Schweiz: Qualität des Ganztags in Zürich : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Bis zum Schuljahr 2031/2032 werden alle 99 Volksschulen in Zürich zu Tagesschulen. Prof. Dr. Frank Brückel von der Pädagogischen Hochschule Zürich hat mit seinem Team das Instrument „QuinTaS – Qualität in Tagesschulen“ entwickelt.

Online-Redaktion: Können deutsche Ganztagsschulen von Schweizer Tagesschulen lernen?
Dr. Frank Brückel: Es steht uns nicht zu, andere zu belehren. Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich grundsätzlich umschaut, ja sich ein Bild macht, wie andere arbeiten, warum sie etwas tun oder nicht tun. Das macht vor Landesgrenzen nicht halt. Eines weiß ich aus meiner Erfahrung mit Schulen aber ganz sicher: Es ist nie ratsam zu glauben, seinem Gegenüber zu sagen, wie er handeln müsse. Man kann immer nur Anregungen geben. Entscheidungen muss jeder selbst treffen, auch jede Schule.
Online-Redaktion: Einverstanden. Dann verraten Sie uns doch einmal, wie sich die Tagesschulen in Zürich aktuell entwickeln?
Brückel: Insgesamt hat Zürich 99 Schulen. Bei einer Volksabstimmung 2022 in der Stadt wurden die Einwohnerinnen und Einwohner gefragt, ob sie für die Umwandlung der städtischen Volksschulen, also der Schulen der Primarstufe und der Sekundarstufe I, in Tagesschulen sind oder nicht. Das Ergebnis war eindeutig: 82 Prozent sprachen sich dafür aus. Bei uns in der Schweiz ist ein solches Votum der Bürgerinnen und Bürger ein ganz starker Hebel. Die Politik muss das Ergebnis umsetzen. Bis heute wurde bereits ein Drittel unserer Schulen umgewandelt, alle anderen werden bis zum Schuljahr 2031/2032 folgen.

Online-Redaktion: Wie passt eine hundertprozentige Umwandlung zur Wahlfreiheit der Eltern in der liberalen Schweiz?
Brückel: Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick ins Detail. Unser Schulsystem sah bisher keine betreute Mittagszeit vor, wenn am Nachmittag noch Unterricht ist. Es gibt – grob gesprochen – Unterricht von 8 bis 12 Uhr, dann gehen die Kinder nach Hause und kommen anschließend noch einmal für den Unterricht bis 16 Uhr zurück. Anschließend können sie auch noch bis 18 Uhr bleiben und zusätzliche Angebote nutzen. Es geht also vor allem um die Mittagszeit. Die Gesellschaft hat sich verändert. knapp 90 Prozent aller 25 bis 39-jährigen Frauen in der Schweiz sind berufstätig. Daher benötigen die Familien ein Angebot über den ganzen Tag. Die Tagesschule ist eine Konsequenz daraus. Aber sie ist nicht verpflichtend. Das heißt, Eltern, die nach wie vor wollen, dass ihr Kind mittags nach Hause kommt, können es für diese Zeit abmelden.
Online-Redaktion: Gebundene und damit verpflichtende Ganztagsschulen sind demnach undenkbar?
Brückel: Richtig. Dafür würde es einer Gesetzesänderung bedürfen. Darum sind natürlich auch der Rhythmisierung gewisse Grenzen gesetzt. Unterricht darf schließlich nur stattfinden, wenn alle Schülerinnen und Schüler anwesend sind. Aber ich erlebe, dass sich die Schulen, die sich jetzt auf das Tagesschulmodell umstellen, die Zeit nach dem Unterricht, also bis 18 Uhr, mitdenken. Ich bin übrigens überzeugt, dass es nicht beim Ende um 18 Uhr bleiben wird. Der Bedarf an längeren Öffnungszeiten ist offensichtlich.

Online-Redaktion: Bei so viel Ganztag stellt sich automatisch die Frage, was ein guter Ganztag oder eine gute Tagesschule leisten sollte. Dafür haben Sie ein Instrument entwickelt: QuinTaS.
Brückel: Wir haben uns bereits vor mehr als einem Jahrzehnt vor dem Hintergrund des Bedarfes an mehr Tagesschulen gefragt, was der Mehrwert des Ganztags sein muss. Damals sind wir noch ein wenig blauäugig an die Sache herangegangen, haben vielleicht auch die Zielgruppe der Schülerinnen und Schüler zu wenig in den Blick genommen. Die Stadt Zürich startete im Schuljahr 2015/2016 eine Pilotphase mit sechs Schulen, die Tagesschulen werden wollten. Bei jedem Entwicklungsschritt stand als zentrale Frage darüber: Was ist eine gute Tagesschule?
Irgendwann landeten wir dann auch bei entwicklungspsychologischen Überlegungen. Wir wollten berücksichtigen, was Tagesschulen über die Vermittlung kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus leisten müssen. Dafür haben wir den Qualitätsrahmen „QuinTaS – Qualität in Tagesschulen entwickelt, einen leicht verständlichen und praxisnahen Fragenkatalog für Schulen. Er umfasst nach unserer Ansicht entscheidende Kriterien einer guten Tagesschule, von der Förderung der kognitiven Entwicklung über das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler, das Sozialverhalten, die körperliche Entwicklung bis zur Stärkung von Selbstwert und Selbstkonzept.

