Räume für zeitgemäße Ganztagsbildung : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

„Hamburg wächst mit seinen Schulen und das darf man auch qualitativ verstehen“, sagt der Architekt Adrian Krawczyk im Interview. Er berät Ganztagsschulen bei der Umsetzung ihrer räumlichen Konzepte.

Architekt und Ganztagsexperte Adrian Krawczyk
Architekt und Ganztagsexperte Adrian Krawczyk © Claudia Pittelkow

Die Schulbau-Messe am 19. und 20. September im Hamburger Cruise Center hat für Akteurinnen und Akteure der Ganztagsbildung in diesem Jahr etwas Besonderes im Angebot. Neben den Hauptthemen – Sanierungs- und Neubauprojekte, Digitalisierung und nachhaltige Bildungsbauten – wird es dort erstmals einen eigenen Bereich der Hamburger Schulbehörde geben, inhaltlich gestaltet und organisiert von der Agentur für Schulberatung und dem Referat Ganztag.

Beteiligt an der inhaltlichen Gestaltung ist Adrian Krawczyk, Architekt im Ganztagsreferat, der Schulen seit 2010 bei der Umsetzung ihrer räumlichen Konzepte berät. Im Interview spricht er über die Herausforderung, Ganztagsschulen als Räume für zeitgemäße Bildung zu gestalten, und verrät, warum eine sich wandelnde Lernkultur auch Potenziale für den Ganztag eröffnet.

Online-Redaktion: Herr Krawczyk, wie würden Sie denn den aktuellen Status quo beschreiben im Zusammenspiel von Architektur und Ganztag?

Adrian Krawczyk: Wir erforschen gerade, welches Potenzial mehr oder weniger offene Raumkonzepte für die Ansprüche aus dem Ganztag bieten. Hamburg wächst mit seinen Schulen und das darf man auch qualitativ verstehen. Die Bandbreite der pädagogischen Konzepte erweitert sich und auch der Ganztag stellt erweiterte Ansprüche an den Ort Schule.

Mehr ‚Schul-Zeit‘ wird schnell verkürzend allein mit ergänzenden Bildungsangeboten wie beispielsweise kulturellen und musikalischen Angeboten verbunden. Kinder haben aber auch ein Recht auf Ruhe, Spiel, Freizeit und Erholung, wie es in Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention heißt – also auf „Pause“, und ihr wird Raum gegeben werden müssen. Das betrifft die zeitliche Dimension – als Frei-Spiel-Zeit –, aber auch den Ort. Viele unterschiedliche Themen müssen im Raumkonzept vereint werden.

Online-Redaktion: Was brauchen Ganztagsschulen, um ein ‚Zuhause’ zu sein?

Krawczyk: Spontan könnte die Kurzformel lauten: Kooperation, Beteiligung und gute Orte. Räume allein machen es nicht, denn Räume stehen immer im Kontext von Haltung, Handeln und Organisation. Um das zu entwickeln und gute Orte für den Ganztag zu gestalten, braucht es dann auch eine Prozessbegleitung, eine Planungsunterstützung bei den Möblierungsaufgaben und natürlich Budgets, um Schulen – von der Institution Halbtagsschule kommend – kontinuierlich zum ganztägigen Lebensort für viele umbauen zu können. Um den vielfältigen Anforderungen und Bedürfnissen gerecht werden zu können, braucht es im Wesentlichen Offenheit, Unterstützung und einen langen Atem.

Online-Redaktion: Wie ist der Bedarf in Hamburg, und was zeichnet die Hansestadt aus?

Krawczyk: Hamburg hat den Ganztag schon vor über zehn Jahren flächendeckend eingeführt. Wir haben den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung damit schon längst erfüllt. Darauf können wir stolz sein, ausruhen können wir uns darauf aber nicht – und tun das auch nicht. Schon allein der starke Zuwachs an Schülerinnen und Schülern in Hamburg erfordert neue Räume und bietet die Chance, diese zum ersten Mal direkt von Anfang an ganztägig zu konzipieren. Neue pädagogische Raumkonzepte und Ganztag greifen ineinander.

Modell eines Hamburger Klassenhauses
Modell eines Hamburger Klassenhauses © Luisa Wellhausen

Die systemische Umstellung auf den Ganztag in Hamburg war ein Riesengewinn, aber zugleich der Startschuss für einen Transformationsprozess beziehungsweise einen Kulturwandel. Der ganztägige Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen an Schulen eröffnet viele Chancen. Durch die Konzentration auf den Ort Schule drohen ihnen aber auch Entwicklungsmöglichkeiten und Freiräume abhandenzukommen. Hier gibt es zahlreiche Handlungsfelder, in denen wir uns entwickeln wollen.

