Johannsen: "Große Identifikation mit der Gemeinschaftsschule Handewitt" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Er gilt als einer der Väter der Gemeinschaftsschulen. Jetzt geht Dr. Hans-Werner Johannsen in den Ruhestand. Der Schulleiter war maßgeblich beteiligt, als im kleinen Ort Handewitt nahe Flensburg die Chance des "längeren gemeinsamen Lernens" ergriffen wurde.

Außenansicht der Gemeinschaftsschule Handewitt
Schuleingang © Gemeinschaftsschule Handewitt

Online-Redaktion: Erinnern Sie sich noch an jenen Tag im Sommer 2007, als die Genehmigung zur Einrichtung einer Gemeinschaftsschule kam?

Hans-Werner Johannsen: Na, das will ich wohl meinen. Diesen Tag wird in unserem 11.000 Einwohner zählenden Ort wahrscheinlich niemand vergessen. Es war ein ganz nüchternes Fax, das bei unserem Amtsvorsteher eintraf. Inhalt: Die Gemeinschaftsschule wird  genehmigt. Es löste Jubel und Aufbruchstimmung aus. Dafür hatten wir alle lange gekämpft. Endlich konnten wir die Gemeinschaftsschule in Ganztagsform umsetzen.

Online-Redaktion: Was haben Sie damals persönlich empfunden?

Johannsen: Ich war unglaublich glücklich und zufrieden. Zum einen freute ich mich, dass wir jetzt viel mehr Schülerinnen und Schülern als zuvor die Möglichkeit würden bieten können, in Handewitt eine weiterführende Schule zu besuchen, als es zuvor mit der Hauptschule möglich gewesen war. Bislang wanderte doch ein Großteil nach der Grundschule Richtung Flensburg zu den dortigen Real-, Gesamtschulen oder Gymnasien ab. Zum anderen aber war ich so glücklich, weil wir durch diese Form des längeren gemeinsamen Lernens endlich mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit ins Schulsystem bringen konnten.

Online-Redaktion: Haben sich Ihre Hoffnungen erfüllt?

Eine Gruppe von Schülern mit Spielsachen. Im Hintergrund vier Erwachsene.
Zweite Reihe, zweiter von links: Schulleiter Dr. Hans-Werner Johannsen © Gemeinschaftsschule Handewitt

Johannsen: Auf jeden Fall. Dass wir nicht mehr selektieren müssen, erfüllt mich mit großer Befriedigung. Allerdings kann ich alle nur warnen: Die Veränderung der Struktur allein garantiert noch keine besseren Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler. Das ermöglicht erst ein ausgefeiltes pädagogisches Konzept, in dem, wie bei uns, die Förderung des Einzelnen im Mittelpunkt stehen muss. Und es freut mich, dass es uns immer stärker gelingt, die Kinder hier im Ort zu halten. Waren es 2007 nur noch etwa 20 Prozent der Grundschüler, die nach dem vierten Schuljahr auf unsere einzige weiterführende (Haupt-)Schule wechselten, so bleiben heute bereits mehr als 60 Prozent. 2011 mussten wir erstmals Bewerbungen ablehnen, weil wir nicht ausreichend Plätze hatten.

Online-Redaktion: Wie wirkt sich das auf den Ort Handewitt aus?

Johannsen: Man spürt eine hohe Identifikation mit der Schule und dem Ort. Die Eltern sind unglaublich dankbar, dass ihren Kindern der doch weite Weg nach Flensburg erspart bleibt. Diese Atmosphäre überträgt sich nahtlos auf unsere Schule. Hier herrscht ein fast schon familiäres Klima. Was übrigens auch für mein Kollegium gilt. Ich glaube, alle sind auch dem damaligen Amtsvorsteher und jetzigem Bürgermeister, Dr. Arthur Christiansen, extrem dankbar und verbunden. Er hatte sich gegen alle Widerstände in den eigenen christdemokratischen Reihen nicht von der Idee der Gemeinschaftsschule abbringen lassen. Und der Schulträger hielt und hält die Schule ganz oben, unterstützt sie, wo und wann immer es erforderlich ist.

Online-Redaktion: Was bedeutet es für Sie persönlich, die Gemeinschaftsschule mit auf den Weg gebracht zu haben?

Zwei Schüler an einem Schreibtisch
Bruchrechnen © Gemeinschaftsschule Handewitt

Johannsen: Man muss sich das einmal vorstellen. Bis vor fünf Jahren kannte man in Deutschland Handewitt höchstens, weil die SG Flensburg-Handewitt in der Handball-Bundesliga eine bedeutende Rolle spielt oder weil die Menschen durch den Ort fahren, um zu den Nordseeinseln zu gelangen. Jetzt waren wir mit einem Schlag bekannt als einer der ersten deutschen Orte mit einer Gemeinschaftsschule, an deren Zustandekommen übrigens auch der Schulentwicklungsforscher Dr. Ernst Rösner mit seinem Gutachten für die Landesregierung Schleswig-Holstein einen wesentlichen Anteil hatte. Das war schon ein tolles Gefühl, zumal sich plötzlich regelmäßig Politiker und Bildungsexperten anmeldeten und einmal schauen wollten, wie das wohl funktioniert. Die Chance, eine solche Schule mit aufbauen zu können, war sicher die Krönung meiner Laufbahn.

Online-Redaktion: Was erleben neugierige Besucher, wenn sie bei Ihnen vorbeischauen?

