Deutscher Schulpreis 2011: Interview mit dem Hauptpreisträger  : Datum: Autor: Autor/in: Inge Michels

Vor einem Jahr fieberte der Schulleiter der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule, Wolfgang Vogelsaenger, der Entscheidung entgegen. Schließlich reckte er jubelnd die Arme nach oben: Hauptpreisträger!

Portraätfoto von Schulleiter Wolfgang Vogelsaenger
Schulleiter Wolfgang Vogelsaenger © Robert Bosch Stiftung, Fotograf Theo Barth

Online-Redaktion:  Herr Vogelsaenger, Sie sind Schulleiter einer der bekanntesten Gesamtschulen Deutschlands. Warum haben Sie sich damals für den deutschen Schulpreis beworben - brauchten Sie noch einen Beleg  für die Qualität Ihrer Arbeit?

Wolfgang Vogelsaenger: Zu unserem Schulkonzept gehört, dass wir viel Zeit in die persönliche Entwicklung, in die Lernfreude und Begleitung unserer Schüler stecken. Dafür brauchen wir die Zeit, die uns der Ganztag und die neun Jahre bis zum Abi geben.  Diese Zeit will man uns mit dem Streichen des 13. Schuljahres nehmen. Als unser Widerstand dagegen und unser Wunsch nach einer Ausnahmeregelung nichts gebracht hatten, haben wir uns vor allem deshalb entschieden, uns für den Deutschen Schulpreis zu bewerben. Wir erhofften uns von einer möglichen Nominierung Rückenwind für unser Anliegen.

Online-Redaktion: Und? Ist Ihre Strategie aufgegangen?     

Vogelsaenger: Leider nicht. Wir bangen immer noch. Uns das 13. Schuljahr zu nehmen, wäre fatal für unser pädagogisches Konzept.

Online-Redaktion: Können Sie Ihr Konzept kurz umreißen?

Vogelsaenger: Am anschaulichsten gelingt dies, wenn ich unser Tischgruppenmodell  beschreibe. Das ist der Kern unserer Lernarbeit. Sechs Kinder einer Klasse gehören zu einer Tischgruppe, die mindestens ein halbes Jahr lang zusammenbleibt. In den Integrationsklassen sitzen so an jedem Tisch  ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf und ein Kind mit Hauptschulempfehlung. Weiter arbeiten in jeder Tischgruppe zwei Kinder mit Realschul- und drei mit Gymnasialempfehlung. Weiter achten wir auf eine gute Mischung unterschiedlicher sozialer Milieus und auf die Jungen-Mädchen-Relation...

Online-Redaktion: Eine Zwischenfrage: In diesem Jahr steht die Preisvergabe unter dem Fokus "Umgang mit Vielfalt". Was Sie beschreiben, klingt nach "Umgang mit Vielfalt" par excellence.

Vogelsaenger:  Das sehe ich genauso. Wir arbeiten mit dem Gegenteil  von homogenen Lerngruppen. Wir wollen in der Schule und an jeder einzelnen Tischgruppe die gesellschaftliche Realität abbilden. Um es auf den Punkt zu bringen: Bei uns lernt der spätere Maurer mit dem späteren Architekten gemeinsam zu arbeiten und umgekehrt. Zu unserem Konzept gehört auch, dass bis zur Mitte der 8. Klasse keinen Noten vergeben werden und es grundsätzlich keine feste Rhythmisierung des Unterrichts gibt. Bei uns läutet keine Klingel. Was jeden Tag im Detail und wie intensiv gelernt wird, entscheiden die Lehrer.  Das funktioniert, weil wir mit möglichst wenigen Lehrern, die jeweils eine breite Fachkompetenz besitzen, in die einzelnen Klassen gehen. Die sprechen sich dann untereinander ab. 

Schüler auf einem Schulhof beim Spielen
Schülerinnen und Schüler der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule © Robert Bosch Stiftung, Fotograf Theo Barth

Online-Redaktion: 2010 kam die beste Abiturientin aus Ihrer Schule, ihre Schule bringt mit die besten Abschlüsse aller Gesamtschulen in Niedersachsen  hervor, Ihre gymnasiale Oberstufe gehört zu den besten in Niedersachsen inklusive der der Gymnasien...

Vogelsaenger: ...eben, geht doch! Ich halte überhaupt nichts von zentralen Prüfungen, aber in unserem Fall ist es natürlich hilfreich, dass die Politik unsere Erfolge beziffern kann. Vielfalt ist überhaupt kein Argument gegen Leistungsspitze.

Online-Redaktion: Was sagen die Eltern?

Vogelsaenger: Die rennen uns die Türen ein. Ebenso wie die Besuchergruppen aus dem In- und Ausland. Österreicher etwa sind sehr interessiert an unserer Arbeit, ebenso Engländer. Eines ist übrigens ganz spannend: Wir hatten unlängst eine Besuchergruppe aus den Niederlanden bei uns. Die haben erzählt, dass sie vor dreißig Jahren schon mal da waren und dann das Tischgruppenmodell bei sich eingeführt haben. Diesmal wollen sie die Tischgruppenabende  "mitnehmen".

Online-Redaktion: Was sind das für Abende?

Vogelsaenger: Viermal im Jahr lädt ein  Kind  jeder Tischgruppe die beiden Lehrer und die Mitschüler der Gruppe mit ihren Eltern zu sich nach Hause ein. Da werden dann in kleinen Experimenten, Referaten oder anderen Demonstrationen vor allem den Eltern die aktuellen Arbeitsschwerpunkte der Gruppe erläutert. Alle angefallenen Probleme und Missverständnisse können besprochen werden. Hier treffen sich dann auch die Lehrer mit den Eltern außerhalb der Schule, unabdingbar für die Pflege eines vertrauensvollen Verhältnisses. Es ist ganz wichtig, dass im echten wie im übertragenen Sinne alle, die mit dem Aufwachsen eines Kindes betraut sind, an einem Tisch sitzen. Und da gehören Eltern und Lehrer nun mal dazu. Dann kann man Probleme aufgreifen und klären, bevor sie eine schwer einzuholende Eigendynamik entwickeln; gerade in den stürmischen Entwicklungsjahren.

Online-Redaktion: Ihr Anliegen in einem Satz?

Vogelsaenger: Bei uns fühlt sich jedes Kind in mindestens einem Bereich erfolgreich. Und wenn nicht, dann lassen wir uns etwas einfallen. Na gut, das waren zwei Sätze.

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