Aufsichtspflicht im Ganztag: Menschenkenntnis gefragt : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Aufsichtspflicht beinhaltet immer gelingende Kommunikation“, sagt Fred Babel von der Unfallkasse Nord. Lehrkräfte und pädagogisches Personal in Ganztagsschulen mahnt er zu etwas Gelassenheit.

Online-Redaktion: Es scheint, Aufsichtspflicht ist ein Brief mit sieben Siegeln. Niemand weiß Genaues. Können Sie für das Personal an Ganztagsschulen etwas Erhellung bieten?

Fred Babel: Anhaltspunkte kann ich in unseren Schulungen und Seminaren in Schleswig-Holstein und Hamburg sicher liefern. Doch ich muss auch immer wieder betonen: Letzte Sicherheit gibt es nicht, und die Rechtslage kann höchstens als sehr vage Leitlinie bezeichnet werden. Es gibt die Aufsichtspflicht. Doch wie diese aussehen soll oder muss, ist nirgendwo festgeschrieben.

Online-Redaktion: Was sagt denn die höchstrichterliche Rechtsprechung?

Babel: Sie geht laut Bundesgerichtshof in folgende Richtung: Nicht unbedingt das Fernhalten von jedem Gegenstand, der bei unsachgemäßem Umgang gefährlich werden kann, sondern gerade die Erziehung des Kindes zu verantwortungsbewusstem Hantieren mit einem solchen Gegenstand wird oft der bessere Weg sein, das Kind und Dritte vor Schäden zu bewahren. Hinzu kommt die Notwendigkeit frühzeitiger praktischer Schulung des Kindes, das seinen Erfahrungsbereich möglichst ausschöpfen soll.

Online-Redaktion: Das heißt übersetzt?

Babel: Deutschlands Richterinnen und Richter verlangen nicht, dass Kinder vor allen gefährlichen Dingen fernzuhalten sind. Sie sollen lernen, damit verantwortungsbewusst umzugehen. Es geht darum, ein gutes Maß an Sicherheit zu gewährleisten. Sicherheit heißt, das Kind vor unvertretbaren Risiken zu schützen.

Online-Redaktion: Welche Risiken sind gemeint?

Babel: Unfälle mit elektrischem Strom, Vergiftungen, Verbrennungen und Verbrühungen, Stürze in Scheiben, die nicht aus Sicherheitsglas bestehen, Strangulierungsunfälle und Stürze aus hoher Höhe.

Chemieunterricht
Prävention das Entscheidende. © Britta Hüning

Online-Redaktion: Die ersten vier Punkte erklären sich von selbst. Was hat es mit Strangulierung und Stürzen aus hoher Höhe auf sich?

Babel: Leider geschieht es gar nicht so selten, dass ein Kind sich beim Klettern oder Toben auf dem Spielgerät selbst stranguliert, weil es an seinem Schal oder auch dem an einer Kette um den Hals baumelnden Hausschlüssel hängenbleibt. Die anwesende erwachsene Person kann dann gar nicht schnell genug eingreifen, es bleiben ihr nur Sekunden. Also ist Prävention das Entscheidende: Der Schal gehört so in die Klamotten, dass er nicht lose um den Hals baumelt, ebenso die Kette. Oder aber die Sachen bleiben am Platz.

Online-Redaktion: Stürze fürchten viele Verantwortliche und würden am liebsten das Klettern auf Bäumen oder an der Kletterwand nur erlauben, wenn jemand daneben steht…

Babel: Und dann? Wollen sie das Kind oder gar Jugendliche auffangen? Wichtiger sind die Rahmenbedingungen, die geschaffen werden. Ein vernünftiger Fallschutz garantiert schon einmal, dass ein Sturz glimpflich abgehen kann. Sodann kann ich klare Regeln aufstellen. Etwa, dass in zwei Metern Höhe Schluss ist. Im Baum kann ich vom Landschaftsgärtner in entsprechender Höhe mit Farbe die maximale Kletterhöhe markieren lassen. Befinden sich dann dort in der Nähe Äste, die besonders zum Weiterklettern reizen, lasse ich diese entfernen. Und natürlich muss ich schauen, dass ein eventueller Sturz nicht auf einem Metallzaun oder -papierkorb enden kann. Also: Klettern in verantwortbarem Rahmen ja, Klettern im Klassenzimmer über Tische, die bis ans offen stehende Fenster reichen, natürlich nicht.

