Im Gespräch: Uta Schiebold, Bücherwurm-Grundschule Grimma (Sachsen) : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Schulleiterinnen und Schulleiter der ersten "Ganztagsstunde" ziehen nach zehn Jahren Bilanz. Heute: Uta Schiebold, Bücherwurm-Grundschule Grimma (Sachsen).

Online-Redaktion: Frau Schiebold, als wir Sie 2007 besucht haben, zeigten Sie uns auch Ihre Stadt Grimma und berichteten von den Hochwasserschäden 2002. Nun ist Grimma in diesem Sommer wieder überflutet worden. Wie sehr litten Sie unter der Flut?

Uta Schiebold: Unser Schulgebäude war aufgrund der Lage auf einem Berg oberhalb der Mulde nicht direkt nicht gefährdet. Aber wir sind trotzdem betroffen: Eine Kollegin hat alles verloren, andere Kolleginnen sind teilweise geschädigt. Von unseren Kindern sind 100 Familien direkt betroffen, davon mussten viele in Ausweichwohnungen ziehen. Viele sind traumatisiert. Unser Kooperationspartner, die Segelsportschule, beispielsweise steht vor dem Nichts. Eine Woche lang fand überhaupt kein Unterricht, sondern nur eine Notbetreuung statt, weil wir Evakuierungsschule und Auszahlungsschule für die Flutgelder waren. Danach haben alle Kolleginnen das Thema natürlich aufgegriffen, auch um der Traumatisierung ein Stückchen entgegenzuwirken.

Unser jährliches Schulhoffest fand in abgespeckter Form statt, als Abschluss des durch die Robert-Bosch-Stiftung geförderten zweijährigen Projekts zur frühkindlichen musisch-künstlerisch-ästhetischen Erziehung „Kultur(T)Räume“ unter dem Motto “Bücherwürmer auf die Bühne“. Unser Anliegen war es, unseren Kindern und deren Familien ein wenig Abwechslung und Ablenkung von den Ereignissen und Erfahrungen mit dem Hochwasser zu geben. Unterstützt wurden wir von nicht betroffenen Eltern und dem Schulförderverein.

Online-Redaktion: Damals berichteten Sie über eine steigende Zahl von Schülerinnen und Schülern, die mit vielen sozialen Problemen zu kämpfen haben. Wie sieht es heute aus?

Schiebold: Der Trend hat sich teilweise verstärkt. Viele Kinder haben Sprachschwierigkeiten, und zwar ohne einen Migrationshintergrund. Über die Gründe haben wir uns natürlich Gedanken gemacht. Viele junge Familien leben isoliert. Die jetzigen Eltern waren noch selbst Schülerinnen und Schüler, als ihre Familien nach der Wende in Schwierigkeiten durch Arbeitslosigkeit und soziale Ängste gerieten. Sie selbst fanden keine Lehrstellen. Viele mussten das Gefühl bekommen, dass sie nicht gebraucht werden. Das eigene Erleben, dass nicht alles gehalten wurde, was versprochen wurde, man für Dinge plötzlich Eigenverantwortung übernehmen musste, überforderte viele junge Leute.

Wir haben natürlich auch intakte Familien, in denen die Kinder behütet aufwachsen und die gut auf die Schule vorbereitet sind. Aber die Kluft zwischen diesen Familien und denen, die in Unsicherheit leben, hat sich seit 2007 vergrößert.

Online-Redaktion: Wie meistern Sie diese Herausforderungen für Ihre pädagogische Arbeit?

Schiebold: Wir haben unser Schulprogramm fortgeschrieben und kaufen uns zum Beispiel über unsere Ganztagsmittel Unterstützung ein für die unterrichtsbegleitende Förderung. Daneben haben wir den Kontakt mit der Kinder- und Jugendhilfe intensiviert. Und in einem Modellversuch, den wir in einem sehr großen Kraftakt genehmigt bekamen, arbeitet eine Schulsozialarbeiterin im Haus. Im gesamten Landkreis gibt es nur vier Grundschulen, die an diesem Modellversuch teilnehmen. Einen Teil der Kosten übernimmt der Landkreis, einen Teil die Kommunen. Aber aufgrund der Flutschäden steht diese Finanzierung wohl leider wieder zur Disposition.

In Sachsen gibt es keine Schulsozialarbeit an Grundschulen, was ich für einen gravierenden Fehler halte. Im Prinzip müsste die Schulsozialarbeit schon in die Kitas, um schon dort den jungen Familien Hilfestellungen zu geben. Prävention ist wesentlich besser und auch kostengünstiger als spätere soziale Maßnahmen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Hier muss dringend ein Umdenken stattfinden: Bildung und Soziales müssen vernetzt werden. Von uns an der Basis wird ständig mehr Kooperation erwartet, Vernetzung hier, Zusammenarbeit da. Das vermisse ich in den politischen Chefetagen. Einiges scheitert schon an den Zuständigkeiten durch unterschiedliche Ministerien.

Online-Redaktion: 2007 gingen 138 Schülerinnen und Schüler in die Bücherwurm-Grundschule. Mit dem demografischen Wandel wird es wohl keine Zunahme gegeben haben.

