"Bauen, was Kinder brauchen" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Aus einer Bausession in der Nürtingen-Grundschule in Berlin-Kreuzberg hat sich das Projekt „Bauereignis“ entwickelt. Innenarchitektin Susanne Wagner berichtet im Gespräch über die Erfahrungen.

Online-Redaktion: Frau Wagner, wie hat sich das Projekt „Bauereignis“ entwickelt?

Susanne Wagner: Katharina Sütterlin und ich haben uns als Mütter und Mitglieder in Arbeitsgruppen an der Nürtingen-Grundschule in Berlin-Kreuzberg kennengelernt. Wir verfügen beide über ähnliche berufliche Hintergründe: Katharina Sütterlin ist Tischlerin und Architektin. Ich habe Innenarchitektur studiert und Erfahrungen im Designbereich mit dem Schwerpunkt „Handlungsorientiertes Gestalten“ gesammelt. Wir haben den architektonischen Handlungsbedarf an der Schule unserer Kinder erkannt, dann Förderanträge gestellt und erste Gelder erhalten. In einer der ersten Bausessions mit Studierenden und Eltern, von denen viele bereits eine handwerkliche Ausbildung absolviert hatten, haben wir in der Nürtingen-Grundschule innerhalb von fünf Tagen einen Klassenraum umgebaut. Dieses Beispiel hat sich so positiv rumgesprochen, dass wir 2009/2010 mit Mitteln aus dem Programm "Soziale Stadt" und der Unterstützung des Bezirksbürgermeisters alle Schulräume und die Flure umbauen konnten.

Online-Redaktion: Wie sind Sie bei so einem Umbau vorgegangen?

Wagner: Es wurde deutlich, dass jede Klasse etwas Eigenes haben wollte. Wir konnten nicht ein Klassenzimmer entwerfen und den Entwurf dann auf alle anderen übertragen, sondern haben in Varianten gebaut. Zudem konnten wir die Nutzung der Flure exemplarisch bearbeiten: Wie können die Schülerinnen und Schüler die Flure mitnutzen, ohne dass wir mit dem Brandschutz aneinander geraten? Bei Brandschutz und Akustik arbeiteten wir von Anfang an mit externen Experten zusammen.

Online-Redaktion: Wie gelang Ihnen der Sprung über die Nürtingen-Grundschule hinaus?

Wagner: Nachdem die Arbeit in der Nürtingen-Grundschule 2010 beendet war, setzte ein reger Besuchsverkehr ein – zu den umgebauten Klassenzimmern, zum Thema demokratische Schulentwicklung, zu den umgenutzten Fluren und zur akustischen Sanierung. Bei diesen Bereichen besteht ein ständiger Nachfragebedarf, und die Interessierten, die unsere Arbeiten besichtigten, gaben uns die Rückmeldung, dass sie es sehr gelungen fanden. Wir merkten, dass die Besucherinnen und Besucher das Gesehene ihren Kolleginnen und Kollegen kommunizieren wollten. So kamen wir auf die Idee, einen Projektbericht zu veröffentlichen. Schließlich erhielten wir weitere Aufträge, bis zu unserer aktuellen großen Projektförderung „Kulturelle Bildung“ der Kulturprojekte Berlin, bei dem wir derzeit an sechs Schulen gleichzeitig arbeiten. 2011 konnten wir unsere Arbeiten auch im Rahmen des Marktplatzes auf dem bundesweiten Ganztagsschulkongress präsentieren und auf dem Berliner Ganztagsschulkongress einen Vortrag halten. Schön war einmal das Lob von einer Sonderpädagogin: „Ihr baut genau das, was gerade an der Universität gelehrt wird, was Kinder brauchen.“ Oder auch eine Therapeutin, die zu uns sagte, genau diese Art von Lernräumen bräuchten die Kinder.

Kinder und Erwachsene bilden eine Transportkette
© Bauereignis - Sütterlin Wagner Architekten

Online-Redaktion: Was veranlasst besonders Ganztagsschulen, auf Sie zuzukommen?

Wagner: Mir ist eine Schlüsselszene aus einer Arbeitsgruppe mit Fünft- und Sechstklässlern in Erinnerung, die sich beschwert haben: „Wir sitzen jetzt den ganzen Tag hier, und es verändert sich nichts.“ Mit den IZBB-Mitteln sind hauptsächlich Mensen und neue Gebäudeteile gebaut worden. Für die Feinarbeit gab es dann oft keine Mittel mehr, beziehungsweise es wurde zunächst auch überhaupt nicht die Notwendigkeit gesehen, an den Details eines so großen, dynamischen Systems weiter zu feilen. Es gibt eigentlich immer etwas nachzubessern, und dafür ist unser Format „Bauereignis“ sehr geeignet. Hier könnten wir zum Beispiel einmal im Jahr eine Bausession veranstalten und punktuell das verändern, was gerade dringend ansteht. So kann Schritt für Schritt immer weiterentwickelt und nachentfaltet werden. Inzwischen sind dabei Themen wie Schule als Lebensort, individualisiertes Lernen, Inklusion und Vielfalt wichtige Faktoren.