Wir schauen also nicht nur, ob es gelingt, Fachwissen zu vermitteln, sondern auch, ob die Schulen alle Aspekte im Blick haben. Der Qualitätsrahmen nimmt den ganzen Menschen in den Blick. Er soll nicht nur die Leistungen der Schülerinnen und Schüler evaluieren, sondern herauszufinden helfen, wie die Schule als Ganzes arbeitet. Er soll auch nicht nur Defizite aufzeigen, sondern eben auch, wo Schulen ihrer Einschätzung nach gut handeln. QuinTaS nimmt so etwas wie eine Ampelfunktion ein: Grün steht für „Das haben wir im Blick“. Rot würde bedeuten, „Das haben wir noch nicht im Blick.
Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel nennen?
Brückel: Nehmen wir einmal den Bereich „Subjektives Wohlfinden“. Darunter haben wir zum Beispiel folgende Fragen gebündelt: Beobachten wir, ob ein Kind körperliche Beschwerden hat? Beobachten wir, ob sich ein Kind anders verhält als sonst? Beobachten wir, wie sich die Kinder unter Gleichaltrigen bewegen? Tauschen wir uns unter den Kolleginnen und Kollegen über die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder aus? Tauschen wir uns darüber aus, wie gut die Kinder in ihrer Gruppe eingebunden sind? Holen wir uns, wenn wir bemerken, dass es einem Kind nicht gut geht und wir nicht weiterwissen, externen Rat von Fachpersonen?
Online-Redaktion: Wie gehen die Schulen mit den Ergebnissen um?

Brückel: Wichtig ist uns zunächst einmal, dass den Qualitätsrahmen alle an den Schulen beteiligten Professionen nutzen. Nur das ergibt ein ganzheitliches Bild. Die Fragen zeigen ja auch auf, was eine Schule alles leistet. Es wird aber auch Bereiche geben, in denen die Schulampel vielleicht Orange oder Rot zeigt. Dann sagen wir den Schulen nicht: „Da müsst ihr etwas machen.“ Das wäre nicht nachhaltig. Wir fragen stattdessen: „Seid ihr mit rot zufrieden?“
Die Schulen können sich immer an uns wenden. An unserer Hochschule haben wir drei Bereiche: die Lehrerausbildung, die Schulforschung sowie den Bereich Weiterbildung und Dienstleistung. Wir gehören mit fünf Personen zum Bereich Tagesschule. Wer Fragen zur Weiterentwicklung seiner Einrichtung hat, erhält von uns Antworten und Unterstützung, auch wenn es darum geht, Fachleute zu finden, die in einem Spezialgebiet helfen können.
Online-Redaktion: Ist die Nutzung von QuinTaS für die Schulen verpflichtend?
Brückel: Nein. Aber er ist inzwischen schon ziemlich verbreitet. Wir haben 800 Exemplare gedruckt, und die sind praktisch vergriffen. Wir bekommen Anfragen aus der gesamten Schweiz, aber auch aus Deutschland, besonders aus Baden-Württemberg. Der Schwerpunkt der Schulentwicklung von Tagesschulen liegt aktuell nach unserer Beobachtung bei der Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, beim wertschätzenden Umgang mit jeweils anderer Expertise.

Aber auch das Digitale spielt eine elementare Rolle. Dabei beschäftigen sich die Schulen nicht nur mit Fragen der Ausstattung, sondern auch, wie man den Schulalltag und seine Weiterentwicklung digitalisieren kann. Spannend ist die Idee, Schülerinnen und Schüler ihre Lieblingsorte in der Schule fotografieren oder filmen zu lassen. Das, was dabei herauskommt bringt die Kinder und Jugendlichen mit den Erwachsenen ins Gespräch. Zugleich zeigt es die digitalen Nutzungsmöglichkeiten auf und fördert die Partizipation – etwa bei der künftigen Gestaltung von Räumen.
Online-Redaktion: Warum ist die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler wichtig? Und wie können die Lernenden in den Entwicklungsprozess einer Tagesschule eingebunden werden?
Brückel: Wenn ich ein Qualitätsbewusstsein an einer Schule schaffen möchte, sollten sich alle an gemeinsam entwickelten und getragenen Zielen und Grundsätzen orientieren. Das Angebot einer Tagesschule muss altersgemäß, anregungsreich und entwicklungsfördernd sein – und das über den gesamten Tag. Wichtig ist, dass die Kinder und Jugendlichen ihren Interessen und Neigungen nachgehen können. Möchte ich das berücksichtigen, muss ich sie fragen.

Die häufigste Antwort lautet: Ich möchte mit meinen Freunden zusammen sein. Nimmt man das ernst, muss man ihnen neben der Möglichkeit, sich in verpflichtenden Angeboten zu bilden, auch dafür Raum geben. Sonst dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Schülerinnen und Schüler uns sagen: „Ihr redet von meiner Freizeit. Da aber soll ich tun, was ihr wollt.“ Kinder wollen sich in der Tagesschule wohlfühlen. Und grundsätzlich muss die Schule außerdem ihren Beitrag zur Demokratiebildung leisten. Denn wir wollen ja mündige Bürgerinnen und Bürger. Das aber muss man lernen und möglichst schon in der Schule.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Schulleitung und Schulmanagement
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