Inklusive Ganztagsschule als Zukunftsschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Der Kreis Darmstadt-Dieburg in Hessen baut 81 Schulen für 400 Millionen Euro nach pädagogischen Gesichtspunkten um und neu. Die Redaktion sprach mit dem Schuldezernenten Christel Fleischmann.

Online-Redaktion: Als einziger Kreis in Hessen hat Darmstadt-Dieburg Leitlinien für die Schulgebäude von morgen entwickelt. Wie lauten die Kerngedanken?

Christel Fleischmann: 2008 wurde das Schulbau- und Schulsanierungsprogramm bis 2018 für die 81 Schulen unseres Landkreises vom Kreistag beschlossen. Schnell wurde klar, dass jenseits der technischen Anforderungen, die an moderne Schulgebäude gerichtet werden, auch eine zukunftsfähige Re-Strukturierung der Schulen im Hinblick auf die aktuellen pädagogischen Entwicklungen eine Rolle spielen. Die inklusive Ganztagsschule erfordert
andere räumliche Organisationsmodelle als die tradierte Flurschule mit aneinander gereihten Klassenzimmern. Unsere Referenzschulen haben uns sozusagen auf die Idee gebracht, Leitlinien zu erarbeiten. Nach Abschluss des Schulbau- und Schulsanierungsprogramms sollen unsere Schulen fit sein für diese neuen Anforderungen.

Online-Redaktion: Was hat das Umdenken und die Abkehr von den Standardschulen der Vergangenheit ausgelöst?

Fleischmann: Beim Umsetzen der ersten Baumaßnahmen haben wir erkannt, dass jedes Bauprojekt eng mit der Schulgemeinde abgestimmt werden muss. Schließlich soll die Schule mit dem neuen beziehungsweise grundhaft sanierten Gebäude die nächsten 30 bis 40 Jahre pädagogisch arbeiten können. Wir nennen diesen Prozess, in Anlehnung an die neun Leistungsphasen der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure die Phase 0. Der zeitliche Aufwand hierfür ist hoch. Sowohl Schulträger als auch Schule haben sich in diesen Prozessen beäugt und um eine sachgerechte Entscheidung bemüht.

Online-Redaktion: Mit welchem Ziel?

Fleischmann: Aufgabe war es, die veränderten pädagogischen und gesellschaftlichen Anforderungen an die Schulen als Planungsgrundlage aufzunehmen, aber auch vergleichbare Rahmenbedingungen für die Baumaßnahmen – sowohl bei Neubauten als auch bei den grundhaften Sanierungen - zu schaffen. Ansonsten kommen wir schnell zu dem Fall, dass eine Schule sagt: Ja, das was ihr an dieser und jener Schule gebaut habt ist toll, aber wir brauchen noch dies und das zusätzlich!

Nachdem wir im Eigenbetrieb Leitlinien für wirtschaftliches Bauen erarbeitet hatten, waren wir uns schnell einig, dass auch im Bereich Planung belastbare Standards gesetzt werden müssen. Damit sollten allerdings auch individuelle Gestaltungsspielräume eröffnet werden. Der Begriff Leitlinie zeigt einerseits das Verbindliche und soll andererseits eine schematische Standardisierung verhindern.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielen Ihres Erachtens Räume für das Lernen?

Fleischmann: Der Begriff Räume muss neu definiert werden. Ein Sprichwort sagt:
Ein Kind hat drei Lehrer: Der erste Lehrer sind die anderen Kinder. Der zweite Lehrer ist der Lehrer. Und der dritte Lehrer ist der Raum. Es geht also nicht mehr um den althergebrachten Klassenraum, der angrenzt an vom Brandschutz ausschließlich als Rettungswege definierte Flure. Vielmehr soll die ganze Schule als Lernort begriffen werden, wo einerseits eine Rhythmisierung von Anspannungs- und Entspannungsphasen insbesondere im Ganztagsbetrieb ermöglicht wird und – ganz entscheidend: wo Schülerinnen und Schüler miteinander und voneinander lernen.

