Partizipation im Ganztag: „... einen weiten Weg zu laufen“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Lukas Wolf und Justin Gentzer engagieren sich im SV Bildungswerk, einem Beratungsnetzwerk, das die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern im Ganztag unterstützt.

Online-Redaktion: Herr Wolf, wir sitzen hier auf einem Schulhof in Berlin-Mitte. Wie kommt es, dass Sie Ihr Büro an dieser Schule haben?

Lukas Wolf: Die Schule ist auf uns zugegangen und hat uns die Räumlichkeiten angeboten. Wir saßen vorher in einem Großraumbüro in der Chausseestraße, aber nun direkt in einer Schule, sozusagen mitten im Leben zu sein, ist für uns natürlich ideal. Seit Jahresanfang sind wir nun hier.

Online-Redaktion: Was wird denn alles an Sie herangetragen, wenn die Schülerinnen und Schüler nun schon einmal direkt an Ihren Büro vorbeigehen?

Wolf: Also, hier an der Schule sehe ich viele zufriedene Gesichter. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass hier viel Wert auf Beteiligung gelegt wird. Einmal in der Woche gibt es ein großes Plenum, wo alle Schüler der Unter- und Mittelstufen zusammenkommen. Nichtsdestotrotz bleibt auch hier die Herausforderung, alle Akteure zufriedenzustellen. Es passiert halt doch leicht, dass Lehrkräfte, ohne groß nachzudenken, über die Schülerinnen und Schüler hinweg entscheiden.

Justin Gentzer: Manchmal liegt das aber schlicht daran, dass den Schülerinnen und Schülern das Bewusstsein dafür fehlt, für ihre Rechte einzutreten. An meiner Schule stand die Schülervertretung dafür, dass einmal im Jahr ein Fußballturnier für die 5. und 6. Klassen organisiert wurde. Wenn man mal Aktionen startete, hatten die wenig mit konkreten Verbesserungen des Schullebens zu tun. Gerade deshalb haben wir das SV-Berater_innen-Programm ins Leben gerufen, um vor Ort das Bewusstsein zu schärfen, dass Schülerinnen und Schüler politische Rechte besitzen und wie sie diese wahrnehmen können.

Online-Redaktion: Wie funktioniert dieses Programm?

Schülerinnen und Schüler  in den Zukunftswerkstätten
In den vom SV-Bildungswerk veranstalteten Zukunftswerkstätten arbeiten Schülerinnen und Schüler mit Lehrkräften gemeinsam drei Tage lang an der Schulentwicklung. © SV Bildungswerk

Gentzer: Wir bilden Schülervertreterinnen und -vertreter, die seit einigen Jahren in der Schule engagiert sind, zu SV-Beratern aus. In einer fünftägigen Ausbildung vermitteln erfahrene Trainer aus unserem Netzwerk den demokratiepädagogischen Rahmen, die Rechte von Schülervertretungen und das methodische Handwerkszeug für Schulen, unter anderem Projektmanagement und Gruppen-Moderationsmethoden.

Wenn dann Anfragen von Schulen reinkommen, die gerne ein SV-Seminar hätten, gehen die SV-Berater zu zweit als sogenannte Peers in diese Schule. Sie geben weiter, was eine Schülervertretung ist und wie sie funktionieren kann. Im Idealfall mit Best-practice-Beispielen und den Erfahrungen, die sie selbst in der Schülervertretung gemacht haben. Dazu kommen dann spielerische Elemente wie ein Rechte-Quiz, wo zum Beispiel gefragt wird, wie oft man im Jahr eine Schülervollversammlung einberufen kann. Und es werden konkrete Jahrespläne entworfen, damit die guten Ideen konkret angegangen werden und nicht am Ende des Jahres unter den Tisch gefallen sind.

Online-Redaktion: Ist es wirklich nur Unwissenheit, wenn Schülerinnen und Schüler keinen großen Mitstimmungsbedarf sehen oder mitunter nicht auch Bequemlichkeit?

Wolf: Das ist total unterschiedlich. