Schnell denken, entscheiden und andere begeistern : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Die Leitung einer Ganztagsschule bringt täglich neue Herausforderungen mit sich. Ob es sich um die Einführung von Ganztagsklassen, die Einstellung einer Diplompädagogin oder die Anschaffung eines therapeutischen Schulhundes handelt. Gerd Schemel, Rektor der Erweiterten Realschule Wallerfangen, im Interview. 

Gerd Schemel auf dem Ganztagsschulkongress in Berlin 2009
Gerd Schemel auf dem Ganztagsschulkongress in Berlin 2009

Online-Redaktion: Wie sieht ein normaler Tag an Ihrer Schule aus?

Gerd Schemel: Normale Tage gibt es tatsächlich, wenn man unter normal versteht, dass diese quantitativ überwiegen. Die meisten Tage sind glücklicherweise geplant, vorbereitet und strukturiert. Das bedeutet, dass es für mich Büroarbeit, aber auch Unterricht in meinen Fächern und Klassen gibt. An meiner Schule gestaltet sich dies so, dass jeden Tag pünktlich um 6:30 Uhr geöffnet wird, dann treffen schon die ersten Schülerinnen und Schüler ein. Ich erscheine um 7:15 Uhr in der Schule. Etwa 20 Minuten später kommen die ersten Lehrerinnen und Lehrer und man begrüßt sich nett. Wenn klassische Musik ertönt, wissen alle, dass bereits drei Minuten später der Unterricht beginnt. Um 13 Uhr ist Mittagspause und spätestens um 16:30 Uhr endet die Schule. So sieht ein normaler Tag aus.
 
Online-Redaktion: Wie sah denn ihr gestriger Schultag aus?

Schemel: Gestern hatten wir mit dem Schneechaos zu kämpfen: Die Busse kamen verspätet und das Telefon stand nicht mehr still. Ein Lehrer rief an und teilte mir mit, dass er nicht kommen könne. Gleich darauf meldete sich der nächste Lehrer krank. So musste ich als erstes einen Vertretungsplan erstellen, da auch die Konrektorin und die Sekretärin im Schnee feststeckten. Nichtsdestotrotz standen Eltern vor meiner Tür. Der Hintergrund: Freitag zuvor gab es Zeugnisse und die Noten haben aus irgendwelchen Gründen nicht alle gestimmt. Sie mussten also neu geschrieben werden. Darüber hinaus hatten Schülerinnen und Schüler, die von der Haupt- auf die Realschule hochgestuft wurden, ihre Bücher für den Unterricht nicht zur Verfügung.

Dessen ungeachtet musste ich als Deutschlehrer nun Mathematik unterrichten. Währenddessen schneite es ununterbrochen und die Schülerinnen und Schüler durften nicht auf den Schulhof, weil es zu gefährlich war. Wir stellten das Radio an, um zu hören, wie der Minister in dieser Situation entscheidet. Nebenbei kümmerte ich mich darum, dass die Busse weiterfuhren und telefonierte dafür ständig. Derweil bat mich eine Mutter, die mit ihrer Tochter gekommen war, um Rat. Ihre Tochter ist versetzungsgefährdet und schafft wohl das Gymnasium nicht. Dieses Gespräch dauerte eine Viertelstunde.

In der Zwischenzeit wurde der Schneefall immer stärker. Wir hatten aber 60 Essen bestellt, so dass die Kinder diesmal nicht in der Mittagspause, sondern während einer Schulstunde ihr Essen bekamen. Kurz darauf wurden der Nachmittagsunterricht und die Arbeitsgemeinschaften ganz abgesagt. Dafür mussten die AG-Leiter angerufen werden. Dennoch gab es ein Highlight. Die Leiterin des Ganztagsbetriebs beriet sich mit mir über die Anschaffung eines therapiebegleitenden Schulhundes, dessen Anschaffung die Diplompädagogin angeregt hatte. Um 14 Uhr war das Schneetreiben so stark, dass die Schule schließlich geschlossen wurde und ich nach Hause gefahren bin. Glücklicherweise war dies kein normaler Tag. Trotzdem komme ich mit der Belastung gut zurecht, denn ich bin ein Mensch, der spontan sehr vieles tun kann

Online-Redaktion: Warum sind Sie Schulleiter geworden, und was hat Sie für diese Aufgabe qualifiziert?

Schemel: Dass es so kommen würde, ahnte ich zunächst nicht. Ich bin seit 1984, also seit 26 Jahren Schulleiter. Das ist eine sehr lange Zeit. Mein Hauptinteresse galt immer der Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts: Ich war Fachleiter sowie Mitglied verschiedener Lehrplankommissionen. Darüber hinaus habe ich Schulbücher geschrieben und war Vorsitzender der Landesfachkonferenz Deutsch. Meine Überzeugung war, dass Deutsch als Leitfach mehr in der Schule wirken und sichtbar werden müsste. Damals sah die Schullandschaft ganz anders aus: Es war ein überschaubares, klar gegliedertes und wenig durchlässiges System.