Online-Redaktion: Das heißt, Aufsichtspflicht erfordert nicht die ständige Anwesenheit einer erwachsenen Person?

Babel: Richtig. Man darf den Begriff Aufsicht in Gedanken nicht in „auf Sicht“ umdeuten. Ich muss nicht jede und jeden ständig sehen, ich muss ungefähr wissen, wo die Kinder sind und was sie tun. Es ist sogar erwünscht und fürs Großwerden wichtig, dass Kinder nicht ständig unter Beobachtung stehen. Man sollte sich ohnehin von dem Gedanken, der Hoffnung oder sogar dem Anspruch lösen, dass nie etwas passieren kann, wenn ich nur ausreichend aufpasse. Ein Patentrezept gibt es nicht.

Und denjenigen, die mich danach fragen, begegne ich mit einer Gegenfrage: „Was muss ich tun, damit ich beim Überholen mit meinem Auto niemals einen Unfall baue?“ Die Antwort kann nur lauten: „Fahren Sie kein Auto.“ Ich kann nicht alle Risiken kalkulieren, das muss ich als Pädagoge oder Pädagogin, auch in der Ganztagsschule, aushalten. Sonst ersticke ich an meinen eigenen Ängsten. Aber ich muss auch wissen: Ich stehe nicht mit einem Bein im Gefängnis, wenn ich Aufsicht habe.

Online-Redaktion: Sie plädieren für mehr Lockerheit, Mut und Vertrauen?

Babel: Lehrkräften oder Betreuenden kann es, wie in allen Berufen, auch mal passieren, dass sie von jemandem für einen Schaden persönlich verantwortlich gemacht und angezeigt werden. Dass die Staatsanwaltschaft tätig wird, ist jedoch extrem selten. Um vernünftige Entscheidungen zu treffen, empfehle ich, sich folgende sechs Fragen zu stellen: 1. Welche Risiken gehen von einer bestimmten Aktivität aus? 2. Wie hoch ist das Verletzungsrisiko und mit welchen Verletzungen ist zu rechnen? 3. Welche Bedingungen sind an Aktivitäten zu stellen, damit sie verantwortbar mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt werden können? 4. Gibt es zu der konkreten Aktivität eine gesetzliche Regelung, einen Erlass des Schulträgers oder eine Empfehlung, zum Beispiel vom Unfallversicherungsträger oder einem Sportverband? 5. Was sagt mir meine persönliche Berufs- und Lebenserfahrung? Und schließlich hilft 6. die einfache Frage: Welche Vorkehrungen würde ich wünschen, wenn es um mein eigenes Kind ginge?

Klettergerüst mit Kletterwand
Wie hoch ist das Verletzungsrisiko? © Britta Hüning

Online-Redaktion: Also Entscheidungen nach dem gesunden Menschenverstand?

Babel: Nicht unbedingt. Der Menschenverstand kann schon sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Aber ich sollte meine Schülerinnen und Schüler kennen. Dann kann ich sie in risikofreudige Max- und Moritz-Typen à la Wilhelm Busch oder Tommy und Annika, die braven Freunde von Pippi Langstrumpf, einordnen. Dann weiß ich, wo meine Augen besonders sein sollten und wo ich mehr vertrauen kann. Doch auch das ist keine Garantie, dass nie etwas passiert. Diese Einschätzung bildet aber den Kern für eine pädagogische Gefährdungsbeurteilung und das schulische Aufsichtshandeln.

Diese Vorgehensweise ist Alltag jeder Lehrkraft. Üblicherweise findet sie im Kopf statt. Besser ist, die Antworten auf die aufgeführten sechs Fragen schriftlich festzuhalten. Das stellt eine Möglichkeit einer nachvollziehbaren pädagogischen Gefährdungsbeurteilung dar. Wenn ich das sorgfältig erledige, erarbeite ich mir selbst auch die Antwort, beispielsweise auf die Überlegung, in welchem Alter und mit welchen Kindern ich in der Arbeitsgemeinschaft schnitzen kann.