Diese Bereiche müssen nicht mehr durch Türen verschlossen sein. Das ist ein großer pädagogischer Schritt. Mit der Bauaufsicht und dem Amt für Brand- und Katastrophenschutz arbeiten wir sehr vertrauensvoll zusammen. Sie haben unsere Ideen aufgenommen und Möglichkeiten aufgezeigt, dass zum Beispiel Flure vor Klassenräumen als erweiterte Aufenthaltsbereiche mit genutzt werden können. So hat die Schule völlig neue Möglichkeiten, sich zu entfalten.

Online-Redaktion: Neue Gebäude und andere Lernumgebungen allein verändern noch keinen Unterricht. Sind die Schulen und die dort Tätigen darauf vorbereitet, neue Wege, beispielsweise bei der großen Herausforderung Inklusion, zu gehen?

Fleischmann: Das ist wie auch unsere Herangehensweise an zeitgemäßen Schulbau insgesamt ein pädagogischer Prozess, der über einen längeren Zeitraum betrachtet werden muss. Das staatliche Schulamt Darmstadt unterstützt uns als Schulträger stark bei unseren Bemühungen und bereitet auch die Schulleitungen und Kollegien auf die neue Situation vor. Als Beispiel der guten Zusammenarbeit wurden unsere Schulbauleitlinien allen Schulleitungen in einer gemeinsamen Dienstversammlung mit dem Staatlichen Schulamt vorgestellt.

Online-Redaktion: Welche Widerstände mussten und müssen Sie überwinden?

Fleischmann: Widerstände im Prozess gab es eigentlich weder aus dem Bereich der Schulen noch aus der Politik. Beide Seiten haben den Prozess sehr wohlwollend begleitet. Die Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Gebäudemanagement und Schulservice standen von Anfang an hinter der Idee, weil auch sie sich bei der Umsetzung des straffen Schulbau-und Schulsanierungsprogramms durch die in den Schulbauleitlinien geschaffenen Rahmenbedingungen bessere Argumentationshilfen in der Diskussion mit den Pädagogen versprechen. Die Schulbauleitlinien dienen hier gewissermaßen auch als Wörterbuch zum Thema Bauen und Pädagogik.

Online-Redaktion: Ihre Schulen der Zukunft basieren auf dem Ganztagskonzept. Warum?

Fleischmann: Unser Ziel ist die inklusive Ganztagsschule als die Schule der Zukunft. Sie ist einerseits die logische Folge aus der Ganztagsbetreuung, die insbesondere berufstätige Eltern aus der Kita-Zeit gewohnt sind und dann auch für die Schulen einfordern. Sie ist aber auch die pädagogische Weiterentwicklung neuer Lernformen für den sich verändernden gesellschaftlichen Stellenwert von Bildung. Die Schule der Zukunft macht deutlich, welche Bedeutung die Gemeinschaft ihren Bildungseinrichtungen zumisst.

Online-Redaktion: Herrscht im Kreis politische Einigkeit, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist?

Fleischmann: Ja, der Kreistag hat sowohl das Schulbau- und Schulsanierungsprogramm 2008 bis 2018 einstimmig beschlossen als auch jetzt die Schulbauleitlinien. Er unterstützt die Verwaltung in ihren Bemühungen, als Schulträger die baulichen Voraussetzungen für eine inklusive Ganztagsschule zu schaffen. Damit sind wir aktuell auch sehr nahe dran an dem neu geschlossenen Koalitionsvertrag in Hessen, mit dem entscheidende Schritte auf dem Weg zur Ganztagsschule gemacht werden.

Online-Redaktion: Wie reagieren die Eltern?

Fleischmann: Auch seitens des Kreiselternbeirats werden wir intensiv unterstützt. Gerade die Eltern sehen zweifellos die Chance, für ihre Kinder und künftige Generationen beste bauliche Voraussetzungen für einen zeitgemäßen Unterricht zu schaffen. Dafür werden bis zu einem gewissen Grad auch die Belastungen mitgetragen, die Schulsanierungen, die wir ja nicht nur in den Ferien umsetzen können, mit sich bringen.

Online-Redaktion:  Sie konnten auf externe Unterstützung wie etwa die der Montag-Stiftung zählen. Lassen sich deren Ideen übertragen?