Mir wurde bewusst, dass man seine Ziele am besten als Schulleiter durchsetzen konnte. Dass ich Schulleiter werden wollte, liegt auch daran, dass ich schnell denken und Menschen begeistern kann. Damals gab es aber noch keine Qualifikationsmaßnahmen oder Lehrgänge für Schulleitungen. Man musste lediglich Prüfungen ablegen. Es gab mehrere Mitbewerber und deshalb hat das Ministerium entschieden. Da ich in die unterschiedlichsten Aufgaben rasch reingewachsen bin, machte mir die Schulleitung immer mehr Spaß. Heute kommt natürlich Routine hinzu, denn sonst würde ich die Aufgaben nicht bewältigen. Außerdem geht es heute ohne Verwaltungslehrgänge gar nicht mehr.

Online-Redaktion: Wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Schulleiter charakterisieren? Verstehen Sie sich als Innovationsmotor, Manager oder primär als Pädagoge?

Schemel: Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Meine eigentliche Berufung liegt im pädagogischen Bereich, da habe ich auch die meiste Geduld. Aber je nach Tag und Situation werde ich als Manager gefordert, was mir auch sehr liegt, da ich Strukturen rasch erkenne und gut organisieren kann.

Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel geben?

Schemel: Ich habe beispielsweise erkannt, dass die Struktur der Halbtagsschulen in dieser Weise nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Im Saarland war es aber unmöglich, eine gebundene Ganztagsschule einzurichten, sondern nur offene, freiwillige Angebote. Daher haben wir vor fünf Jahren als erste Schule des Landes entschieden, eine teilgebundene Ganztagsschule aufzubauen, die es so im Saarland nie gab. Für diese Zwecke bildeten wir Ganztagsklassen, für die wir zunächst die Eltern gewannen. Da es keine Genehmigung im eigentlichen Sinn gab, wurde unser Modell geduldet, auch wenn es vielleicht nicht erwünscht war.

Erst durch unsere Erfolge ist es so gekommen, dass die Ganztagsklassen im Ganztagsschulmodell Plus des Saarlandes fest verankert wurden. Nachdem sich bald darauf auch Gymnasien diesem Modell anschlossen, arbeiten mittlerweile im Saarland weit über 20 Schulen teilgebunden. Wir haben als Vorreiter den Weg dahin geebnet. Ein wichtiger Schritt bestand darin, dass wir als Schule Träger der Ganztagsangebote wurden. Konkret heißt das, der Förderverein hat diese Aufgabe übernommen: Wir stellen als Schule das Personal ein - gegenwärtig sind es acht Personen - und haben Einfluss auf Arbeitszeit und Bezahlung. Als Manager einer Ganztagsschule muss man unbedingt über Qualitäten in der Personalentwicklung verfügen. Nur dann kann ein Modell wie das unsrige funktionieren, das teilgebundene, offene sowie einen Halbtagsbereich unter einem Dach vereint. Wir haben es mit unserem Beispiel geschafft, dass man darüber nachdenkt und es politisch unterstützt.

Online-Redaktion: Wie viel Bewegung und Veränderung braucht die Ganztagsschule?

Schemel: Mittlerweile sind wir als Ganztagsschule im sechsten Jahr und haben die Strukturen und Pläne ständig weiter entwickelt. Wir ändern jedes Jahr etwas. Im vergangenen Jahr wurde über den Förderverein, der einen finanziellen Zuschuss vom Land bekommt, eine Diplompädagogin für den ganzen Tag eingestellt. Das hat uns an der Schule einen Qualitätssprung gebracht, denn nun haben wir eine Pädagogin, die zuverlässig den ganzen Tag präsent ist.

Online-Redaktion: Sie waren 2009 erneut auf dem Ganztagsschulkongress in Berlin. Warum?

Schemel: Da ich nicht als Referent vorgesehen war, bin ich vor allem gekommen, um mir Anregungen zu holen. Eine davon war die Arbeit mit einem therapiebegleitenden Schulhund. Für Kinder, die sich nur schwer öffnen, soll die Pflege und das Dasein eines Hundes sie motivieren, Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu entwickeln: Ein Hund reagiert ja immer und braucht jemand, der sich um ihn kümmert. Die neu eingestellte Pädagogin führt zu diesem Projekt nun Lehrgänge durch. Das Projekt ist für mich ein Beispiel für die Schule als Lebensort.

Und die Diplompädagogin hat davon eben auf dem Ganztagsschulkongress erfahren. An einem Ausstellungsstand entdeckte sie etwas zur Arbeit mit "Klassentieren". Sie kam dann mit der Idee zu mir und hat einen mehrseitigen Antrag vorgelegt. Das Beispiel zeigt, wie lebendig Schule sein kann, wenn sie ganztägig organisiert ist - man muss nur anders mit Menschen umgehen.