Online-Redaktion: Können Sie etwas konkreter werden und Beispiele benennen?

Krawczyk: Heutzutage verbringen die Kinder und Jugendlichen in den Ganztagsschulen im wahrsten Sinne des Wortes den ganzen Tag in der Schule, während sie früher ab mittags ihren Hobbys nachgehen oder vor allem selbstbestimmt einfach Kind sein durften. In der Ganztagsschule konzentriert sich das Leben noch mehr in der Schule. Die Kindheit wird zunehmend institutionalisiert. Die Schulen müssten sich also überlegen, wie sie zum einen die Bedürfnisse nach Rückzug, Spiel und Bewegung erfüllt bekommen, aber auch, wie und wo sie für Kinder Freiräume schaffen können, die ihnen im Ansatz Erfahrungen ermöglichen, die früher außerhalb der Schule gemacht wurden.

So etwas geht zum Beispiel besonders gut im Außenraum der Schule, wo Kinder mehr Bewegungsfreiheiten haben und einfacher selbst ins Handeln kommen können. Ich denke dabei weniger an teure Spielgeräte, die schnell ihren Reiz einbüßen, sondern beispielsweise an Baumaterialien wie Äste und ähnliches, mit denen Kinder etwas bauen können. In der Grundschule Lohkampstraße hatte man das ausprobiert, um den ganz Kleinen einen besonderen Spielort zu bieten. Tatsächlich haben sich dann aber von der Vorschule bis zur vierten Klasse alle Kinder um diesen Ort gerissen, weil man hier Phantasiewelten selbst erschaffen und sich in Rollenspielen verlieren konnte.

Erwähnen will ich auch Bereiche, in denen sich Kinder verstecken können. Es geht also um Frei-Räume jenseits der pädagogischen Glocke. Es gibt eine interessante Studie von Bastian Walther und Iris Nentwig-Gesemann über den Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Vereinfachend könnte man zusammenfassen, dass Kinder mehr beteiligt werden sollen, weil die Schule im Ganztag zu ihrem ganz zentralen Lebens- und Bildungsort wird.

Online-Redaktion: Sind Schulen darauf vorbreitet?

Krawczyk: Das bedeutet, dass Fachkräfte entsprechend professionell damit umgehen können müssen. Nur über Präsenz und persönliche Beziehung werden Kinder in ihren Facetten und Wünsche wahrgenommen werden können. An dieser Stelle gibt es mit dem System Schule einiges auszuhandeln. Hier sind wir wieder bei der anfangs erwähnten Formel: Kooperation, Beteiligung und gute Orte. In Hamburg versuchen wir, uns diesen Herausforderungen zu stellen und uns weiterzuentwickeln.

Das „Deck“ der Stadtteilschule Ehestorfer Weg
Das „Deck“ der Stadtteilschule Ehestorfer Weg © Claudia Pittelkow

Als wir den Ganztag vor über zehn Jahren eingeführt haben, konnten man den Eindruck gewinnen, dass der Ganztag nur mobile Dreieckstische braucht und viele Angebot machen muss. Auch die Eltern wünschten sich erstmal vom Segelkurs bis zum Computerkurs alles Mögliche, überwiegend zusätzliche Bildungsangebote. Es beschlich einen fast das Gefühl, die Kinder vor den überhöhten Erwartungen mancher Eltern schützen zu müssen. Mittlerweile hat sich das ausdifferenziert, wie wir in einer eigenen Studie haben erfahren können.

Die Anforderungen entwickeln sich kontinuierlich weiter, aber Freiraum und freies Spiel bleiben sicher wichtig. Ich erinnere eine Anekdote aus der Anfangszeit. Nach Einführung der Ganztagsschule hatte eine Mutter ihr Kind gefragt, wie es denn seinen Geburtstag feiern wolle. Die Antwort: Am liebsten in der Schule! Und warum? Auf dem weitläufigen Schulhof hatte sie sich Verstecke gebaut, und die standen nun hoch im Kurs. Wenn eine Schule viel Außenraum hat, ist das ein Pfund!

Online-Redaktion: Was ist in Hamburg anders als in anderen Bundesländern?

