Die Vielfalt im G8-Gymnasium gestalten : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Rostock-Evershagen ist ein sozial gemischtes Stadtviertel, in dem die Vielfalt den Normalfall darstellt. Schulleiter Gerald Tuschner und seinem Kollegium ist es nicht nur gelungen, die "Wende" 1990 und 1991 zu meistern.

Gerald Tuschner
Schulleiter Gerald Tuschner

Online-Redaktion: Wie sieht ein normaler Tag an Ihrer Schule aus?

Tuschner: Wenn ich morgens um acht Uhr in die Schule komme, haben mich bereits viele Informationen in der Schule erreicht, um die ich mich gleich kümmere. Es gibt Anfragen von Eltern, Krankmeldungen von Kollegen oder Anfragen der Schulaufsicht. Danach checke ich meine E-Mails. Sie geben vor, welchen Dingen ich mich vordringlich zuwende.

Ich bin als Schulleiter weiterhin auch Lehrer und gebe Physikunterricht. Der Unterricht wird bei uns in 90-Minuten-Einheiten erteilt. Während dieser Zeit bin ich ganz für meine Schülerinnen und Schüler da. Im Laufe eines Tages höre ich auch vielen Lehrerinnen und Lehrern zu und helfe ihnen, Probleme zu lösen. Darüber hinaus unterstütze ich die Eltern, damit sie sich ein Stück weit in der Schule zurechtfinden. Das heißt: Die Beratungstätigkeit nimmt einen breiten Raum ein.

Wenn die meisten um 16:00 Uhr die Schule verlassen, beginnt die Zeit, in der ich an Konzepten arbeiten kann: eine Phase, in der ich Ruhe habe, um an grundsätzlichen Dingen zu arbeiten. In diese Zeit fallen auch die Gespräche mit der Schulaufsicht oder weitere Korrespondenzen, sodass es häufig 18 Uhr wird, bis ich die Schule verlasse.

Online-Redaktion: Wie ist Ihr Selbstverständnis als Schulleiter?

Tuschner: Neben meiner Aufgabe als Lehrer, der ich gerne nachgehe, sehe ich mich als Zuhörer, Motivator und nicht zuletzt als Entscheider. Ich bin jemand, der Dinge anschubst, Ideen entwickelt und aufgreift, aber sich auch Zeit lässt, damit sich die Ideen umso nachhaltiger realisieren lassen.

Online-Redaktion: Wie sind Sie Schulleiter geworden?

Tuschner: Ich bin im Zuge der Umstrukturierung des Bildungssystems in Mecklenburg-Vorpommern im Schuljahr 1990/91 Schulleiter geworden. Zuvor habe ich eineinhalb Jahre als Lehrer gearbeitet und war im Bezirkspersonalrat tätig. Dort lernte ich viele Kollegen kennen, die sich für das Berufsbild des Schulleiters interessierten. Mir wurde in den Gesprächen klar, dass mich das auch reizt.

Der Zufall spielte mir in die Hände. Da an meiner jetzigen Schule keine Bewerbungen auf die Stelle als Schulleiter vorlagen, habe ich mir Mut gemacht, in dem ich mir sagte, dass ich als Schulleiter mehr für die Schülerinnen und Schüler bewegen kann.

Meiner Meinung nach kann man als Schulleiter besser darin mitwirken, einer Schule in Kooperation mit anderen eine eigene Richtung zu geben. Für meine Ideen hatte ich seinerzeit das Kollegium im Rücken. Wir setzten uns nach der Wende gemeinsam das Ziel, aus der Erweiterten Oberschule die Schulform Gymnasium zu entwickeln.

Online-Redaktion: Wo liegen denn die wesentlichen Unterschiede zwischen der erweiterten Oberschule (EOS) und dem Gymnasium?

Tuschner: Die Erweiterte Oberschule umfasste die Jahrgangsstufen neun bis zwölf. Die Schülerinnen und Schüler, die nach der Klasse Acht ausgesucht wurden, waren handverlesen. Sie waren die Leistungsbesten, allerdings spielten gelegentlich auch politische Motivationen eine Rolle für ihre Aufnahme in die EOS. Es gab darüber hinaus Schüler, die Berufsoffiziere werden wollten und deswegen in die EOS aufgenommen wurden. In der EOS wurde dann vier Jahre konzentriert auf das Abitur hin gearbeitet.

