"Der Blick aus dem Fenster zeigt erst einmal hohe Häuser" : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Auch unter widrigen Bedingungen kann man gute Schule machen und den Kindern zu einer erfolgreichen Bildungsbiografie verhelfen. Rektor Michael Tlustek von der Hannah-Höch-Grundschule in Berlin im Interview.

Rektor Michael Tlustek
Rektor Michael Tlustek

Online-Redaktion: Wie sieht ein normaler Tag an Ihrer Schule aus?

Tlustek: Ich gehe mal von den Kindern aus: Der Tag beginnt für sie um 7:45 Uhr und endet für die Mehrzahl um 16 Uhr. Mein eigener Schultag ist geprägt von geplanten Anteilen oder von spontan auftauchenden Situationen, in denen gehandelt werden muss. Er ist alles andere als eintönig und reicht oft bis in die Abendstunden hinein. Gestern hatten wir von 13 Uhr bis 15:30 Uhr unseren Teamtag, davor habe ich den Klassensprechern Notebooks übergeben, die wir aus schulischen Mitteln angeschafft haben.

Während der Teamsitzung waren etliche Dinge zu besprechen, unter anderem, was wir mit den zukünftigen Schulanfängern machen. Zugleich wurden einige Problemfälle unter erörtert und Unterstützungsmaßnahmen für einige Schülerinnen und Schüler beraten. Im Anschluss daran habe ich gegen 17 Uhr ein Gespräch mit einer Lehrerin geführt, die sich für die Arbeit an unserer Schule interessiert und gerne an unsere Schule wechseln würde.

Online-Redaktion: Bedeuten die Hochhäuser, die man vom Fenster aus sieht, dass sich die Schule in einem so genannten sozialen Brennpunkt befindet?

Tlustek: Der Blick aus dem Fenster zeigt einem erst einmal hohe Häuser. Wir befinden uns hier in einer Großraumsiedlung im Märkischen Viertel. Derzeit leben rund 40.000 Menschen in zwei unterschiedlichen Wohnformen. Die eine zeichnet sich durch die verdichteten Hochhäuser aus, und dazwischen gibt es einige Siedlungsinseln mit Mehrfamilienhäusern, die man auch Stadtvillen nennt. Es gibt hier aber auch ganz viel Grün und ein breites Angebot an Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten.

Online-Redaktion: Wohnen Sie selbst in dem Viertel?

Tlustek: Ich wohne seit dreißig Jahren im Märkischen Viertel. Das hat zwei Gründe: Zum einen suchte ich vor etwa vierzig Jahren eine Mietwohnung, und da hier viele Neubauwohnungen gebaut wurden, die recht günstig und zugleich großzügig ausgestattet waren, bin ich hierher gezogen. Als ich dann Lehrer an der Grundschule wurde, kaufte ich mir mit einem befreundeten Ehepaar ein Grundstück und richtete darauf meine Doppelhaushälfte in einer der Siedlungsinseln ein. Diese Situation besteht bis heute fort. Sie trägt zur Verbundenheit mit dem Märkischen Viertel bei.

Ich schätze diese Lage, weil ich einen kurzen Weg zur Arbeit habe und die Wohnbedingungen gleichzeitig meine persönlichen Anforderungen erfüllen. Der kurze Weg zur Schule ist ein Stück gewonnener Lebenszeit. Nachdem ich bereits einige Schülergenerationen erlebt habe, fragen mich heute die Leute, wie ich diese räumliche Nähe zu den Kindern aushalte. Nun, das Märkische Viertel entspricht mit seinen 40.000 Einwohnern immerhin einer Kleinstadt, und diese ermöglicht eine gewisse Anonymität.

Online-Redaktion: Sie haben als Schulleiter deutliche Mehrbelastungen: Warum sind Sie es trotzdem geworden?