Krawczyk: Seit der flächendeckenden Einführung des Ganztags arbeiten wir an der qualitativen Weiterentwicklung, daher ist unser Fokus möglicherweise ein anderer als in Bundesländern, die den Ganztag erst noch quantitativ ausbauen müssen. Wir wollen die Schulen dabei unterstützen. Dabei steht für uns immer mehr die Möglichkeit der vielfältigen Nutzung aller Flächen im Vordergrund, was als Team einfacher gelingt. Wenn jeder nur in Klassenräumen denkt, dann habe ich ja in jedem Klassenraum das gleiche Angebot. Wenn ich mich aber als Team organisiere und einen Flur beispielsweise zum Jahrgangsflur mache, dann habe ich die Möglichkeit, in einzelnen Räumen unterschiedliche Schwerpunkte zu schaffen.

Dann muss ich natürlich zulassen, dass andere meinen Bereich auch nutzen. Das ist nicht so einfach, weil sich die Haltung ändern muss. Je mehr sich Lernkultur verändert, mit offenen Raumkonzepten und anderen pädagogischen Konzepten, desto selbstverständlicher wird die gemeinsame Nutzung. Das hat immer einen positiven Effekt auf die Vielfalt und kommt letztendlich immer dem Ganztag zugute. Die Chancen in einer teamorientierten Organisation sind sehr groß, auf jeden Fall größer als wenn ich mich klassenweise organisiere. Aber das ist ein langer Weg und nur eine Facette.

Online-Redaktion: Welche Schulformen haben besonderen Bedarf hinsichtlich der räumlichen Gestaltung?

Krawczyk: Jede auf ihre Art und in ihrer Entwicklungsstufe. An Grundschulen stellen sich natürlich teilweise andere Herausforderungen als an weiterführenden Schulen. Aber grundsätzlich gilt: Die qualitative Entwicklung ist unterschiedlich weit vorangeschritten. Deshalb muss man genau auf die einzelne Schule schauen. Es gibt die „Speerspitze“, also Schulen, die Neues ausprobieren, von denen wir profitieren, weil sie mit uns Grundsatzfragen bewegen. Hier braucht es insbesondere den behördlichen Support und „Seed-Money“, also eine Anschubfinanzierung.

Es gibt aber ebenso die breite und vielfältige Schullandschaft, die mit unterschiedlichen, auch strukturellen Herausforderungen zu kämpfen hat. Auch hier braucht es neben einer guten Grundausstattung und sich entwickelnden Standards immer wieder besondere Lösungen, für die es kreative Ideen und Flexibilität aufseiten der beteiligten Akteure benötigt.

Eindrücke von der Schulbau-Messe Hamburg 2021
Eindrücke von der Schulbau-Messe Hamburg 2021 © Salon & Messe SCHULBAU

Online-Redaktion: Welche Lösungen gibt es in Hamburg?

Krawczyk: Die Lösung oder das Rezept liegen in der prozessualen Herangehensweise einerseits und der Arbeit nahe an der Einzelschule andererseits. Wir haben beispielsweise Förderprogramme für Raum und Schulverpflegung, die von niedrigschwelligen Angeboten bis zur Begleitung von weitergehenden Schulentwicklungsprozessen reichen. Und wir haben Netzwerke, in denen die Schulen miteinander in Kontakt kommen können. Das ist in einem Stadtstaat wie Hamburg aufgrund der kurzen Wege natürlich leichter als in einem Flächenland.

Online-Redaktion: Wer unterstützt die Schulen auf ihrem Weg?

Krawczyk: Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. In vielen Fällen sind sicher wir als Ganztagsreferat bei Bedarf erster Ansprechpartner. Angesichts der Anzahl von Schulen, die Beratung benötigen, können wir allerdings die erforderliche Beratung und Hilfe schon lange nicht mehr alleine leisten Wir sind auch aktiver Treiber der Gesamtentwicklung, nicht umsonst heißen wir „Referat Ganztag – Struktur- und Prozessentwicklung“. Und dies betrifft aktuell insbesondere die Weiterentwicklung der vorhandenen Unterstützungssysteme.

Inzwischen greifen dazu immer mehr Stränge ineinander: Die Agentur für Schulberatung im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung spielt auch in Bezug auf ganztägige Raumentwicklung eine zunehmend größere Rolle, ebenso haben die Standortmanager aus der Abteilung Schulentwicklungsplanung und Schulimmobilienmanagement der Schulbehörde begonnen, Fragen von ganztägiger Ausstattung und Möblierung mitzudenken. Auch unser Dienstleister für die Umsetzung, Schulbau Hamburg, beteiligt sich aktiv an dem Prozess.

