Interview mit Gerhard Koller: "Intelligent und unkonventionell" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Als Gerhard Koller vor mehr als zehn Jahren erstmals laut über die Abkehr von der Halbtagsschule nachdachte, erntete er nicht nur Beifall. Heute kann der einstige Leiter des Schulamtes in Forchheim feststellen: "Es hat sich viel getan in unserem Bundesland."

Online-Redaktion: Beim Ganztagskongress in Forchheim Anfang März wurden Sie gefeiert. Das war nicht immer so. Vor gut einem Jahrzehnt galten Sie als Revolutionär mit unglaublichen Vorstellungen. Welche Reaktionen schlugen Ihnen damals entgegen?

Gerhard Koller: Da war schon der ein oder andere böse Blick dabei. Eltern fragten voller Unverständnis, wozu man denn wohl eine Ganztagsschule brauche. In den Kollegien machte sich die Angst vor dem Abschied vom "Halbtagsjob" in der Schule breit. Dass der Ganztag nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert, sondern dass hinter ihm ein pädagogischer Gedanke steht, verstanden die wenigsten.

Online-Redaktion: Was hatte Sie überzeugt, dass Schule sich ändern müsse?

Koller: Ich habe mich viel im Ausland umgesehen und festgestellt: Fast überall geht es in der Schule entspannter zu. In Deutschland nehmen viele Lehrer nicht wahr, wodurch der Stress bedingt ist, unter dem sie leiden.

Online-Redaktion: Worunter leiden sie denn?

Koller: In der Halbtagsschule muss alles in den Vormittag gepackt werden. Es bleibt kaum Zeit für Abstimmungsprozesse - mit den Kollegen, aber auch mit Eltern und Schülern. Die Schüler kommen gerade in ländlichen Regionen, in denen sie häufig lange Fahrzeiten in Kauf nehmen müssen, schon müde zum Unterricht, weil der so früh anfängt. Im Ganztag könnte man darauf Rücksicht nehmen. Die Halbtagsschule ist häufig geprägt von Hektik und Stress, zumal die Pädagogen wissen, dass für sie ihre Arbeit noch nicht zu Ende ist, wenn sie mittags die Schule verlassen. Ein finnischer Kollege hat einmal zu mir gesagt: "Wenn bei euch die Lehrer mittags gehen, nehmen sie ihre Probleme doch mit nach Haus." Er hat Recht und das betrifft besonders die Frauen.

Online-Redaktion: Wie bitte?

Koller: Na schauen Sie einmal auf den Alltag der Pädagoginnen. Viele müssen morgens ihre Kinder versorgen, eventuell sogar zur Schule oder zur Kindertagesstätte bringen, dann selbst in den Unterricht hetzen, mittags nach Hause eilen, Mittagessen vorbereiten, Hausaufgaben der Kinder kontrollieren, das Kind zum Sportverein bringen, wieder abholen, einkaufen, Abendessen vorbereiten und dann, wenn die Kinder im Bett sind, heißt es sich vorzubereiten und Klassenarbeiten kontrollieren. Das kann auf Dauer nicht funktionieren,

Online-Redaktion: Da sind wir aber schnell bei der Frage, wie sich Ehepaare die Arbeit zuhause teilen.

Koller: Richtig, aber es ist leider häufig immer noch so, dass Männer besser bezahlt werden und es daher akzeptiert ist, dass sie die Arbeit in der Familie weitgehend den Frauen überlassen. Und manche glauben dann, Lehrerin sei die perfekte Tätigkeit für sie, schließlich handele es sich um einen Halbtags-Arbeitsplatz, und so könnten sie Privates und Berufliches gut vereinbaren. Oft ein Irrtum.

Online-Redaktion: Sie sprachen aber davon, dass Ganztag mehr ist als die Lösung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Was sagen sie Zweiflern?

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Koller: Es macht einfach viel mehr Sinn, die Unterrichtsstunden gezielt über den Tag zu verteilen. Man kann morgens später beginnen, am Vormittag zwei Blöcke mit zwei Doppelstunden, ausreichend Pausen, Entspannungs- und Spielmöglichkeiten planen und am Nachmittag nochmals eine Doppelstunde. Wenn Kinder gerne lernen und nicht nur durch den Vormittag gehetzt und sechs Stunden lang mit Wissen abgefüllt werden, wird das auch die Zufriedenheit der Lehrkräfte erhöhen. Natürlich gehören in einen solchen Schultag auch Förderzeiten und "Haus"aufgaben, die allerdings weitgehend in der Schule erledigt werden können.

Online-Redaktion: Plädieren Sie für eine ganztägige Anwesenheitspflicht der Lehrkräfte?

Koller: Diese Frage wird ja leider nirgendwo ernsthaft gestellt. Ich würde einen sanften Einstieg bevorzugen: Unterrichtszeit plus zwei Stunden. In Schweden müssen Lehrerinnen und Lehrer 35 Zeitstunden pro Woche in der Schule sein. Das hat, wie man mir berichtete, anfangs mächtig "gekracht". Inzwischen aber sind alle angesichts der spürbaren positiven Veränderungen und des besseren Klimas davon begeistert. Und keine Lehrkraft muss ja in der Ganztagsschule mehr Unterricht erteilen - nur die Anwesenheitszeit verändert sich.

Online-Redaktion: In den alten Bundesländern klagen viele Schüler und Eltern über den Stress, den das auf acht Jahre verkürzte Abitur zur Folge habe. Wie überzeugen Sie diese?

Koller: Nicht zuletzt die StEG-Studie hat offenbart, dass sich die Teilnahme am Ganztag positiv aufs Familienklima auswirken kann. Fängt die Schule später an, gibt es morgens Zeit für Gespräche in der Familie. Nach Ende des Schultags hat die Familie nichts oder nur mehr wenig mit Schule zu tun - auch nicht am Wochenende. Da wird Zeit gewonnen. Richtig ist, dass sich das Vereinsleben verändern muss. Der Vereins- und Breitensport, aber auch die kulturellen Angebote müssen ihren festen Platz im Ganztag finden.

Online-Redaktion: Schließen wir aus Ihren Worten, dass Sie für den gebundenen, sprich verpflichtenden Ganztag sind?

Koller: Ja. Aber ich plädiere für flexible Konzepte. Es muss Schulen möglich sein, das Ende des Schultags nach regionalen Notwendigkeiten festzulegen. Und Ganztag an Grundschulen darf ruhig auch anders gestaltet sein als an weiterführenden Schulen.
 
Online-Redaktion: Wo steht Bayern heute in der Ganztagsentwicklung?

Koller: Es ist schon viel passiert - auch dank der großen Investitionsbereitschaft. Ich beklage aber, dass die Entwicklung nicht schnell genug geht. Bislang nutzen in Bayern nur 10,5 Prozent der Schüler Ganztagsangebote. Wenn in den Köpfen aller ankommt, dass Ganztag keinen Bedarfscharakter hat, sondern, dass hier eine neue Schulform - die übrigens und bedauerlicherweise häufig immer noch mit der Gesamtschule verwechselt wird - entsteht, werden wir in den nächsten zehn Jahren viele neue Ganztagsschulen bekommen. Vorausgesetzt, man ist weiter bereit, soviel Geld auszugeben - und zwar intelligent. Wir brauchen es für unkonventionelle Lösungen, etwa für den Erhalt kleiner Schulen, für bauliche Veränderungen, den intensiven Dialog mit allen Beteiligten und für Fort- und Weiterbildung. 

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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