Im Gespräch: Helmut Wagner, Lenneberg-Schule (Rheinland-Pfalz) : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Schulleiterinnen und Schulleiter der ersten „Ganztagsstunde“ ziehen nach zehn Jahren Bilanz. Heute: Lenneberg-Schule in Rheinland-Pfalz.

Online-Redaktion: Man darf Ihre Schule und Sie getrost als Vorreiter der Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz bezeichnen. Erinnern Sie sich noch an die ersten Monate?

Helmut Wagner: Ja, noch sehr gut, die erste Zeit war geprägt von Vorbereitungen, Angespanntheit, Erwartungen und großer Hoffnung auf eine positive Veränderung im Leben vieler unserer Schülerinnen und Schüler. Viele unserer "Schützlinge" waren "Schlüsselkinder", sprich Kinder deren Eltern nicht zuhause waren, wenn sie mittags aus der Schule kamen. Bei uns sollten und bekamen sie jetzt eine warme Mahlzeit, Bildung und Betreuung.

Online-Redaktion: Die Einführung des Ganztags war eine große Veränderung für Sie, die Eltern, aber auch Ihr Kollegium. Waren alle immer Feuer und Flamme?

Wagner: Die entscheidende Abstimmung in der damaligen Gesamtkonferenz war eindeutig:
ca. 45 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen. Damit war die erste entscheidende Weiche gestellt. Die Elternschaft war begeistert.

Online-Redaktion: Was würden Sie mit der Erfahrung von zehn Jahren im Nachhinein anders machen?

Wagner: Grundsätzlich bedauere ich, dass die Ganztagsschule bei uns nur ein "Additivum" darstellt – morgens "normaler" Unterricht, nachmittags Ganztagsangebot.  Pädagogisch wesentlich sinnvoller wäre eine Ganztagsschule für alle Schülerinnen und Schüler. Dies würde sich positiv auf die Stundenplangestaltung auswirken. Der Vormittag könnte zusammen mit dem Nachmittagsangebot wesentlich flexibler gestaltet werden. Wir hatten anfänglich mehr Arbeitsgemeinschaften im Nachmittagsprogramm. Jetzt gibt es noch immer ein freies AG-Angebot, jedoch kommen verstärkt Unterrichtsergänzende Fördern- und Fordern-Angebote (FöFo) hinzu.

Online-Redaktion: Welche Hürden mussten Sie überwinden?

Wagner: Ein Problem waren (und sind) gelegentlich außerschulische Nachmittagskräfte, die pädagogisch und didaktisch nach einiger Zeit feststellen, dass sie mit der Situation überfordert sind. Ein weiteres Problem war vor einigen Jahren das Mittagessen eines Caterers –  sowohl die Qualität als auch die Quantität stimmte nicht. Inzwischen ist auch dies "vom Tisch".

Wir hatten oft unsere Aufnahmekapazitäten völlig erschöpft. Kinder von Eltern, die dann im Laufe des Schuljahres zur Ganztagsschule nachgemeldet wurden, konnten nur bedingt aufgenommen werden.

Online-Redaktion: Was hat Sie positiv überrascht?

Wagner: Die enorme Nachfrage nach dem Angebot ab 12 bzw. 13 Uhr hat mich schon  erstaunt. Nie hätte ich gedacht, dass wir anfänglich bereits über 100 Ganztagsschülerinnen und -schüler haben würden. Derzeit nehmen sogar 180 von 600 Schülerinnen und Schülern das Nachmittagsprogramm in Anspruch.

Online-Redaktion: Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche nicht?

Wagner: Die erste Erwartung, dass wir unseren Schutzbefohlenen in einer familiären Umgebung bis 16 Uhr ein schulisches Zuhause bieten, hat sich erfüllt. Es war beziehungsweise ist  nur sehr schwierig festzustellen, ob sich in der nachmittäglichen Lernumgebung die Leistungen der Schülerinnen und Schüler dauerhaft und nachhaltig verbessern.