Online-Redaktion: Auf der kommenden Schulbau-Messe spielen Raumkonzepte und Praxis eine entscheidende Rolle. Was erwartet die Besucherinnen und Besucher?

Krawczyk: In diesem Jahr ist die Schulbau-Messe schon etwas Besonderes, weil wir uns etwas weiter hinauswagen. Wir haben diesmal nicht nur einen einzelnen Stand, sondern eine ganze Fläche, die wir gemeinsam mit der Agentur für Schulberatung nutzen. Auf der Messe präsentieren sich üblicherweise die Planerinnen und Planer, es werden Produkte gezeigt und auch ein Interview mit einer Schulleitung ist schon mal Teil des Rahmenprogramms. Die Messe ist jedoch normalerweise kein Format für Schulen, in dem sie sich austauschen können und Impulse in Bezug auf die Praxis bekommen. Wir kombinieren das, weil sich Interessen überschneiden und wir so Wissen kompakter weitergeben können. Außerdem finde ich, dass das Gap zwischen neuer Schularchitektur und der Praxis kleiner werden sollte.

Wenn man die Strukturen verändern will, ist das ja für alle Beteiligten Neuland. Das wirkt sich sofort auf die Art und Weise aus, wie man arbeitet. Gerade in den Ganztagsschulen arbeiten ja nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Sonderpädagoginnen und Erzieher. Da sind viele Akteure unterwegs. Allein auf der pädagogischen Ebene gibt es viel Skepsis gegenüber Veränderungen. Wir wollen die Akteure der Ganztagsbildung dazu einladen, genau an dieser Schnittstelle zum Raum einmal mit dem Fokus auf die Praxis zu schauen und sich inhaltlich und praxisnah über Chancen und Grenzen von Raumkonzepten auszutauschen. Das ist vielleicht etwas, was es in dieser Form bisher noch nicht so gegeben hat.

Online-Redaktion: Können Sie ein paar Eckpunkte aus dem zweitägigen Programm nennen?

Eindrücke von der Schulbau-Messe Hamburg 2021
© Salon & Messe SCHULBAU

Krawczyk: Wir haben einige Impulsreferate von interessanten Referenten, stellen zwei Studien vor, einerseits die bereits erwähnte Studie zum Ganztag aus der Perspektive der Kinder sowie eine weitere Studie, die unser Ganztagsreferat selbst in Auftrag gegeben hat, die die Ganztagsgrundschule aus der Perspektive der Eltern und der Kinder untersucht. Was das Interessanteste ist: Wir haben einige der mutig voranschreitenden Schulen eingeladen, ihr Projekt einmal vorzustellen.

Voraussichtlich werden 14 Hamburger Schulen auf der Messe in jeweils zehnminütigen Vorträgen über ihr aktuelles Konzept berichten. Auf diese Weise bieten wir allen Interessierten die Möglichkeit, sich im Anschluss direkt mit diesen Schulen auszutauschen. An einer großen Wand werden die Besucher viele Praxisbeispiele und den aktuellen Diskussionsstand vorfinden, um ins Gespräch zu kommen. Ich hoffe sehr, dass viele am Ganztag Beteiligte am 19. und 20 September vorbeikommen werden.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Adrian Krawczyk ist Architekt und seit 2010 Referent für Raumkonzepte im Ganztag bei der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung. Er berät Schulen bei der Umsetzung ihrer räumlichen Konzepte. Seit 2018 ist er auch regelmäßig als Referent bei der Schulbau-Messe aktiv.

Veröffentlichungen u.a.:

Krawczyk, A. (2021): Lernkultur und Raum. In: Peschel, M. (Hg.): Kinder lernen Zukunft. Didaktik der Lernkulturen. Frankfurt am Main: Grundschulverband, S. 179- 198.

Krawczyk, A. (2021): Wo bleibt der Ganztag? Lern- und Raumkonzepte zusammendenken. Hamburg macht Schule, 33 (4), 17-18.

Krawczyk, A. (2017): „Reprogramming“ – eine Strategie für Bestandsgebäude. In: Hammerer, F. & Rosenberger, K. (Hg.): RaumBildung 4. Wien: AUVA, S. 11-23.

Krawczyk, A. (2016): Umbau, Zubau, Neubau von Schulgebäuden: „Reprogramming“. Grundschule aktuell, 135, 8-13.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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