Fleischmann: Die Grundlagen und Ideen zielen exakt in die gleiche Richtung, und gerade die Montag-Stiftungen haben entscheidende Impulse auch für unsere Leitlinien gegeben. Im Detail haben wir allerdings unsere Schulbauleitlinien an unsere Erfahrungen und Anforderungen in den einzelnen Bereichen angepasst. Unsere Schulbauleitlinien sind auf die Situation im Landkreis Darmstadt-Dieburg abgestimmt.

Online-Redaktion: Andere Kreise und Kommunen werden nach Darmstadt-Dieburg schauen und fragen, was das alles kostet und wo Sie das Geld hernehmen. Verraten Sie es uns bitte…

Fleischmann: Bis zum Jahr 2018 werden wir ca. 400 Millionen Euro in die 81 Schulen des Landkreises investiert haben und damit unsere Schulen dem Ideal der inklusiven Ganztagsschule ein gutes Stück näher gebracht haben. Bis dahin werden das nicht alle Schulen gleichermaßen sein. Wir wollen damit beginnen, neben den weiterführenden Schulen regional betrachtet jeweils eine Grundschule als echte Ganztagsschule auszubauen. Dies geschieht im Wesentlichen über Kreditaufnahmen. Hilfreich sind aber natürlich auch Förderprogramme des Landes und des Bundes. In Hessen waren die Mittel aufgesplittet in Bundesmittel (Konjunkturprogramm (ca. 17 Millionen Euro) und zusätzlichen Mitteln des Landes Hessen (ca. 27 Millionen Euro), insgesamt also 44 Millionen Euro. Hilfreich wäre es, wenn aus dem Kooperationsverbot ein Kooperationsgebot des Bundes für Investitionszuschüsse im Schulbereich würde. Etwa nach dem Vorbild der über das Sonderinvestitionsprogramm des Landes Hessen oder das kommunale Investitionsprogramm des Bundes eingebrachten 44,3 Millionen Euro für Sanierungsmaßnahmen an Schulen im Landkreis Darmstadt-Dieburg. Wir sehen diese Investitionen klar als Investitionen in die Zukunft.

Online-Redaktion: Abschließende Frage: Haben Sie sich schon darauf eingestellt, dass Bildungstourismus in Ihren Kreis und Ihre Schulen wie einst nach Finnland einsetzen könnte?

Fleischmann: Da sind wir natürlich offen und freuen uns, wenn auch wir unsere Erfahrungen weitergeben können. Bis nach Finnland sind wir leider noch nicht gekommen, konnten aber im Vorarlberg und auch in Deutschland beim Besuch von Schulen mit modernen Lernlandschaften viele Eindrücke mitnehmen und beim Bau unserer Projekte wertvolle Erfahrungen sammeln. Diese uns gewährte Gastfreundschaft geben wir gerne zurück.

Kreisbeigeordneter Christel Fleischmann

Jahrgang 1950, lebt in unverheirateter Lebensgemeinschaft in Seeheim-Jugenheim, zwei erwachsene Töchter
Berufliche Stationen:
• Dipl.-Ingenieur für Nachrichtentechnik
• 1972 bis 30. September 2006 Projektleiter im Forschungs- und Entwicklungszentrum der Deutschen Telekom
• Seit 1. Oktober 2006 Dezernent für Schule, Bauen und Umwelt
• Seit 2011 Dezernent für Schule, Bauen, Umwelt und ÖPNV
Politische Stationen:
• 1981 bis 2006
Gemeindevertreter in Alsbach-Hähnlein
(Vorsitzender des Ausschusses für Bau-, Planungs- und Umweltfragen, Fraktionsvorsitzender der IUHAS)
• 1989 bis 2006
Mitglied des Kreistages Darmstadt-Dieburg
(Vorsitzender des Haupt- und Finanzausschusses, Fraktionsvorsitzender) von Bündnis 90/die Grünen
• 1. Oktober 2006 bis 30. September 2012
Hauptamtlicher Kreisbeigeordneter
• 1. Oktober 2012 bis 30. September 2018
Zweite Amtszeit als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter


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