Online-Redaktion: Die Erwartungen und Ansprüche an Schule haben sich in den vergangenen Jahren verändert und erhöht. Wie werden Sie dem gerecht?

Wagner: Die Erwartungen der Eltern an die Schule insgesamt sind auf das erfolgreiche Erreichen der gewünschten Schulabschlüsse gerichtet. Es wird erwartet, dass die Schule alles unternimmt, dass die Schülerinnen und Schüler den – oft nur von den Eltern – angestrebten Schulabschluss bekommen.

In Bezug auf die Ganztagsschule wird erwartet, dass die Kinder und Jugendlichen a) alle Hausaufgaben in der Schule erledigt haben, wenn sie nach Hause kommen, und b) sich die schulischen Leistungen durch die Ganztagsschule insgesamt verbessern. Es ist schwer, beiden Ansprüchen immer gerecht zu werden. Was seitens der Eltern und Schüler und damit auch der Lehrpersonen gelegentlich zu Irritationen und Enttäuschungen führt.

Online-Redaktion: Im damaligen Interview für www.ganztagsschulen.org haben Sie gesagt, als Schulleiter müsse man Pädagoge, Organisator, Schlichter, Psychologe und Seelsorger sein. Sehen Sie das heute ebenso, oder haben sich Schwerpunkte herauskristallisiert?

Wagner: Ich sehe das heute noch genauso, wobei ich den Pädagogen und Psychologen noch stärker in den Fokus rücke. Immer mehr Schülerinnen und Schüler kommen aus Familien, in denen die Zeit fehlt, Probleme angemessen aufzuarbeiten und schulische Anforderungen in Ruhe zu besprechen. Hier wird immer mehr Erziehung und familiäre Auseinandersetzung auf die Schule verlagert.

Online-Redaktion: Was ist aktuell Ihre größte Herausforderung?

Wagner: Die Lehrerinnen und Lehrer in unseren Grund- und Realschulen haben täglich damit zu kämpfen, einigen Schülern eine Richtung zu weisen und die Jugendlichen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Beide Schulformen tragen die Hauptlast, wenn es darum geht, junge Menschen so zu sozialisieren, dass sie mündige Bürger werden, die unsere Demokratie als die bessere Alternative sehen.

Die Ansprüche an die Berufswelt werden ständig anspruchsvoller und verlangen den flexiblen, mitdenkenden Menschen. Das ist von der Schule alleine nicht zu leisten; hier ist die oft fehlende Mitarbeit der Eltern gefragt. Um optimale Bedingungen in den Schulen zu schaffen, müsste vor diesem Hintergrund dringend eine personelle Aufstockung erfolgen. Eine Lehrperson ist mit dieser Fülle an Erwartungen und Problembewältigungen gänzlich überfordert – und nie dafür ausgebildet worden! Hierin sehe ich eine der größten Aufgaben, die bereits jetzt, aber verstärkt auch in Zukunft auf die Schulen zukommen.

Online-Redaktion: Wie soll für Sie die Ganztagsschule der Zukunft aussehen?

Wagner: Sie ist voll rhythmisiert, das heißt, der Vormittag wird entzerrt, sodass sinnvolle Angebote an beiden Tageshälften unterbreitet werden können.

Das Bildungsministerium stellt genügend qualifizierte Lehr- und Fachkräfte bereit, die den Nachmittag  bestreiten. Das bedeutet nicht, dass außerschulische Institutionen wie Vereine und Verbände nicht eingebunden werden! Die Schulträger stellen alle Mittel bereit, um schülergerecht und motivierend optimal arbeiten zu können.

Die Gesellschaft ist sensibilisiert, welche enormen Anstrengungen Lehrerinnen und Lehrer täglich unternehmen, um die Heranwachsenden erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren, besonders auch am Nachmittag.


 

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