachen wie bisher. Zumal die Ergebnisse in manchen Klassen höchst unterschiedlich waren und verdeutlichten, dass man als Lehrer teilweise nur einem geringen Teil der Schüler gerecht wird. Die Wochenplanarbeit weiten wir im nächsten Schuljahr auf die natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer aus. Eine Ausweitung anderer Lernformen ist daher ist größte Herausforderung der nächsten Jahre.

Kurt-Körber-Gymnasium Hamburg-Billstedt
540 Schülerinnen und Schüler
37 Lehrerinnen und Lehrer

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