Online-Redaktion: Was halten Sie von der Multiprofessionalität und der selbstständigen Schule?

Schemel: Der Vorteil liegt darin, dass wir selber das Personal einstellen können. Zusätzlich muss man Netzstrukturen mit klaren Aufgabenstellungen schaffen und gleichzeitig aber auch dafür sorgen, dass jeder sich für alles verantwortlich mitverantwortlich fühlt. Dieses Bewusstsein ist an unserer Schule gewachsen, sodass ein offenes, wohlwollendes Miteinander zustande gekommen ist. Um die Kommunikation zu unterstützen, sind die Türen bei uns immer offen. Es darf auf keinen Fall zu Grüppchenbildung innerhalb des Teams kommen. Wenn die Professionen untereinander nicht kooperieren, ist keine Teambildung möglich. So muss sich zum Beispiel die Erzieherin auf Augenhöhe mit dem Studienrat befinden.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielt das schülerorientierte Schulklima für die Schulleitung?

Schemel: Die Schülerorientierung macht unsere Schule aus! Sie ist der Grund für den guten Ruf, den wir uns erworben haben. Der Unterricht ist darauf konstitutiv ausgerichtet. Wir helfen, Schwächen auszugleichen und Stärken zu fördern. Außerdem haben wir eine große Bandbreite von Arbeitsgemeinschaften, die auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sind. Das erstreckt sich etwa im Bewegungsbereich von Ballspielen, Projekten wie "Mädchen stark machen" über Selbstverteidigung bis zum Tischtennis. Eine große Rolle spielt die Musik: Wir sind eine musizierende Schule, die mit ihrem Schulchor sogar in Berlin auftreten durfte. Bei uns singen Schülerinnen und Schüler auch im Lehrer-Eltern-Chor mit.

Online-Redaktion: In der Öffentlichkeit ist das Bewusstsein für Bildung enorm gestiegen und damit auch die Verantwortung guter Schulleitung. Wie gehen Sie damit um?

Schemel: Es hat sich generell viel geändert, wobei ich nur für das Saarland sprechen kann. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Zugenommen hat der kompetenzorientierte Unterricht. Darüber hinaus entwickeln wir verschiedene Förderkonzepte. So probieren wir dieses Jahr das Teamteaching. Das heißt, in den Klassen fünf, sechs und sieben arbeiten einmal in der Woche zwei Lehrkräfte in der Klasse zusammen. Ich separiere die Kinder nicht, sondern helfe dem Kind individuell. Das Modell läuft seit einem halben Jahr und ist für die Eltern und uns sehr vielversprechend.

Im Vordergrund stehen das Fördern und Fordern sowie die Integration der Kinder. Wichtig sind auch die Hausaufgabenhilfen im Ganztagsbereich. So hatten wir in den ersten Jahren nachmittags Lernzeiten, in denen die Kinder ihre Aufgaben bearbeiteten. Heute haben sie nur noch fünf Stunden Unterricht und die Lehrkraft der fünften Stunde bleibt in der Klasse, während zwei zusätzliche Lehrpersonen hinzukommen. So bekommt die Klasse eine Stunde Zeit, ihre Aufgaben unter Aufsicht bzw. mit Hilfe von drei Personen zu erledigen, um dann ganz entspannt in die Mittagspause zu gehen.

Online-Redaktion: Sie füllen den Begriff Bildungsgerechtigkeit mit Leben.

Schemel: Der Ansatz besteht darin, durch großen personellen Einsatz von vornherein Bildungsdefizite bei Kindern aufzufangen und individuelle Förderung zu ermöglichen. Deswegen haben wir auch jeden Tag eine Sonderpädagogin in der Schule. Ferner unterstützen wir durch unseren Förderverein einkommensschwache Familien finanziell, wenn es darum geht, Lernhilfen zu organisieren. Unterstützung gibt es auch für die Ski-Freizeit oder Projekte in den Ferien - denn die Feriengestaltung hat auch etwas mit Bildung zu tun. Der Förderverein ist dazu da, diesen Kindern solche Angebote zu ermöglichen. Wenn wir beispielsweise in die Pyrenäen fahren, um einen dreitausend Meter hohen Berg zu besteigen, können zwölf Kinder mitfahren - drei davon hätten nie das Geld dafür. Ähnliches gilt für das Erlernen eines Musikinstrumentes.

Online-Redaktion: Wie stellen Sie sich Ihre Schule in fünf Jahren vor?

Schemel: Nicht nur meine Schule, sondern viele andere werden in den nächsten fünf Jahren immer durchlässiger. Ich denke, dass durch ehrenamtliche tätige Bürgerinnen und Bürger die Schulen zunehmend unterstützt werden sollten. Das Potenzial älterer Bürger, die immer mehr werden, sollte man stärker nutzen. Das betrifft nicht zuletzt auch mich, wenn ich an die Zeit nach meiner Pensionierung denke (lacht).

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