Das Gymnasium war für uns etwas ganz Neues, da die Schülerinnen und Schüler dieses bereits ab Klasse fünf besuchen. Allerdings haben wir zunächst mit althergebrachten Methoden unterrichtet, bis wir gemerkt haben, dass wir den Unterricht umstellen und uns mit anderen methodischen und didaktischen Ansätzen beschäftigen müssen. Dabei haben uns die Referendare sehr geholfen, da sie ihre Erfahrungen in die Schule eingebracht haben.

Viele Jahre, bevor die gesellschaftliche Diskussion um die Ganztagsschulen aufgenommen wurde, haben wir uns die Aufgabe gesetzt, eine gute Schule zu machen. Dafür haben wir nach der Wende alles abgelegt, was mit bestimmten DDR-Traditionen, wie Pionierarbeit, FDJ-Arbeit, zu tun hatte. Unser Credo lautete: Wir wollen und dürfen den Eltern nicht die Erziehungsarbeit abnehmen, aber wir müssen sie unterstützen. Dieses Ziel können wir nur erreichen, in dem wir den Kindern mehr und bessere Angebote machen. So kam die Idee auf, den Nachmittagsbereich als Additivum auf den Unterricht draufzusetzen.

Wir starteten damals die Form der so genannten Offenen Ganztagsschule. Viele gute Ideen von engagierten Kolleginnen und Kollegen sowie vieler begeisterter Eltern und Schüler haben uns dabei geholfen. Den Schwerpunkt der Ganztagsschule haben wir auf die sportliche Förderung gelegt, da die Sportvereine in einem größeren Umfang dazu bereit waren, unsere Schule zu unterstützen. Wir wollten allerdings kein Sportgymnasium werden, sondern den Kindern Sport- und Bewegungsmöglichkeiten anzubieten.
"Machen Sie eine typische Handbewegung": Das Telefon ist auch für Gerald Tuschner ein unverzichtbares Kommunikationsinstrument

Online-Redaktion: Wie ging es dann weiter und welche Rolle spielten die Eltern?

Tuschner: Der nächste Schritt ergab sich aus dem ersten, sodass wir bald die teilweise gebundene Ganztagsschule angestrebt haben. Das entsprach nicht zuletzt den Interessen der Eltern, denen daran gelegen war, dass ihre Kinder auch am Nachmittag betreut werden. Ganztagsschule geschieht allerdings nicht nur am Nachmittag, sondern auch am Vormittag.

Vor zwei Jahren änderten sich mit der Einführung des G8-Gymnasiums wiederum die Vorzeichen der Ganztagsschule. Mit G8 sind für die Oberstufe viele zusätzliche Wochenstundenzahlen verbunden. Mit anderen Worten: 34 bis 36 Wochenstunden kamen auf die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte zu.

Von diesen zusätzlichen Wochenstunden ist die gesamte Schule betroffen, da die Lehrkräfte schließlich in allen Klassenstufen unterrichten. Deshalb haben wir uns mit der Schulkonferenz zusammengesetzt und beschlossen, unsere Schule grundlegend auf die Rhythmisierung des Tagesablaufes umzustellen. Das bedeutete 90-Minuten-Einheiten, fest integrierte Pausenzeiten und feste Mittagessenszeiten sowie die Ganztagsangebote zu strukturieren.

Mit dem Schritt hin zur gebundenen Form der Ganztagsschule und der Integration aller Angebote in den gesamten Schultag hat sich eine völlig neue Art des Miteinanderumgehens und des Unterrichtes entwickelt. Mit der Einführung der 90-Minuten-Einheiten kann ein Lehrer nicht mehr alleine auf den Frontalunterricht setzen. Ebensowenig kann er nur offenen Unterricht pflegen.

