Gute Schulbaukonzepte für gute Pädagogik : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Lernräume des 21. Jahrhunderts müssen pädagogisch und architektonisch neu gedacht und konzipiert werden. Im Interview: Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Vorstand der Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft.

Online-Redaktion: Wer Ihr Engagement für die Weiterentwicklung von Pädagogik und Schulbauarchitektur verfolgt, fragt sich: Was treibt Dr. Karl-Heinz Imhäuser an und um?

Karl-Heinz Imhäuser: Vor meiner Tätigkeit bei der Montag-Stiftung konnte ich 20 Jahre Einblicke in das System Schule gewinnen. Als Lehrer an einer Förderschule habe ich im Umgang mit so genannten „schwierigen“ Kindern erfahren, wie unterschiedlich Kinder sind, wie sie das, sagen wir einmal, starre System Schule sprengen können. Ich habe aber vor allem erlebt, welch interessante, höchst unterschiedliche Wesen Kinder sind. Sie alle haben andere Zugänge zum Leben. Dort habe ich gelernt, die Originalität und das Anderssein als Qualitäten zu schätzen.

Online-Redaktion: Unser Bildungssystem scheint darauf noch nicht eingestellt zu sein.

Imhäuser:  Man kann, wenn man nur möchte, eine breitere Sicht auf Kinder entwickeln. Das habe ich in der Lehrerausbildung, in Seminaren, aber auch in meiner Zeit am Landesinstitut in Berlin in der wissenschaftlichen Begleitung von Schulversuchen zum gemeinsamen Unterricht erfahren. Seitdem fasziniert mich die Frage, wie es analytisch und diagnostisch gelingen kann, den Blick auf die Kinder zu erweitern und ein neues, ein weiteres Verständnis von Bildung zu entwickeln. Eine Stiftung wie die Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft mit einem unabhängigen Budget bietet dafür die Chance, auch weil sie in der Lage ist, Bildungspartner zu finden, die bereit sind, an Dingen der Veränderung mitzuwirken.

Online-Redaktion: Wo sehen Sie den größten Veränderungsbedarf?

Imhäuser: Wir brauchen eine Pädagogik, die nicht in Fächer gepresst wird, eine Pädagogik die freies Denken nicht nur in den fachlichen Disziplinen, sondern vor allem über Fachdisziplingrenzen hinweg ermöglicht. Freies Denken aber heißt auch Inklusion und erfordert andere Strukturen von Lernräumen, eben eine neue Choreografie von Lernräumen. Schon der Begriff Pausenhof offenbart eine Systematik eines an industriellen Abläufen orientierten Bildungsverständnisses. In der Pause stehen wie in der Industrie alle Räder still. Die Kinder sollen raus auf den Hof, eine Stulle essen, dann wieder reinkommen und weiterlernen. Nur die Kinder haben bei so etwas noch nie mitgespielt – denn sie haben gespielt, sich ausgetauscht und damit natürlich auch in der Pause weiter gelernt.

Online-Redaktion: Wird die Freiheit des Denkens und des Lernens im herkömmlichen Schulbau im wörtlichen Sinne durch Mauern begrenzt?

Imhäuser: Man kann das so sehen: Enge Räume verhindern Entfaltung auch des Geistes. Lernräume des 21. Jahrhunderts müssen pädagogisch und architektonisch neu gedacht und konzipiert werden. Das ist eine interdisziplinäre Aufgabe, die von pädagogischen Konzepten, von Raum- und Funktionsprogrammen, aber auch den Entwicklungszielen der Kommunen beeinflusst wird.

Online-Redaktion: Eine neue Schulbaukultur als Voraussetzung für eine sich verändernde Pädagogik?

Imhäuser: Nehmen wir einmal das Wort Klasse, an dem sich ja auch die traditionelle Schulbauarchitektur orientiert. Klasse steht für eine Merkmalsgleichheit, für Homogenisierung. Das spiegelt sich dann im nächsten Schritt, nämlich der Verteilung der Kinder auf verschiedene Schulformen. Doch wir wissen ja längst, dass auch altersgemischte Gruppen wunderbar zusammenlernen, voneinander profitieren können. Diese Gruppen sollten für einen Zeitraum in Projekten zusammenarbeiten und forschen. Das aber lässt sich in genormten Klassenzimmern nur schwer umsetzen. Ich denke an Lernraumlandschaften wie die so genannte Homebase, wie sie in Schulen anderer Länder Alltag ist. Dort arbeiten 60 Schülerinnen und Schüler mit vier Tutoren eine Zeitlang an den unterschiedlichsten Themen. Womit wir beim  Dienstleistungsbereich unserer Zeit wären – auch hier bilden sich ständig Projektgruppen auf Zeit.

Online-Redaktion: Es gibt inzwischen auch in Deutschland viele neue Schulen mit an modernen Unterrichtskonzepten orientierten Räumen. Welche Möglichkeiten sehen Sie für bestehende Schulgebäude mit ihrem Klassenraumprinzip?

