"Schön, dass du da bist!" : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

"Das Kind lehrt und erzieht. Für den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur, indem er es liest, reift er." (Janusz Korczak) Bei den großen Reformpädagogen steht das Wohl der Kinder im Mittelpunkt. Wer als Erwachsener das Kind neu entdeckt, kann die reformpädagogischen Forderungen nach ganzheitlicher Bildung am besten erfüllen. Alfred Hinz von der Bodenseeschule St. Martin Friedrichshafen erläutert im Interview, was für ihn individuelle Förderung heißt.

Online-Redaktion: Wie kann man die Kinder und Jugendlichen vor falschem PISA-Ehrgeiz schützen?

Hinz: Eigentlich ganz einfach: Indem Eltern, Lehrer, Bildungspolitiker die richtigen Konsequenzen aus der PISA-Studie ziehen. Also nicht die Schülerinnen und Schüler sollen ständig getestet werden, sondern die Schulen mit ihren Lehrern sollten geprüft werden.

Erfüllen die Schulen pädagogische Standards wie Zeiten für individuelles Lernen, also tägliche Freiarbeit, Zeiten für gemeinsames Lernen, also Gruppenarbeit, Zeiten für das Zuhören und Aufnehmen, Zeiten für die Stille, Zeiten für kreatives Tun? Summa summarum also Zeiten für eine Balance zwischen kognitiven, emotionalen und sozialen Leistungsmöglichkeiten.

Von der Notwendigkeit, neben der individuellen Förderung eine strukturelle Änderung des Bildungssystems anzugehen, im Sinne einer neun bis zehnjährigen Ganztagsgrundschule will ich erst gar nicht reden. Das müssten die Politiker aller Parteien und Länder zusammen beschließen.

Vielleicht bekommen wir doch Hilfe von der Wirtschaft. Die fordern aus volkswirtschaftlicher Sicht: Kein Kind darf verloren gehen. Und diese Forderung kann ich als Pädagoge, also aus erzieherischer Sicht nur begrüßen.

Online-Redaktion: Brauchen wir ein neues Menschenbild, das von dem Reichtum und der Kompetenz der Kinder und Jugendlichen ausgeht?

Hinz: Erziehung und Bildung sind ohne ein Menschenbild einfach nicht denkbar, aber welches sollte es jetzt in einer pluralistischen Gesellschaft sein?

Wir müssen das Kind neu entdecken, denke ich. Das Kind ist der Standard. Wir müssen die Kinder nur beobachten: Kinder sind einmalig mit einer Würde ausgestattet und sie wollen sich selbst entwickeln. So komisch es klingt, manche Lehrerinnen und Lehrer glauben es nicht: Kinder wollen lernen, nichts als lernen.

Warum hindern wir sie nur? Der Part der Erwachsenen ist der Part der Begleitung. Maria Montessori drückt das eigentlich am besten aus: "Hilft mir, es selbst zu tun." Dieses Es kann nur in der Entwicklung zur Person sein. Das gilt für die Schule und die Schule ist damit Stätte der Personwerdung, was sonst.

Wenn das Kind also ein bedürftiges Wesen mit einer eigenen Natur ist - und davon bin ich überzeugt -, denn ist kein kleiner Erwachsener. Es darf sich entfalten, so wie es angelegt ist. Es besitzt also ein Recht darauf. Das Kind ist ein psychischer Embryo, so würde ich formulieren. Es baut seine Persönlichkeit nach einem eigenen Bauplan auf.

Und so müssen Familie, Gesellschaft und Schule dem Kind Gelegenheit dazu geben. Wir müssen also überall dem Kind eine vorbereitete Umgebung schaffen: zu Hause, in der Öffentlichkeit, im Kindergarten, in der Schule. Und dazu benötigt es eigentlich drei Dialoge. Dialoge erstens mit Menschen, zweitens mit den Sachen, den Dingen - und ich denke auch an den Dialog mit einer höheren Instanz: den wir Christen eben Gott nennen.

Online-Redaktion: In der Reformpädagogik gibt es eine illustre, wenn auch kleine Gruppe Erwachsener, von Maria Montessori, Janusz Korczak bis zu Hartmut von Hentig, deren Pädagogik die Kinder in den Mittelpunkt stellt. Was können die Ganztagsschulen von ihnen lernen?

