Gut sitzen in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Als Kunststudent hat sich Ludwig Kaimer in Ganztagsschulen umgesehen und mit „patch“ eine moderne und praktische Sitzgelegenheit entwickelt, die Schülerinnen und Schülern gefällt.

Online-Redaktion: Herr Kaimer, Sie sind Absolvent der Kunsthochschule Kassel. Ein Sitzmöbel ist ein Gebrauchsgegenstand. Ist das ein Widerspruch?

Kaimer: Beim Studiengang Produktdesign an der Kasseler Kunsthochschule steht die Gestaltung von Gebrauchsgütern grundsätzlich im Mittelpunkt. Da hier viele Freiheiten gewährt werden, gibt es in der Herangehensweise wie auch im Ergebnis häufig sehr individuelle und experimentelle Resultate, bei denen der Kerngedanke eines „Produktes" in den Hintergrund treten darf.

Online-Redaktion: Wie kommt ein Student auf die Idee, einen klappbaren Sitz für Ganztagsschulen zu entwickeln?

Ludwig Kaimer: Das Zusammenspiel von Schule und Gesellschaft hatte mich schon länger interessiert. Meine Diplomarbeit begann ich also mit der Fragestellung, wie die Schule der Zukunft aussehen würde. Aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen habe ich Positionen zu zukünftigen und schon stattfindenden Veränderungen zusammengetragen, die ich dann miteinander in Beziehung gesetzt habe. Erst danach kam die gestalterische Arbeit. Der erste Hauptgedanke meiner Arbeit war eigentlich, die Freiheiten, die man im Studium besitzt, nochmal voll auszuschöpfen. Ich wollte mir keine Aufgabe stellen, bei der das zu gestaltende Produkt in der Funktion bereits vordefiniert ist, sondern ergebnisoffen recherchieren.

Online-Redaktion: Sie wurden für Ihre Arbeit mit dem Georg-Forster-Preis ausgezeichnet, weil sie interdisziplinär ist. Was haben Sie bei der Arbeit alles bedacht?

Kaimer: In meinem theoretischen Einstieg zur „Zukunft der Schule" habe ich vor allem interessante Fachliteratur der Pädagogik und der Architektur gesammelt. Hier gibt es bereits viele spannende Vorschläge, wie mit dem Trend zur Ganztagsschule umzugehen sei. Ebenso sind hier aus gestalterischer Sicht bereits viele, sich aus der Ganztagsschule ergebende Probleme behandelt.

Ludwig Kaimer
© Ludwig Kaimer

Besonders über die Freizeitpädagogik habe ich einen theoretischen Einblick in die vielen Variationen von Ganztagsschulen gewonnen, die ich bei meinen Besuchen wahrscheinlich nicht so bewusst wahrgenommen hätte. In der Entwurfsphase habe ich dann zum Beispiel verschiedene Möbelkonzepte auf Aspekte der Territorialität oder des Peergroup-Verhaltens geprüft, bevor ich mich auf einen Entwurf festgelegt habe. Zu berücksichtigen waren außerdem Erkenntnisse der Materialkunde und der Ergonomie.

Online-Redaktion: Wo haben Sie Erfahrung mit Ganztagsschulen gesammelt, und was hat sie dort inspiriert?

Kaimer: Innerhalb meiner Recherchen habe ich insgesamt neun Ganztagsschulen in Göttingen, Berlin und Kassel besucht, zwei davon waren mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. Die meisten Besuche waren sehr informativ. Ich wurde sehr interessiert und zuvorkommend behandelt, manchmal wurde mir direkt von den Schulleiterinnen und -leitern das Gebäude gezeigt, und ich habe sehr direkte und ehrliche Einblicke bekommen.

Teilweise konnte ich Freistunden mit Jugendlichen verbringen, in denen ich Gespräche und Interviews geführt habe. Einmal hatte ich das Glück, an einem Workshop teilnehmen zu dürfen, der die Gestaltung eines Aufenthaltsbereichs durch die Schülerinnen und Schüler behandelt hat. Ich denke, die direkten Gespräche waren hier am wichtigsten für mich, weil man einen bestimmten Enthusiasmus ja vor allem im Dialog wahrnimmt.

Britta Hüning
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Wie funktioniert „patch"?

Kaimer: „patch“ ist eine klappbare Sitzgelegenheit, die in Fluren, Gebäudenischen und Klassenzimmern, prinzipiell an jeder freien Wand angebracht werden kann. Beim Öffnen verspannt sich ein textiler Bezug, in den sich bis zu zwei Personen bequem setzen können. In geschlossenem Zustand dient das dann sichtbare Vlies-Chassi als Schallabsorber und vermittelt durch die weiche Anmutung einen in Schulen meist fehlenden wohnlichen Charakter.