Schüler und Lehrer mit zwei Motorrollern
Rollerkurs © Gemeinschaftsschule Handewitt

Johannsen: Sie erleben eine offene Schule mit offenen Lehrkräften und offenen Schülerinnen und Schülern. Sie erleben eine Schule, in der bis Klasse 8 gemeinsam unterrichtet und erst ab Klasse 9 differenziert wird. Sie erleben ein Kollegium, das höchsten Wert auf Fortbildung und Evaluation legt, das in Jahrgangsteams arbeitet und dafür sorgt, dass Erfahrungen weitergegeben werden. Und sie erleben eine Schule, in der bis zur Klasse 7 die viel aussagekräftigeren Berichtszeugnisse ausgegeben werden. Sie spüren die Einstellung, dass Leistungsstärkere wie -schwächere intensiv individuell gefördert werden müssen. Das geschieht etwa durch starke Binnendifferenzierung, aber auch durch spezielle Profilkurse. Da gibt es etwa den Mathe-Club für die etwas Schwächeren und den Kurs für Mathe-Asse. Es gibt den Englisch-Club for Beginners und jenen for Runners, den Leseclub, aber auch den Literaturclub.

Online-Redaktion: Jetzt mal bitte Hand aufs Herz: Können Kinder in heterogenen Klassen genauso gut gefördert werden wie in homogenen Klassen?

Johannsen: Ich gestehe: nicht unbedingt. Aber die Eltern, die sich hier für die Gemeinschaftsschule Handewitt entschieden haben, taten dies bewusst. Sie lehnen das frühe Selektieren ab, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Kind an einer Gemeinschaftsschule möglicherweise nicht ganz so optimal gefördert werden kann. Sie wissen, dass nur glückliche Kinder gut und gerne lernen. Aber ich möchte noch einen anderen Gedanken bzw. eine Überlegung einbringen: Gibt es überhaupt homogene Klassen? Sind die Schülerinnen und Schüler nicht von Natur aus höchst und ihrer Entwicklung - sowohl der geistigen als auch der sozialen - nicht so unterschiedlich, dass man von Homogenität gar nicht reden kann?

Online-Redaktion: Sie nennen Handewitt gerne ein Erfolgsmodell. Welche Rolle spielt für das Gelingen der offene Ganztag, ihre OGS?

Johannsen: Unser von einem Förderverein getragener Ganztag arbeitet mit hauptamtlichen Kräften und kann in jedem "Durchlauf" zwischen den Ferien über 50 verschiedene Kursangebote machen. Außerdem gibt es bei uns ab Klasse 7 für jeden Jahrgang an einem Tag auch verbindlichen Nachmittagsunterricht. Das dazwischen liegende Mittagsband wird auch von der OGS organisiert. Insgesamt ist er extrem wichtig, weil er garantiert, dass unsere Schule zum Lern- und Lebensort für die Kinder und Jugendlichen geworden ist. Wir sind deshalb schon zweimal ausgezeichnet worden und zählen zu den Referenzschulen in Schleswig-Holstein. Ich muss an dieser Stelle einmal sagen: Das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" war und ist eine fantastische Sache. Ohne es hätten wir das alles hier nicht geschafft.

Online-Redaktion: Sie verlassen nach diesem Schuljahr die Schule. Wie geht es mit der Gemeinschaftsschule im Jahr eins nach dem Abschied von Dr. Hans-Werner Johannsen weiter?

Johannsen: Genauso wie bisher. Es zeichnet unser Kollegium aus, dass hier nicht eine Person allein entscheidend ist. Wenn alle an einem Strang ziehen, sich alle gleichberechtigt und wertgeschätzt fühlen, wird diese Schule immer ein Mittelpunkt des Ortes bleiben und weiterhin auch für Schülerinnen und Schüler aus benachbarten Gemeinden attraktiv sein. Und ganz sicher wird dann auch in nicht mehr allzu weiter Ferne die gymnasiale Oberstufe realisiert werden können - zumal sich beim jüngsten Leistungsvergleich VERA zeigte, dass unsere Achtklässler in Mathe und Englisch genau im Landesdurchschnitt und im Hörverstehen Englisch sogar deutlich darüber liegen.

Online-Redaktion: Und wie geht es mit Ihnen persönlich weiter?

Eine Fensterfront von innen. Licht fällt von außen durch bemalte Fenster
Chagall-Fenster © Gemeinschaftsschule Handewitt

Johannsen: Ich werde zukünftig sicherlich mehr Zeit haben, ein gutes Buch, einen aktuellen Roman in die Hand zu nehmen und in einem Stück zu lesen. Ich bleibe weiterhin in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aktiv. Aber auch Reisen ist angesagt. Wir besuchen unsere älteste Tochter in den USA dann bestimmt häufiger. Außerdem sind meine Frau und ich Handball-Fans, wir versäumen kein Heimspiel der SG Flensburg-Handewitt. Was meine Schule anbelangt, kann ich mir vorstellen, in einem Beirat mitzuarbeiten und als "kritischer Freund" mit dem neuen Blick von außen weiterhin ein Stück aktiv zu bleiben. Aber eines muss klar sein: In das Tagesgeschäft werde ich mich nicht einmischen.

Zur Person:

Dr. Hans-Werner Johannsen wurde 1950 in Flensburg geboren. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter. Nach dem Abitur (1970) nahm er das Studium der Erziehungswissenschaft und für das Lehramt Grund- und Hauptschulen in Flensburg an der damaligen Pädagogischen Hochschule, jetzt Universität, auf. Seit 1973 ist der Diplompädagoge im Schuldienst aktiv. Seit 1990 ist er Schulleiter, bis 2007 an der Grund- und Hauptschule Weding, danach an der Gemeinschaftsschule Handewitt.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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