Tlustek: Letztlich sind bei mir biografische Gründe entscheidend gewesen, wohl wissend, dass heute andere Wege der Qualifizierung für die Aufgabe vorhanden sind. Ich musste ja keine Fortbildungen durchlaufen, sondern habe mich aus meiner Lehrertätigkeit heraus auf die Funktionsstelle beworben. Ich habe mich bemüht, die Aufgabe inhaltlich gut auszufüllen und mit den Aufgaben zu wachsen. Eine Besonderheit ist aber, dass im Grundschulbereich wenige Funktionsstellen zu vergeben sind. Die monetären Anreize, Grundschulrektor zu werden, sind also begrenzt, zumal es die Möglichkeit gibt, allein durch die Anzahl der Berufsjahre höher gruppiert zu werden.

Online-Redaktion: Warum sind Sie Grundschullehrer geworden?

Tlustek: Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Ich bin ja einer der viel gescholtenen Lehrer der 68er Generation, die über Umwege zum Lehrerberuf gekommen sind. Zunächst studierte ich Betriebswirtschaft, doch dann wechselte ich das Studienfach, weil mir eine Berufsperspektive als Betriebswirt mit meinem Selbstverständnis von gesellschaftlicher Entwicklung nicht mehr kompatibel erschien.

Für mich war es vor diesem Hintergrund die Überlegung, ob ich Sozialpädagogik studiere oder die Lehrerausbildung einschlage. Entscheidend war die Arbeit mit jungen Menschen, die ich mit der Hoffnung verband, dass die Gesellschaft dadurch menschlicher würde, menschlicher im Sinne von: Aufeinander Rücksicht nehmen und sich gegenseitig wertschätzen. Es ging darum, überspitzt gesagt, einen gewissen Einfluss auf das Denken, Handeln und die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zu nehmen. Ein Trugschluss.

Online-Redaktion: Ein Trugschluss?
 
Tlustek: Einflussnahme auf junge Menschen wirkt sich keineswegs produktiv aus. Erst kürzlich hörte ich einen Vortrag von Prof. Trautmann, der mir ins Gedächtnis rief, dass der Anteil von schulischer Bildung am gesamten Bildungsprozess junger Menschen marginale 14 Prozent beträgt. Diese Zahl entspricht - ohne, dass ich dies statistisch belegen könnte - auch meinen eigenen Erfahrungen als Pädagoge und Schulleiter.

Online-Redaktion: Müsste die schulische Bildung, um erfolgreich zu sein, um die außerschulische, lebensweltliche Dimension erweitert werden?

Tlustek: Man kann nur einen kleinen Teil der Lebenswelt der Kinder in der Schule abbilden. Ein entscheidender Bestandteil der Lebenswelt der Kinder betrifft ja die familiäre Sozialisation. Diesen Bereich kann ich nur peripher in die Schule hineintragen. Deswegen muss die Bildung von Kindern so früh wie möglich durch sach- und fachkompetente Vermittlung einsetzen, sodass die Nachteile, die Kinder aufgrund ihrer familiären Herkunft haben, aufgefangen werden.

Online-Redaktion: Stichwort Bildungsgerechtigkeit: Was trägt Ihre Schule dazu bei?

Tlustek: Der Fokus muss sich darauf richten, was Kinder tatsächlich benötigen und welche Bildungsangebote sie erhalten. Da die wesentlichen Weichenstellungen bei den Kindern bereits vor der Schule passiert sind, muss man sich Gedanken darüber machen, welche Bildungsbemühungen ab dem 6. Lebensjahr notwendig sind. Bildungschancen zu entwickeln, hat eine hohe Korrelation dazu, in welchen familiären Verhältnissen Kinder groß werden.

Wenn wir von der Qualität in der Bildung sprechen, hat dies mit der Qualität von Bildungseinrichtungen zu tun. Sie betrifft sowohl die Infrastruktur wie die Qualität der Personalentwicklung und die Qualität der Ausbildung. Um Qualität zu erzielen, müssten die Erzieherinnen und die Bildungsvermittler in den frühkindlichen Einrichtungen eine wesentlich höhere Fachkompetenz mitbringen. Teilweise hat die Ausbildung deutliche Fortschritte und Ergebnisse gebracht, doch in der Fläche und Breite gibt es noch großen Nachholbedarf.

