Ganztagsschule als Gemeinschaftsprojekt : Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die ostwestfälische Kommune Herford und die schwedische Futurum-Schule Habo haben eines gemeinsam: Beide werden von vielen Interessierten aufgesucht, die sich über wegweisende Ganztagsschulentwicklungen informieren möchten.

Schulhaus im Rohbau und als Computermodell
Der Rohbau des Fraktalen Schulgebäudes - und was aus diesem werden wird

Am 23. Mai 2006 wurde der Grundsatz "Erst arbeiten, dann feiern" in der ostwestfälischen Kleinstadt Herford umgekehrt. Am Vormittag fand in der Grundschule an der Landsberger Straße eine große Feier anlässlich des Richtfestes des Schulneubaus für den Ganztagsbereich statt. Bis zur Fertigstellung des in den Computersimulationen futurisch anmutenden Gebäudes dauert es nun nicht mehr lange: Anfang 2007 werden die Ganztagsschülerinnen und -schüler ihr neues Domizil beziehen können. Schulleiterin Bettina Gräber erhofft sich dann eine Sogwirkung auf weitere Kinder und deren Eltern, um langfristig über Ganztagsklassen zur gebundenen Ganztagsform und damit zu einer besseren Verzahnung von Schulunterricht und Nachmittagsangeboten zu finden.

Bei der Richtfestzeremonie und den zuvor in der Turnhalle von den Schülerinnen und Schülern gezeigten Darbietungen war die Begeisterung der Kinder spürbar: Würstchenstand und Musikeinlagen ließen Volksfestatmosphäre aufkommen. Mittendrin im Trubel: Rainer Schweppe, Leiter der Abteilung Schule, Kultur und Sport der Herforder Kommunalverwaltung und einer der Väter der Ganztagsschulentwicklung in Herford.

Bei allem Stolz auf das nun auch augenfällig Erreichte gesteht Schweppe ein, dass der gleichzeitig ablaufende Umwandlungsprozess aller elf Herforder Grundschulen zu Ganztagsgrundschulen nicht problemlos abläuft: "Durch die Baumaßnahmen in unseren Schulen sind die Lehrer und Schüler natürlich starken Belastungen ausgesetzt, weil teilweise einfach die Räume fehlen." Er müsse mehrmals am Tag Seelenmassage am Telefon leisten. Doch dass sich die Mühen lohnen und am Ende wie an der Landsberger Straße auszahlen werden, davon ist der Leiter der Abteilung Schule überzeugt.

Herford will sich aber auch über die Baumaßnahmen hinaus als Ganztagsschulkommune profilieren. Die Schulabteilung lud daher im Anschluss an das Richtfest in das Königin-Mathilde-Gymnasium zum Arbeitsteil ein. Hier fand das 1. Herforder Bildungsforum unter der Fragestellung "Vom Raum zur Pädagogik - Welche Chancen bietet die neue Raumgestaltung der Offenen Ganztagsgrundschulen?" statt, zu dem auch Referenten aus dem Impulsgeberland Schweden angereist waren. Erst in der Vorwoche hatten sieben Herforder Lehrerinnen die Futurum-Schule Habo 45 Kilometer nordwestlich von Stockholm besucht, um sich den dortigen Unterricht anzusehen.

"Ganztagsschule ist eine Antwort, die man geben muss"

Zur Eröffnung der Tagung stellte Bürgermeister Bruno Wollbrink fest, dass "in der Bildungspolitik offensichtlich etwas schiefgelaufen ist, wenn der Bildungserfolg so stark vom sozialen Status abhängig ist. Die Ganztagsschule ist eine Antwort, die man darauf geben muss." Nach Jahren der stiefmütterlichen Behandlung der Bildungspolitik würden in Herford nun parteiübergreifend unbestritten notwendige Investitionen in die Schulen fließen. "Die Kommunen müssen für die Zukunft vorsorgen", erklärte der Politiker.