Imhäuser: Es gibt immer mehr Schulen mit einer veränderten pädagogischen Systematik, die das Individuum und eine auf Zeit zusammengestellte Arbeitsgruppe, nicht aber eine vermeintlich homogene Klassen, in den Mittelpunkt stellt. In den vergangenen Jahren sind mehr als elf Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket II und aus dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) in Bauprojekte geflossen. Bei den bestehenden Schulen besteht ein erheblicher Sanierungsbedarf. Es wird viel Geld in den Bestand fließen müssen. Ich erkenne da eine große Dynamik. Da wäre es fatal, wenn nach den bisherigen Normen und Vorschriften nur saniert würde. Ich bin zwar Anhänger des Föderalismus-Gedankens, aber gleichzeitig wünsche ich mir einen bundesweit einheitlichen Referenzrahmen, der eine neue Sicht auf Schulbauten festschreibt.

Online-Redaktion: Erkennen Sie Verständnis und Bereitschaft bei den Kommunen, neue Schulbaukonzepte voranzutreiben?

Imhäuser:  Mit dem Handbuch „Schulen planen und bauen" haben die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft und die Montag Stiftung Urbane Räume ein neues Konzept für den Schulbau vorgestellt: eine integrierte Planung an der Schnittstelle von kommunaler Verwaltung, Pädagogik und Architektur, die den Bau von zeitgemäßen, guten Schulen ermöglicht. Die bundesweite Auslobung „Pilotprojekte Schulen planen und bauen“ macht dieses bereits erprobte Konzept für die öffentlichen Schulträger in ganz Deutschland zugänglich. Städte, Gemeinden, Landkreise und interkommunale Arbeitsgemeinschaften können sich mit einem konkreten Schulbauprojekt für die professionelle Durchführung einer solchen Planung bewerben. Fünf Preisträger erhalten eine intensive Begleitung in der „Phase Null“. Aber auch die Nicht-Preisträger profitieren von dem wertvollen Wissen zum Planen und Bauen von guten Schulen. Die Resonanz auf die für die Teilnahme obligatorischen Informationsveranstaltungen war so groß, dass ich sehr optimistisch bin, dass der Bewusstseinswandel voranschreitet. Vielleicht nicht flächendeckend, aber die Dynamik und Sensibilität der Verantwortlichen spüre ich. Mit jeder neuen Schule und jeder neuen Schrift  gewinnt man Verbündete.

Online-Redaktion: Nehmen Sie diese Aufbruchstimmung auch in den Kollegien der Schulen wahr?

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Imhäuser: Es gibt viele positive Aufbruchsignale, aber natürlich auch Beharrungsprozesse. Insgesamt wünsche ich mir mehr strukturierende Vorgaben der Länder, etwa wenn es um eine veränderte Präsenzpflicht in der Ganztagsschule gibt. Ganz besonders hier, wo auch  unterschiedlichste Professionen mit den Kindern arbeiten, sind Teamstrukturen erforderlich, so wie sie es in Förderschulen schon immer gab. Auch das erfordert andere räumliche Gegebenheiten, etwa einen vernünftigen Lehrerarbeitsplatz und ansprechende  Kommunikationsräume. Mit der Aufenthaltsqualität steigt die Freude und Bereitschaft, länger in der Schule zu bleiben und zu arbeiten. Das ist im Übrigen auch eine Frage der Wertschätzung. Als Paradebeispiel darf Schweden gelten. Als dort die Präsenzpflicht der Lehrkräfte ausgeweitet wurde, waren 90 Prozent der Pädagoginnen und Pädagogen dagegen. Zehn Jahre später hat sich die Stimmung komplett gedreht: Heute wollen 90 Prozent, dass die erhöhte Präsenzpflicht bestehen bleibt. Das ist sicher auch ein Ergebnis des massiven Ausbaus qualitativ hochwertiger Lehrerarbeitsplätze in allen Schulen über einen Zeitraum von zehn Jahren.

Online-Redaktion: Wie wird sich Inklusion auf die Schularchitektur auswirken?

Imhäuser: Anhaltspunkte für die notwendigen Räume, Raumfolgen und Raummengen geben die bisherigen Förderschulen. Solche Räume, die in deutschsprachigen Schulsystemen bisher primär in einem stark ausdifferenzierten System von Förderschulen existierten, werden zunehmend in den allgemeinbildenden Schulen eingeplant werden.

Online-Redaktion: Dürfen unzureichende bauliche Voraussetzungen als Entschuldigung für geringere Unterrichts- und Schulqualität herangezogen werden?

Imhäuser: Man müsste mal aufschreiben, welche Weiten das System Schule hat. Ich sehe da häufig eine Selbstbegrenzung von Innovationsmöglichkeiten. Man muss sich doch fragen, warum zwei Schulen mit gleichen Ausgangs- und Rahmenbedingungen unterschiedliche Übergangsquoten zu den weiterführenden Schulen hervorbringen. Das ist doch eindeutig eine Frage der pädagogischen Konzepte. Die beste Architektur ersetzt keine pädagogischen Konzepte. Aber gute Schulbaukonzepte ermöglichen die Umsetzung guter Pädagogik.

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