Schule für Haus- und Krankenhausunterricht Hamburg: "Ein Stück Normalität" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

"Schülerinnen und Schüler benötigen Ruhe- und Rückzugsräume. Besonders, wenn es sich um kranke Kinder handelt". Das betont die Leiterin der Schule für Haus- und Krankenhausunterricht in Hamburg, Mona Meister.

Portät von Schulleiterin Mona Meister
Schulleiterin Mona Meister © Christoph Napp

Online-Redaktion: Was sind die Gründe, wenn Schülerinnen und Schüler längerfristig nicht am Unterricht in der Regelschule teilnehmen können?

Mona Meister: Ich möchte da zunächst einmal die Ausgangsposition beschreiben. Kinder und Jugendliche leiden - je nach Art ihrer Erkrankung - an unterschiedlichsten Auswirkungen. Manche sind so krank, dass sie über längere Zeit gar nicht in die Schule gehen können, andere schaffen nicht den ganzen Schultag. Gemeinsam aber ist allen, dass sie, anders als ihre Altersgenossen, neben dem Leben in der Familie, der Schule und ihrer Peer Group auch Erfahrungen im medizinischen Bereich machen. Sie erleben eine ungewohnte, fremde Umgebung mit eigener Sprache und Anforderungen an ihr Verhalten. Diese Belastung ist extrem hoch.

Online-Redaktion: Was kann dazu führen, dass eine Schülerin oder ein Schüler als so krank eingestuft wird, dass sie aus der Regelschule genommen werden müssen?

Meister:  Unsere Schüler werden nicht aus der Regelschule genommen, sie können nur zeitweise nicht hingehen. Sie bleiben auch während der Erkrankung Schüler ihrer Schule. Kinder und Jugendliche, die unter Angstzuständen oder Schmerzen leiden, die durch ihre Erkrankung auch immer große Fehlzeiten in der Schule aufweisen, müssen langsam wieder an die Institution herangeführt werden. Ganz häufig ist bei ihnen der Verlust sozialer Bezüge in der Schule, zur Peer Group oder auch in der Freizeit zu registrieren.

Zwei Mädchen und eine Erwachsene spielen am Krankenbett des einen Mädchen
Unterricht am Krankenbett © Christoph Napp

Online-Redaktion: Mit welchen Folgen?

Meister: Das beginnt mit der Abnahme der schulischen Leistungsfähigkeit, einer schnellen Ermüdung, Konzentrationsmangel und Antriebsschwäche. Das alles setzt eine Abwärtsspirale in Gang, die mit sozialer Ausgrenzung, Vereinsamung, der Störung des Selbstwertgefühls, mit emotionalen Veränderungen und schließlich dem Scheitern in der Schule einhergeht. Die Folgen einer Erkrankung können weit in die Zukunft reichen. Sie führen häufig dazu, dass die Berufsmöglichkeiten eingeschränkt sind und die Lebensperspektive sich dramatisch verändert.

Online-Redaktion: Beschreiben Sie doch einmal eines der vielfältigen Erscheinungsbilder, die zu dieser Entwicklung führen können?

Meister: Ich möchte zwei aufzeigen. Zum einen: Eine Schülerin verunglückt schwer, muss mehrmals operiert werden, wird in Kliniken und Reha-Einrichtungen über einen längeren Zeitraum behandelt und kann danach physisch vollständig genesen wieder in die Schule gehen. Die traumatischen Erlebnisse des Unfalls, der Operationen, der Schmerzen und körperlichen Einschränkungen, der Aufenthalt in Kliniken etc. können aber zu einer stark erhöhten Sensibilität und Ängstlichkeit führen. Das Lernen und das allgemeine Schulleben für den Betroffenen können dadurch erschwert werden. Oder: Ein Schüler ist von einer onkologischen Erkrankung betroffen, wird rund ein Jahr behandelt und erlebt in dieser Zeit sowohl die schwerwiegenden Folgen der Chemotherapie als auch die der Lebensbedrohung. Er wird auch erleben, dass andere Patienten mit einer ähnlichen oder sogar mit der gleichen Krebsart sterben. Wenn dann die Wiedereingliederung in die Schule in kleinen Schritten erfolgt, werden die Auswirkungen der Chemotherapie noch lange mit schneller Erschöpfung bis hin zu Lernproblemen anhalten. Dazu kommen die Kontrolluntersuchungen, die der Betroffene in regelmäßigen Abständen absolvieren muss und die jedes Mal eine psychische Herausforderung darstellen.