Lob für das Ziehen an einem Strang strichen die anwesenden Herforder Entscheidungsträger von Seiten der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) und der nordrhein-westfälischen Landesregierung ein. Die DKJS-Geschäftsführerin Dr. Heike Kahl hob anerkennend hervor, dass alle, statt politisch zu streiten, für die beste Schulpolitik zusammenarbeiten würden. "Die Bautätigkeit ist dabei ein Seismograph für die Schulentwicklung. Die einladenden Schulhäuser, die hier gebaut werden, entsprechen auch dem ganzheitlichen Ansatz", erklärte Heike Kahl. Für die Landesregierung beschrieb Dr. Norbert Reichel aus dem Ministerium für Schule und Weiterbildung, Herford habe als eine der ersten Kommunen in Nordrhein-Westfalen begriffen, dass man mit der Offenen Ganztagsgrundschule bildungspolitisch etwas bewegen könne, und habe sie flächendeckend eingeführt. "In Herford wird die Offene Ganztagsgrundschule als Gemeinschaftsprojekt verstanden", so Reichel.

Wie der aktuelle Entwicklungsstand aussieht, beschrieben im Anschluss Friedhelm Eickmeyer aus der Abteilung Jugend und Rainer Schweppe. Aus Sicht der Jugendhilfe ergibt sich laut Eickmeyer noch kein einheitliches Bild, ob die Öffnung der Schulen und die Zusammenarbeit erfolgreich seien: "Die Ergebnisse der bisherigen Kooperationen sind unterschiedlich und nicht vergleichbar. Wir haben gute Erfahrungen gemacht, müssen aber noch besser werden."

Schweppe kündigte an, dass im kommenden Jahr alle Grundschulgebäude umgestaltet sein würden und das pädagogische Personal bereits in diesem Jahr Verstärkung durch Lehrerstellenanteile erfahren werde. Darüber hinaus sei Herford Mitglied in den durch die Regionale Serviceagentur Nordrhein-Westfalen organisierten überregionalen Qualitätszirkeln. "Die Chancen für eine bessere Bildung sehen wir abgesehen von den neuen Räumen und einer aktuellen Ausstattung in den interdisziplinären, multiprofessionellen Teams, die eine neue Lehr- und Lernkultur bringen werden, durch die die Kinder mehr lernen werden", meinte Schweppe.

Zwölf Quadratmeter pro Schüler

Als Hauptreferenten hatte Schweppe Hans Ahlenius, Lehrer an der Futurum-Schule, und Rainer von Groote, einen in Schweden arbeitenden deutschen Schulberater, gewinnen können. Beide widmeten sich dem Thema "Raum als dritter Pädagoge - Erfahrungen aus schwedischen Schulen".

Ahlenius ist seit 1973 Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften an der Schule, die 45 Kilometer nordwestlich von Stockholm liegt. Früher sei er ein Einzelkämpfer gewesen, nach der Devise "My classroom is my castle". Heute arbeite man in Teams und mit offenen Türen, um allen Kindern eine individualisierte Schule zu bieten. "Wir müssen uns für jedes Kind so einsetzen, dass es auch am letzten Schultag noch die Freude des ersten empfindet", schilderte Ahlenius das Motto der Schule. "Es ist kein Zufall, dass unsere Schule Futurum heißt. Die Habo-Schule steht für eine neue Organisation, eine verbesserte Pädagogik und ein gutes Arbeitsumfeld. Wir haben viel Geld für Umbauten und Neubauten eingesetzt, um das innere und äußere Klima zu verbessern."

1999 seien sechs Millionen Euro und zwei Jahre Bauzeit investiert worden, um aus einer großen Schule viele kleine Schulen unter einem Dach zu verwirklichen. In diesen lernten die Schülerinnen und Schüler zehn Jahre lang zusammen. Jedem der über 900 Schülerinnen und Schüler stünden statistisch gesehen zwölf Quadratmeter zur Verfügung. Der Frontalunterricht gehöre weitgehend der Vergangenheit an, womit sich auch die Lehrerrolle vom Alleinunterhalter zum Begleiter der Schüler verändert habe. Für jeden Schüler werde ein individueller Lehrplan erstellt, um alle nach ihren Fähigkeiten fördern zu können.