Obwohl uns die Umstellung im Ganzen besehen gut gelungen ist, gilt es an einigen Stellen nachzubessern. Es wäre Unsinn zu erzählen, dass wir perfekt sind. Für mich als Schulleiter war klar, dass unsere Schule ein Ganztagsschulprofil braucht. Wir verstehen unser Angebot dementsprechend als eine Ganztagsausbildung.

Dazu gehört, dass sich die Schülerinnen und Schüler in Videokursen, Fernsehproduktionen beim Offenen Kanal, in der Bildbearbeitung oder auch im Tanzen ausprobieren. Wenn ein großer Schüler einen kleinen anleitet, ist dies auch Bestandteil der Ausbildung, die nicht nur Fachliches beinhaltet, sondern auch menschliche Bildung in Gestalt sozialer Kompetenzen. 

Online-Redaktion: Gab es Probleme beim Übergang von der Orientierungsstufe auf das Gymnasium?

Tuschner: Der Übergang in das Gymnasium ab Klasse Sieben brachte neue Herausforderungen. Die Schülerinnen und Schüler waren es aus der Primarstufe und der Orientierungsphase gewohnt, in Gruppen- oder Partnerarbeit selbstständig zu arbeiten, ferner mit Wochenplänen, Werkstattarbeit zu lernen. Wir sahen uns gezwungen dies aufzugreifen, wenn wir sie auf der Ebene der Handlungskompetenz nicht unterfordern wollen.

Neu für die Lehrkräfte war auch die Feedbackkultur, die die Kinder mitbringen. Da gibt es für die Gymnasiallehrer noch einiges zu lernen. Fachlich bekommen wir das schon hin. Aber methodisch müssen wir uns noch anstrengen, denn die Kinder sind voller Tatendrang. Und den sollten wir nutzen - oder?

Online-Redaktion: Wie gestalten Sie Heterogenität und Vielfalt an Ihrer Schule?

Tuschner: Heterogenität sind wir gewohnt. In keiner Phase des Gymnasiums haben wir homogene Gruppen gehabt, schließlich ist das Leistungsspektrum groß. Dies trifft auch auf die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler in Rostock-Evershagen zu, wo es noch keine relevante soziale Entmischung gibt.

Allerdings ist mit 15 Prozent der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei uns relativ gering, sodass wir keine Mühe haben, in dieser Hinsicht Integration durch Binnen- oder Gruppendifferenzierung einzulösen. Heterogenität bedeutet daher, dass das Leistungsniveau sehr unterschiedlich ist - und dies ändert sich auch bis zum Abitur nicht.

Online-Redaktion: Ist das G8-Gymnasium eine Überforderung für Kinder und Jugendliche?

Tuschner: Unabhängig von G8 oder G9 ist das Gymnasium für einige Schülerinnen und Schüler sicherlich eine Überforderung. Da ausschließlich der Elternwille entscheidet, ob das Kind auf das Gymnasium geht, geraten die Kinder häufig unter starken Druck. Dabei ist die Übergangsprüfung von Jahrgang zehn zur elf noch recht moderat, sodass sie von fast allen Schülerinnen und Schüler bestanden wird.

Die Probleme beginnen erst in der Oberstufe und zwar nicht zuletzt deswegen, weil viele Schülerinnen und Schüler nicht genau wissen, warum sie dort sitzen. Manchmal sind die Eltern nach zwei bis drei Jahren Gymnasium bereit, ihre Wahl zu ändern, weil sie erkennen, dass ihr Kind im gymnasialen Zweig nicht glücklich wird oder dort mit den Leistungsanforderungen nicht zurecht kommt.

Das ist allerdings noch keine Folge von G8. Das G8 wirkt sich ab Klasse elf durch das knallharte Kurssystem aus, das in vier Kurshalbjahre gegliedert ist und bis zu 36 Wochenstunden beinhaltet. Hier beginnen für viele Schülerinnen und Schüler die wirklichen Probleme.

Allerdings bin ich der Meinung, dass sie auch Einsatz zeigen müssen, wenn sie den höchsten deutschen Schulabschluss erwerben möchten. Das Abitur soll schließlich nicht verschenkt werden. Wir wollen auch nicht, dass die Schülerinnen und Schüler im späteren Studium ewig studieren, sondern sich realistische Ziele setzen.

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