Schiebold: Doch! Allerdings ist dafür unsere Schulfusion im Jahr 2009 verantwortlich. Eine Städtische Grundschule ist zu uns gekommen, sodass wir nun auf 300 Kinder gewachsen sind, die ganztags von sechs bis 18 Uhr betreut werden. Derzeit haben wir drei- bis fünfzügige Jahrgänge. Die Kehrseite sind die nun beengten räumlichen Verhältnisse. Ohne Fusion – darauf deuten die Daten an anderen Grundschulen im Landkreis hin – wären unsere Schülerzahlen aber zumindest konstant geblieben.

Online-Redaktion: Der Zustand Ihres Schulgebäudes war 2007 sichtbar schlecht. Das hat sich offenbar geändert.

Schiebold: Wir haben zunächst mal eine phantastische Zweifeld-Turnhalle erhalten, die ein Traum ist und auch mit einer wunderschönen Feier eröffnet wurde. Dann bekamen wir ein sehr schönes Freispielgelände, das inzwischen leider für unsere 300 Schülerinnen und Schüler viel zu klein ist. Aber am wichtigsten: Unsere Schule ist komplett saniert worden, Computer-Kabinett inklusive. Sie macht jetzt einen einladenden Eindruck. Für unsere Kinder ist das richtig schön.

Online-Redaktion: Und die Personalsituation? Vor sechs Jahren kritisierten Sie, man „fahre auf Verschleiß“…

Schiebold: Das ist so geblieben und schlimmer. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In fast jeder Klasse lernen inzwischen ein bis zwei Integrationskinder. Die Rahmenbedingungen für diese Inklusion sind aber schlecht: Von den fünf festgeschriebenen Förderstunden, die uns pro Kind eigentlich zustehen, bleiben uns, wenn überhaupt, eineinhalb Stunden. Anträge und Gutachten dauern ewig, bis Integrationsbescheide endlich bewilligt werden, und der gesamte Verwaltungsaufwand frisst noch mehr Zeit als früher.

Online-Redaktion: Was ist aus den Plänen geworden, mit den außerschulischen Partnern eine besser rhythmisierte Schulwoche zu gestalten?

Schiebold: Das war aufgrund häufiger personeller Wechsel schwierig, dann kam die Fusion. Wir haben eine Steuergruppe gebildet, um das Zusammenwachsen der beiden Schulen zu gestalten. Das Schulprogramm wurde unter Beteiligung eines Prozessmoderators gemeinsam mit den Hortnerinnen und den Kooperationspartnern umgeschrieben.

Der Kreis der Kooperationspartner hat sich in den letzten Jahren ständig erweitert, nicht zuletzt mit den Integrationskindern. Wir möchten, dass auch Kinder, deren Familien es sich sonst nicht leisten könnten, zum Beispiel Gesellschaftstanz, Segeln oder Tennisspielen lernen können. Angebote, die normalerweise viel Geld kosten. Einmal in der Woche kommen eine Logopädin und eine Ergotherapeutin. Eine Sportwissenschaftlerin bietet Yoga und Rückenschule an. Es gibt eine sehr gute Schach-AG, die Musikschule ist im Haus, ebenso ein Theaterpädagoge. Wir haben für alle Kinder ein Theateranrecht.

Online-Redaktion: Welche Erfahrungen der letzten Jahre waren noch positiv?

Schiebold: Auf alle Fälle die gelungene Fusion. Die Kollegien sind gut zusammengewachsen. Hier sind Lehrerinnen und Erzieherinnen zu uns gestoßen, die inhaltlich sehr gut arbeiten und uns mit neuen Impulsen weiterbringen. Den Schülerinnen und Schülern sind derweil keine Nachteile aus der Fusion erwachsen. Zwar haben sich Schulwege verlängert, aber es sind Busse mit Schulbegleitern eingesetzt worden, für die die Eltern nichts bezahlen müssen.

Online-Redaktion: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Schiebold: Auf unsere Homepage, die wir mit GTA-Mitteln finanziert haben und bei der wir die Schülerinnen und Schüler einbeziehen. Stolz macht mich auch, dass unsere Schule einen guten Ruf hat. Auch Eltern aus anderen Schulbezirken wollen ihre Kinder bei uns anmelden.

Online-Redaktion: Was planen Sie für die nähere Zukunft?

Schiebold: Meine Kolleginnen wissen von ihrem Glück noch nichts, aber wir wollen uns in Richtung Kulturschule entwickeln, nachdem wir im Programm "Kultur(t)räume - Frühkindliche Bildung kreativ" sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Natürlich braucht es etwas Zeit und Bereitschaft aller, um diese Weiterentwicklung anzugehen. Manchmal muss man als Schulleiterin auch erst einmal mit dem Kollegium eine Verschnaufpause einlegen, ehe man öffentlich über neue Projekte nachdenkt. Schon jetzt nehmen wir alle zwei Jahre an einem überregionalen Theaterfestival teil, überaus erfolgreich. Geplant ist es, dass wir uns in den nächsten zwei Schuljahren Theaterpädagogen und die Sächsische Bläserakademie einkaufen. Die Stadt Grimma unterstützt uns dabei sehr gut.

 

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