Fotos von Hans Ahlenius und Rainer von Groote mit Mikrofon
Referenten aus Schweden: Hans Ahlenius (l.) und Rainer von Groote

"Die Schüler arbeiten allein oder in Gruppen an Projekten, wobei eine große Freiheit in der Wahl der Unterrichtsinhalte besteht. Ausgangspunkt sind Motivation und Interessen der Schüler. Sie lernen eigenverantwortlich, themenorientiert und fächerübergreifend", meinte Ahlenius. Infolge dessen gebe es auch keine Klassen, sondern Arbeitseinheiten und altersgemischte Gruppen. Während früher nie die Zeit vorhanden gewesen sei, vertiefend zu lernen, sei dies durch den Ganztag nun möglich.

"Wenn sich eine Schule auf dem Weg zur Ganztagsschule machen will", riet der Schwede, "sollte sie zuerst ein pädagogisches Konzept aufstellen, dann die Arbeitsorganisation planen und sich danach um die Raumplanung kümmern. Und vergessen Sie nicht: Ein guter Lehrer ist durch nichts zu ersetzen - durch keinen Computer und kein Internet.

Erfolgreicher durch "Lernen lernen"?

Rainer von Groote schilderte die Organisation des Bildungswesens in Schweden. In schwedischen Schulen sei der Rektor die zentrale Figur, die das Sagen habe und auch das Personal einstelle. Wer mit den Vorstellungen der Schulleitung nicht konform gehe, müsse sich einen anderen Arbeitsplatz suchen. So hatten an der Futurum-Schule 20 Prozent der Lehrerschaft die Schule nach dem Kurswechsel zu einem neuen Lernen verlassen. Im Plenum löste die Schilderung der Personalhoheit eine Beifallsbekundung aus.

Wie deutsche Lehrerinnen die Futurum-Schule erlebt haben, war anschließend Thema in "Erfahrungen von der Futurum Skola", einer von sieben Arbeitsgruppen. Zehn Tage lang waren Theresa Nolte und Sabine Koslik-Dörschner von der Grundschule an der Landsberger Straße mit fünf weiteren Lehrerinnen in der Schule zu Gast gewesen und hatten für sich zwiespältige Erfahrungen mitgebracht. Eine positive Idee sei das so genannte Logbuch, das jedes Kind am Anfang des Jahres erhalte. Hier würden montags für jede Woche auf jeweils zwei Seiten festgehalten, was der Schüler sich für die Woche zu lernen vornehme. Am Donnerstag bilanzierten Schüler und Lehrer gemeinsam das Erreichte. "Hierbei geht es um das Reflektieren - zu planen und dann zu schauen, was man eingehalten hat", so Theresa Nolte.

Die Schule sei schnell bereit, Ideen über Bord zu schmeißen, wenn klar würde, dass sie nicht funktionieren - man sei sehr flexibel, was die Unterrichtsorganisation und -gestaltung angehe. Der Unterricht sei in der Tat sehr individualisiert, was für einen deutschen Pädagogen gewöhnungsbedürftig gewesen sei: "Es herrscht sehr viel Gewusel, ein Kommen und Gehen." Dazu kämen unterschiedliche Essens-, Pausen- und Lesezeichen. Zeugnisse gebe es nicht, statt dessen würden Elterngespräche geführt.

"Was uns erstaunt hat, sind die gegenüber Deutschland viel reduzierteren Lehrpläne und Standards", berichtete Sabine Koslik-Dörschner. Was nach den für Schweden erfolgreich absolvierten PISA-Tests in der Arbeitsgruppe die Frage aufwarf, ob weniger in den Lehrplänen nicht mehr wäre und ob das Lernen lernen nicht genauso wichtig sei.

"Wir sollten das System auf keinen Fall kopieren, jede Schule sollte ihr eigenes Konzept entwickeln", zeigten sich beide Lehrerinnen überzeugt. Methodisch müsste man sich - zumindest was den Mathematikunterricht in der Grundschule betreffe - nicht verstecken. "Wir brauchen aber mehr Personal, um vergleichbar arbeiten zu können. In der Futurum-Schule musste sich ein Lehrer nie um mehr als 15 Schülerinnen und Schüler kümmern", so die Lehrerinnen.

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