Online-Redaktion: Hat das Thema Aufsichtspflicht in der Schule mit dem Ganztag an Bedeutung zugenommen?

Babel: Durch die zahlreichen außerunterrichtlichen Angebote, aber auch die externen Kooperationspartner, ebenso dadurch, dass rhythmisierter Unterricht immer mehr Bewegungsmöglichkeiten fordert, ist die Bedeutung nochmals gewachsen. Es kommt ein neuer Aspekt hinzu: Zwischen den Professionen, die auch noch von unterschiedlichen Grundauffassungen geprägt sind, wandert der „Hut Aufsichtspflicht“. Beispielsweise, wenn es um den Wechsel vom Unterricht in die Betreuung geht. Wer ist für die Aufsicht zuständig, wenn die Kinder in einem größeren Komplex von A nach B laufen? Wer ist dafür verantwortlich, zu schauen, ob auch alle angekommen sind oder die Gruppe an einem Tag aus Krankheitsgründen kleiner ist? Im Gesetz findet man dazu nichts. Das bedeutet, dass solche Punkte zwischen den Professionen kommuniziert und detailliert abgestimmt werden müssen. Immer und regelmäßig.

Online-Redaktion: Ausflüge werden mitunter abgelehnt, weil nicht ausreichend Aufsichtspersonal zur Verfügung steht. Darf das engagierte Elternteil einspringen?

Babel: Die Antwort lautet: Ja, aber. Es gibt zwar keine gesetzliche Vorgabe, wie viele Aufsichtspersonen pro Schülerzahl dabei sein müssen. Manche Betreuungsträger geben sich aber ihre eigenen, sozusagen hausinternen Regeln. Und ja, Mama und Papa dürfen dabei sein.

Klassenzimmer
Ein Patentrezept gibt es nicht. © Britta Hüning

Online-Redaktion: Tragen sie die gleiche Verantwortung wie die Betreuungskräfte?

Babel: Ich vergleiche das gerne mit dem Autofahrer, der bei stark eingeschränkter Sicht aus einer Parklücke ausparken möchte. Ein freundlicher Postbote winkt ihn heraus. Dennoch fährt ein anderes Fahrzeug ins ausparkende Auto. Wer ist verantwortlich? Natürlich derjenige, der ausparkt, nicht der freundliche Briefträger. Auf die Schule übertragen heißt das: Bei Ausflügen hat das Betreuungspersonal die Verantwortung, nicht die begleitenden Eltern. Wichtig ist auch hier, dass die Verantwortlichen der Schulen klare Absprachen treffen, untereinander und mit den begleitenden Eltern. Dass sie festlegen, was im Notfall zu tun ist, beispielsweise wenn ein Kind unterwegs „verloren“ gehen sollte. Auch die Kinder und Jugendlichen sollten in die Absprachen einbezogen werden. Aufsichtspflicht beinhaltet immer gelingende Kommunikation.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Fred Babel, Jg. 1959, ist Leiter des Sachgebiets Bildungseinrichtungen im Bereich Prävention und Arbeitsschutz der Unfallkasse Nord für Schleswig-Holstein und Hamburg. Der ausgebildete Diplom-Ingenieur ist seit 1988 bei der Unfallkasse Nord in der Prävention tätig. Als langjähriger Referent führt er Seminare für Schulträger sowie für Kita- und Ganztagsbetreuungsträger durch, zum Beispiel die Fortbildung „Und was ist mit der Aufsichtspflicht?“ der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Schleswig-Holstein oder die Fortbildung „Aufsichtspflicht in der Kinderbetreuung und im Sportverein“ am Campus für Bildung und Sport Hamburg.

Ministerium für Bildung und Frauen Schleswig-Holstein & Unfallkasse Nord (2013): Lernen am anderen Ort. Ein Leitfaden zum Nachschlagen. Kiel.

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