Online-Redaktion: Schulleiter haben zunehmend komplexere Aufgaben zu lösen. Verstehen Sie sich eher als Innovationsmotor, Pädagoge, Manager oder Psychologe?

Tlustek: Die Aufgabe einer Schulleitung sehe ich darin, die Kommunikation über die Ziele von Schule zu befördern und Entscheidungsfindung dadurch zu fördern, dass man einen eigenen Standpunkt bezieht. Als Schulleiter habe ich daher die Verantwortung, mich über Themen sachkundig zu informieren und damit auseinander zu setzen, welche Lösungen angeboten werden. Wie müssen die Bildungsangebote strukturiert und organisiert werden, und mit welchen personellen Ressourcen kann man sie verwirklichen?

Es darf allerdings keine Diskussion darüber geben, ob wir eine offene oder gebundene Ganztagsschule werden oder nicht. Wenn der Erkenntnisprozess gereift ist, dass Bildungsangebote in der herkömmlichen, traditionellen Halbtagsschule nicht mehr erfolgversprechend sind, dann ist die Frage, ob wir eine gebundene Ganztagsschule werden, einfach nicht mehr verhandelbar. Sie ist dann das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der eine logische Fortsetzung dessen beinhaltet, was man an praktischer Erfahrung gesammelt hat.

Online-Redaktion: Welchen Anteil hatten die Mittel aus dem IZBB?

Tlustek: Für uns war das IZBB-Programm ein glücklicher Umstand, der zu einem günstigen Zeitpunkt unserer Schulentwicklung erfolgte. Wir wollten die Schule baulich verändern und inhaltliche Veränderungen einfordern. Doch der Prozess war bereits ohne das IZBB in Gang gekommen, als Ergebnis eines mehrjährigen Prozesses von Schulentwicklung. Er begann damit, dass wir uns gefragt haben, was unsere Fünft- und Sechstklässlern am Nachmittag anfangen - sie hatten ja keinen Anspruch mehr auf einen Hortplatz. So war der Impuls, eine Ganztagsschule zu entwickeln, mit einem sozialpädagogischen Angebot verbunden.

Online-Redaktion: Welche Ziele möchten Sie noch erreichen?

Tlustek: Mein Ziel ist es, die Heterogenität der Kinder stärker in die pädagogische Arbeit einzubeziehen. Wir möchten die Tatsache nutzen, dass unterschiedlich begabte Kinder aus vielen Kulturen den Bildungsprozess voranbringen können. Hierbei brauchen die Lehrkräfte aber viel Unterstützung, um unter diesen Voraussetzungen erfolgreich zu arbeiten. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist das längere gemeinsame Lernen aller Kinder. Ferner gilt es, die Qualität staatlicher Schulen so zu steigern, dass wir keine Abstimmung mit den Füßen erleben und bildungsorientierte Eltern ihre Kinder nicht mehr in staatliche Schulen schicken.

Dieses Problem wird über meine aktive Berufsphase hinaus sicherlich fester Bestandteil von Schulentwicklung sein. Dieser Prozess verläuft an mehreren Fronten. Er betrifft einmal die Lehrkräfte, die es zu überzeugen gilt. Darüber hinaus muss man die Eltern für den Gedanken gewinnen, dass das längere gemeinsame Lernen der richtige Weg für alle Kinder ist. Das dritte Problem besteht darin, die politisch Verantwortlichen dazu zu bringen, qualitative Bildungsangebote zu finanzieren.

Es muss alles dafür getan werden, ein Bildungssystem zu erhalten, in dem jedes Kind eine optimale Entwicklung seiner Fähigkeiten erhält. Dass diese Fähigkeiten unterschiedlich sind, ist gleichzeitig der Reiz einer solchen Aufgabe. Deshalb darf Bildung nicht über den Trichter vermittelt werden, sondern jedes Kind muss gemäß seiner individuellen Leistungsfähigkeit gefördert werden.

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