Online-Redaktion: „Bauereignis“ zeichnet ja aus, dass Sie eng mit den Schülerinnen und Schülern zusammenarbeiten. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser Kooperation?

Wagner: Ganz grundsätzlich großartig. Das haben auch die Studierenden, die mit uns zusammenarbeiten, explizit gesagt: Sowohl beim Planen als auch beim Bauen hat jeder, unabhängig vom Alter, etwas beizutragen. Die Kinder und Jugendlichen haben ja mit dieser Umwelt gelebt – und sie können Mängel und Bedarfe klar benennen. So können sie beispielsweise vermitteln, dass sie beim Arbeiten mal aus dem Fenster schauen wollen und dass das im Moment nicht geht, weil die Brüstung zu hoch ist – in dem Fall war das Gebäude ursprünglich für Erwachsene gebaut worden. Wenn die Wünsche abstrakter sind – neulich wünschten sich die Schülerinnen und Schüler eine kleine Achterbahn in ihrer Klasse – gehen sie bei den architektonischen Übersetzungen einer solchen Idee supergut mit. Sie konnten den Wunsch, der hinter dieser Bauidee steht, formulieren: Es geht um Coolness, um ein eigenes Design, eine spannende Bauaufgabe, Freiheit, ein Stück Abenteuer. Und für diese Wünsche lassen sich viele Lösungen finden.

Online-Redaktion: Geraten Sie bei solchen Wünschen in eine Zwickmühle zwischen Wünschenswertem und Machbarem, zum Beispiel mit Blick darauf, was Schulleitung, Lehrkräfte und Schulträger für realisierbar halten?

Wagner: Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, mit allen Beteiligten zu sprechen. Die Schulleitung kommuniziert uns, in welche Richtung sich die Schule generell entwickeln soll. Die obersten Baufrauen und Bauherren sind dann für uns die Klassenlehrerinnen und  lehrer. Diese haben ein Vetorecht, das bisher aber noch nie gezogen werden musste. Die Schülerinnen und Schüler können in einem Wahlverfahren ihre Hierarchie von Wünschen erklären. Diese werden dann in Einklang mit den finanziellen Ressourcen und der praktischen Umsetzbarkeit im Raum gebracht. Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich beispielsweise oft eine Schaukel im Klassenzimmer. Wir diskutieren dann mit ihnen die Aspekte, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen: dass das viel Platz und einen Fallschutz braucht – Stichwort Unfallkasse. Die Kinder und Jugendlichen akzeptieren in diesen Diskussionen auch solche vernunftbestimmten Argumente. Bisher ist es stets so gewesen, dass nach einem Prozess des genauen Zuhörens und des In-Einklang-Bringens mit Finanzen und Machbarkeit unsere ersten Entwürfe im Prinzip abgenommen wurden.

liegender Schüler beim Malen
© Bauereignis - Sütterlin Wagner Architekten

Online-Redaktion: Sie arbeiten ja nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch um das Schulgebäude herum. Welche Themen stehen da auf der Agenda?

Wagner: Ein momentan wichtiges Thema ist die Eingangsgestaltung. Die Schulen möchten ihre Identität und die des Schulstandortes hier durch eine entsprechende Gestaltung unterstützen. Auf dem Schulhof setzt sich mehr und mehr durch, mit Gebüschen Rückzugsorte für die Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Wir rufen auch bei den Berliner Forstbetrieben an und bitten um loses Holz für die Gestaltung der Schulhöfe.

Online-Redaktion: Über das Planen und Bauen hinaus bieten Sie auch Seminare und Vorträge an. Welche Themen sind dort besonders nachgefragt?

Wagner: Die Leute wollen sich besonders über das Konzept „Bauereignis“ selbst informieren. Für uns ist das die beste Möglichkeit, unser Konzept über die Berliner Stadtgrenzen hinauszutragen. Es geht auch um die bereits genannten Themen: die Akustik oder die Weiterentwicklung des Lernraums, das Wechselspiel zwischen räumlicher Ausstattung und pädagogischer Arbeit. Inzwischen kommen auch Nachfragen zum Thema Erwachsenenbildung. Dass wir unsere Projekte aus so vielfältigen Perspektiven angehen, macht es so interessant. Die Teamarbeit ist dabei auch ein wichtiger Aspekt. Die Menschen mögen es einfach, beim Bauen selbst mit Hand anzulegen, zumal die Handarbeit aus den Schulen oft verschwunden ist. Da geht ihnen das Herz auf.

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