Frau in Krankenhauskleidung auf dem Flur
Lehrerin bei der Vorbereitung auf den Unterricht auf einer Brandverletztenstation © Christoph Napp

Online-Redaktion: Was macht Krankheit mit Kindern?

Meister: Das ist abhängig vom Alter. Kleinere Kinder denken über die Folgen nicht viel nach. Sie fühlen sich mal schlecht, dann wieder gut. Handelt es sich aber um Jugendliche in der Pubertät, wirbelt die Krankheit ihr gesundes Selbstbild durcheinander. Die Vorstellung "ich bin der Größte, die Schönste, der Schnellste, die Beste" - das alles funktioniert auf einmal nicht mehr. Ihnen wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Und in so einer Situation soll sich dieser junge Mensch dann auch noch auf Mathe konzentrieren. Das kann nicht funktionieren. Oder nehmen Sie das Beispiel eines chronisch Kranken. Wie geht es einem Schüler, etwa mit einer chronischen Darmentzündung, der permanent erklären muss, dass es ihm schlecht geht und er deswegen nicht leistungsfähig ist? Wenn er es aber nicht macht, vergessen die Lehrer oft, dass der Schüler nicht faul, sondern krank ist. Die Folge wird sein, dass der Betroffene ständig um seine Haltung kämpfen muss, und das kostet extrem viel Energie. Die Problematik steigt, je höher die Klassenstufe ist, weil es dann zunehmend nur noch um die Aneignung von Fachwissen geht.

Ein Junge erhält von einer Lehrerin Unterricht am Computer
Hausunterricht bei einem Schüler © Christoph Napp

Online-Redaktion: Wie fangen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen die Schülerinnen und Schüler auf?

Meister: Zeitgleich unterrichtet unser mobiles Team rund 120 Schülerinnen und Schüler. Das Angebot basiert einerseits auf der Überlegung und Erfahrung, wie viel sie leisten können, andererseits orientiert es sich an dem, was in der Klasse gerade dran ist. Wichtig für den Erfolg sind dabei der enge Kontakt und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler. Die Klinikschulen der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden derzeit von rund 280 Kinder und Jugendliche besucht. Dort arbeitet jeweils ein festes Kollegium, das sich eng mit den Behandlungsteams abstimmt. Wir bauen dabei auf altersgemischte Gruppen, und natürlich berücksichtigen wir bei der Gestaltung der Unterrichtsstunden die Behandlungstermine. Die Erfahrung zeigt, dass Schule und Unterricht, wie wir sie für Kinder und Jugendliche in solch schwierigen Lebensphasen anbieten, für diese ein Stück Normalität in den Alltag bringt.

Ein Junge steht vor einer Magnetwand mit Bildern und Text.
Unterricht in einer Tagesklinik © Christoph Napp

Online-Reaktion: Aus welchen Professionen setzt sich Ihr Kollegium zusammen?

Meister: Wir haben Lehrer aller Schularten, auch Berufsschullehrer, Sonderpädagogen, aber auch viele Kolleginnen und Kollegen, die zuerst andere Berufe ausübten oder Zusatzqualifikationen haben, z.B. haben wir eine ehemalige Krankenschwester, mehrere Musiktherapeuten, eine Tanztherapeutin, viele Beratungslehrkräfte und Lehrkräfte mit langjährigen Auslandserfahrungen. Meist sind es Menschen, die viel einbringen können und nicht ganz stromlinienförmig arbeiten.

Online-Redaktion: Wie schützen Sie sich selbst bzw. wo nehmen sie die Kraft her, ständig mit jungen Menschen in extremen Ausnahmesituationen zu leben und zu arbeiten?