Hinz: Bloß nicht das Rad neu erfinden. Es ist alles gedacht und existiert bereits. So kann also eine Ganztagsschule die alte reformpädagogische Forderung erfüllen, Schule endlich als Lebensraum aufzufassen, nicht nur als ein Ort, der ausschließlich Belehrung von sich gibt. Nur in einer Ganztagsschule - am besten in gebundener Form - kann das erfüllt werden.

Das bedeutet aber nicht eine Verlängerung der üblichen Halbtagsschule über den Nachmittag hinaus, vielleicht mit einer Suppenküche. Aber einen Lebensraum schaffen, der pulsiert, rhythmisiert und dadurch, dass er reformpädagogischen Forderungen nach ganzheitlicher Bildung und Erziehung gerecht wird, ist Gebot der Stunde.

Kognitive Angebote werden also von ästhetischen, emotionalen und handwerklichen Angeboten abgelöst. Das ist die Lösung. Soziale Kompetenzen werden ernsthaft eingefordert und auch eingeübt. Und schließlich sollen Formen demokratischen Tuns vorsichtig und schülergerecht eingeübt werden.

Über allem steht aber die Auffassung: Gut, dass Du da bist! Auf Dich kommt es an und es lohnt sich für Dich, dass Du erwachsen wirst!

Online-Redaktion: Was bedeutet die Einsicht, dass Kinder andere Menschen als die Erwachsenen sind, für die inhaltliche Gestaltung der Schulen?

Hinz: Schule muss einfach ein Schonraum sein, ob wir wollen oder nicht, und wenn Kinder anders sind, muss die Schule auch anders sein. Auf die Eigenart der Kinder muss die Schule inhaltlich und strukturell reagieren.

Ich plädiere für die vier R in der Schule: Reviere, Regeln, Rituale und Rhythmus. Da verbieten sich z.B. Zeiteinheiten von 45 Minuten, denn Kinder haben ein anderes Zeitempfinden. Kinder sind nicht zu takten, das ist in der Industrie angesagt, aber auch da schafft man es ab, wo es nur geht.

Außerdem verbietet sich ausschließlicher Fachunterricht. Ich denke, Einzelheiten lehren heißt Verwirrung stiften. Beziehungen herstellen unter den Sachen, den Dingen und den Inhalten, das schafft Erkenntnisse. Und wenn Kinder Stille benötigen, was der Fall ist, muss ich die kontemplative Potenz von Schule suchen, also Stilleübungen anbieten. Und wenn soziale Kompetenz erarbeitet werden soll, dann müssen Kinder Projekte miteinander angehen dürfen. Oder die älteren Schülerinnen und Schüler helfen den Jüngeren.

Zusammengefasst haben Kinder in der Schule vier Lehrer: den Profi-Lehrer, die Mitschüler, den Raum und vor allem die Zeit. Das alles spricht nur für die Ganztagsschule.
 
Online-Redaktion: Was sind Ihre wesentlichen pädagogischen Vorschläge, um Schulen zu einem kindgerechten Raum zu machen?

Hinz: Wir haben unseren eigenen Bildungs- und Erziehungsplan, den sogenannten Marchtaler Plan entwickelt. Der Terminus ist in unserer eigenen Lehrerakademie in Obermarchtal entstanden. Da haben wir für die Ganztagsschule sieben Elemente erprobt, übrigens schon seit 20 Jahren.

Erstens der Morgenkreis am Montag: Als Wochenanfang kennzeichnet er die Woche und gibt gleichzeitig einen Ausblick über die ganze Woche. Das Pendant ist dazu am Freitag der Abschlusskreis, in dem reflektiert wird, was war gut in der Woche und was war nicht so gut.

Zweitens, die tägliche Freie Stillarbeit. Also eine Zeit für die Individualisierung des Kindes, mit der Integration der Bereiche Mathematik und Deutsch.
Drittens der tägliche vernetzte Unterricht, in dem die Fächer abgeschafft, aber die spezifischen Zugangsformen der Fächer erhalten sind. Und das bedeutet themenorientiertes epochales Arbeiten über vier bis sechs Wochen.
Viertens der Fachunterricht: Eine Tiefenbohrung, in Englisch, Informatik, Technik, Hauswirtschaft und Sport.