„patch“ bietet in seiner aktuellen Größe Platz für bis zu drei Jugendliche. Durch eine freie Anbringungshöhe kann es auf unterschiedliche Altersgruppen ausgelegt werden. Je nach Integration in die Architektur bietet die Sitzgelegenheit dann unterschiedlichen Nutzen. Bespielen Sie beispielsweise einen Flur kann dieser genutzt werden, um Klassen aufzuteilen und an unterschiedlichen Orten Teamarbeiten zuzulassen. In Pausen können sich die Schülerinnen und Schüler besser verteilen, um sich zurückzuziehen. Denkbar sind außerdem Arbeiten mit dem Laptop, Tablet, Handy, Lesen, Wiederholen von Schulstoff, gemeinsames Abhängen, Musik hören und vieles mehr.

Online-Redaktion: Warum eignet sich „patch" besonders für Ganztagsschulen und weniger für Halbtagsschulen?

Kaimer: Grundsätzlich eignet sich „patch“ für eigentlich jede Art von Schule. Im Idealfall gibt es ja auch in Halbtagsschulen differenzierte und individualisierte Unterrichtsformen und damit unterschiedliche Aufenthalts- und Arbeitssituationen. Aufgrund der längeren Aufenthaltszeiten der Schülerinnen und Schüler in Ganztagsschulen sehe ich dort aber eine noch größere Notwendigkeit, den Alltag angenehmer und abwechslungsreicher zu gestalten.

Online-Redaktion: Haben Sie „patch" getestet, und wie reagierten Schülerinnen, Schüler und Schulen?

Kaimer: „patch“ direkt in Schulen zu testen, war mir leider nicht möglich. In der Recherchephase hatte ich mehrere Schulklassen verschiedener Altersgruppen interviewt und auch mit mehreren Lehrkräften gesprochen. Dabei wurde unter anderem ein breites Bedürfnis nach Rückzugsbereichen offenbar, die je nach Alter unterschiedlichen Zwecken dienen sollten. Als meine Produktlösung mehr und mehr Gestalt annahm, habe ich den Schülerinnen und Schülern von meiner Idee erzählt und deutlich Bestätigung geerntet.

Online-Redaktion: Mussten auch Bauvorschriften bedacht werden, die Ihren gestalterischen Ideen im Weg waren?

Kaimer: Grundsätzlich muss ich rückblickend sagen, dass es eigentlich kaum eine Vorschrift gab, die ich vollkommen unverständlich fand. Je nach Auslegung und Kulanz kann ich mir aber durchaus vorstellen, dass es hier großes Reibungspotenzial gibt. In meinem Entwurf habe ich darauf geachtet, dass die Materialien der entsprechenden Brandklasse bzw. den DIN-Normen gerecht werden.

Ein wenig tricky war es, eine Möbelgeometrie zu realisieren, bei der durchschnittliche Flure nach Anbringung immer noch breit genug waren, um als Rettungswege genutzt zu werden. Dass das nicht grundsätzlich zu lösen war, sondern bei Anbringung je Gebäude bedacht und überprüft werden muss, hat mich gefuchst.

Online-Redaktion: Was kostet "patch", und wäre eine Serienproduktion möglich?

Ludwig Kaimer
© Ludwig Kaimer

Kaimer: Eine Serienproduktion ist ohne weiteres möglich, die habe ich bereits im Entwurf berücksichtigt. Das ganze Sitzelement ist modular gestaltet, sodass verschiedene Größen realisiert werden können. Sogar die Erweiterung zu einer Produktfamilie habe ich in meiner Arbeit zumindest im Ansatz behandelt. Eine Kostenveranschlagung ist für mich allerdings schwer, weil hier ja sowohl Stückzahlen, Fertigungsmöglichkeiten als auch Materialbezugsquellen eine Rolle spielen. Das würde vermutlich auch von Hersteller zu Hersteller stark variieren.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielt Ihres Erachtens die Ganztagsschule als Lebensort, und wie sollte dieser gestaltet sein?

Kaimer: Schon aus Gründen der Wertschätzung sollten bei der Gestaltung von Schulen die Alltagsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Bei Ganztagsschulen heißt das dann beispielsweise konkret: Wohin können sich Gruppen und Einzelne für konzentrierte Ruhephasen ungestört zurückziehen? Wie können andererseits zeitliche und räumliche Lärmzonen für ungezwungene Pausen ermöglicht werden?

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:


Ludwig Kaimer (Jg. 1988) wuchs in Bamberg auf. Nach dem Zivildienst beim Studentenwerk Marburg studierte er von 2008 bis 2014 Produktdesign an der Kunsthochschule Kassel. Für seine Diplomarbeit im Schwerpunkt Industriedesign erhielt er den Georg-Forster-Preis der Kunsthochschule Kassel. Seit 2015 ist er als Industriedesigner tätig.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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