Meister: Wir erleben viele Schicksale hautnah. Das belastet natürlich. Aber es ist unglaublich motivierend zu erleben, mit welcher Freude und Verbundenheit die Kinder und Jugendlichen, aber auch ihre Familien, mit uns arbeiten. Oft entstehen nahe Verbindungen, fast Freundschaften. Erfahrungen wie in diesem Jahr machen uns besonders viel Mut. In den letzten Jahren haben wir immer rund fünf Abiturprüfungen begleitet, in diesem Jahr waren es elf Schülerinnen und Schüler. Zwei davon haben das so genannte "geteilte Abitur" geschafft. Das heißt, sie haben zwar doppelt so lange gebraucht, weil sie pro Schuljahr nur die Hälfte der Fächer absolvieren mussten, aber sie haben es geschafft. Die anderen neun Schülerinnen und Schüler haben wir zum Teil auch über Jahre unterstützt und die krankheitsbedingten Fehlzeiten mit Hausunterricht abgefedert. Zudem haben fünf Jugendliche den Realschul- und weitere zwölf den Hauptschulabschluss geschafft. Die meisten dieser Jugendlichen  konnten den Abschluss ohne Klassenwiederholung erhalten. Neben diesen Mut machenden Erfolgsgeschichten gibt es für uns selbstverständlich viele Gesprächsmöglichkeiten, Supervisionsangebote und in Krisenzeiten auch Einzelsupervisionen.

Schüler beim Unterricht im Klassenzimmer
Gruppenunterricht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie © Christoph Napp

Online-Redaktion:  Wie können Regelschulen gestaltet sein, damit kranke Kinder sie erst gar nicht verlassen müssen?

Meister: Dass der Begriff individuelle Förderung mit Leben gefüllt sein muss, versteht sich von selbst. Kranke Schülerinnen und Schüler können oft nicht das volle Pensum absolvieren und dürfen deshalb auch nicht hinterher in ein entsprechendes Notenkorsett gezwängt werden. Extrem wichtig aber ist auch eine Kultur der Ruhe. Nicht nur kranke Kinder benötigen Ruhezonen, in der sie sich selbst wahrnehmen und sorgsam mit sich selbst umgehen können. Es muss Zeit und im wahrsten Sinne des Wortes Raum geschaffen werden für Phasen des Krafttankens. Eigentlich sollte es unser aller Ziel sein, dass Schule so funktioniert, dass sowohl Schüler als auch Lehrer dort sowohl arbeiten als auch leben können. Kein kranker Schüler soll um seinen ihm angemessenen Abschluss fürchten müssen.

Online-Redaktion: Bietet da nicht die Ganztagsschule geradezu Chancen?

Meister: Ganztagsschule, die mehr als nur Unterricht anbietet, kann auch Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen ein breites Spektrum an Möglichkeiten unter einem Dach anbieten. Zusätzliche Wege zu Freizeitangeboten können dadurch entfallen. Das entlastet im Alltag. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Kinder und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen nicht immer im "Gleichschritt" mit gesunden Mitschülerinnen und Mitschülern alles mitmachen müssen, sondern sehr individuelle Möglichkeiten gefunden werden. Da wünsche ich mir in allen Schulen von den Lehrkräften mehr Phantasie und Einfühlungsvermögen und den Mut, auch ungewöhnliche Wege zu gehen.

Lehrer und Schüler beim Unterricht am Keyboard.
Musikunterricht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie © Christoph Napp

Online-Redaktion: Nehmen wir an, Sie hätten einen Wunsch frei - was würden Sie sich mit Blick auf Ihre Schülerinnen und Schüler von der Ganztagsschule im Jahre 2020 wünschen?

Meister: Mein Wunsch wäre es, dass die Schulen stark differenziert mit individuellem Lernangeboten arbeiten und Schülern mit schweren Erkrankungen nicht noch zusätzlich Druck machen. Ein weiterer Wunsch wäre ein recht "unpädagogischer". Das Essen in der Ganztagsschule sollte ebenfalls individuell zusammengestellt werden können und Alternativen für Allergiker bieten. Das durfte ich mal in Schweden erleben, wo wir mit einer Delegation von Schulleitern in der Futurum-Schule in der Nähe von Stockholm waren. Da ich selbst einiges nicht vertrage, habe ich vorsichtig nachgefragt, und siehe da - die Schulküche wusste genau, welche Allergien in der Schüler- und Lehrerschaft existierten. Es gab für alle alternative Angebote. Ich konnte mir z.B. einen laktosefreien Kartoffelbrei auffüllen, die Gemüsesorten waren einzeln zu haben und Salat und Dressing konnte ebenfalls selbst zusammengestellt werden. So ein Angebot wäre auch für viele unserer Schüler wichtig. Zudem gab es dort ruhige gemütliche Ecken für die Schüler sowohl in den Lernbereichen als auch in den Gemeinschaftsräumen. Auf den Fluren gab es Rückzugsecken, die gemütlich gestaltet waren. Viel von diesem Konzept wäre auch ohne große Umbauten in unseren Schulen umsetzbar.

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