Fünftens, die Mittagsfreizeit mit dem gemeinsamen Essen: Der Klassenlehrer isst mit seiner Klasse. Freie Angebote im ganzen Gelände und Gebäude stehen den Kindern zur Verfügung und können so den Übergang vom Vormittag in den Nachmittag wunderschön gestalten.

Sechstens, eine Handwerkserziehung - uraltes Erbe der Reformpädagogik. Für jeden Jahrgang haben wir Werkstoffe und Werkzeuge ausgesucht, um die Hand auszubilden. Die Hand ist einfach das Organ der Organe: Die Neurologen bestätigen das gerade ganz toll und wissenschaftlich.
Und schließlich siebtens gibt es eine Freizeiterziehung, mit ihren vielen Angeboten von der Fischertechnik bis zur Schülerzeitung und vom Fußballspiel bis zur Batikarbeit.

Online-Redaktion: Schulen können voneinander lernen. Welche Erwartungen verbinden Sie mit der Zusammenarbeit zwischen der Bodenseeschule und anderen Schulen unterschiedlicher Schulformen?

Hinz: Seit 1989 gehören wir einem reformpädagogisch orientierten Arbeitskreis an, der "Blick über den Zaun" heißt. Ich finde, das ist ein toller Name. Da sind also alle Schulen versammelt, die wichtige Aussagen zur Schulreform machen können.

Die Laborschule Bielefeld, die Helene-Lange-Schule Wiesbaden, die Jenaplanschule aus Jena, die Odenwaldschule, die Schlossschule Salem, die Montessori-Gesamtschule Potsdam, die Waldorfschule Überlingen und so weiter und so fort: ein Reichtum. Wir lernen viel voneinander, besuchen uns und gehen zum Teil dennoch mit dem gleichen Ziel unterschiedliche Wege.

Uns eint einfach die Neugier auf die Frage: Was ist eigentlich ein Kind und wie sollte daraufhin die Schule aussehen? Das ist, glaube ich, eigentlich das Geheimnis unseres guten Kontaktes.

Wir haben den Arbeitskreis von elf Schulen im Jahr 1989 auf 33 Schulen erweitert. Weil es viele gute Schulen in Deutschland gibt, haben wir vorsichtig versucht, diesen Kreis zu erweitern und alte reformpädagogische Schulen mit den neuen reformpädagogischen Schulen zu verquicken. Und ich muss sagen, wir sind sehr glücklich.

Online-Redaktion: Was kann die Gesellschaft für ihre Kinder tun und was die Kinder für die Gesellschaft?

Hinz: Die Gesellschaft muss endlich verstehen, dass Heterogenität, also Unterschiedlichkeit, ein Reichtum ist und keine Zumutung. Also muss das gegliederte Schulsystem schlichtweg geändert werden.

Der Weg, auf dem die Schwachen gefördert werden, sagt Maria Montessori, ist der gleiche, auf dem die Starken sich vervollkommnen. Also auch die Starken brauchen die Schwachen, das wollen kaum eine Mutter oder ein Vater wahrhaben.

Und die Kinder? Ja, die Kinder müssen Verantwortung für sich selbst übernehmen. Wenn ich denke, welche Verantwortung sie in der Freiarbeit schon auf sich nehmen, ist das doch toll. Die Konsumhaltung in der Schule muss also aufgegeben werden. Gleichzeitig müssen sie ihre Talente für eine demokratische Gesellschaft einsetzen. Beides kann man lernen, aber das geht nur in einer anderen Schule, und die brauchen wir.

Da fällt mir an dieser Stelle eine Gedicht von Kurt Marti ein. Das ist ein Schweizer Pastor und Lyriker und der hat ein tolles Gedicht geschrieben "Wo kämen wir hin?"

"Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge?"

Alfred Hinz, geb. 1941. Studium der Pädagogik mit dem Schwerpunkt Reformpädagogik. Lehrer an verschiedenen Grund- und Hauptschulen. Schulleiter der Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen (Grund- und Hauptschule in kath. Trägerschaft), Marchtaler-Plan-Schule in Ganztagsform. Lehrertätigkeit an einer integrierten Gesamtschule. Mitautor des reformpädagogischen Konzepts "Marchtaler Plan", Bildungs- und Erziehungsplan für katholische Schulen in der Diözese Rottenburg/Stuttgart.

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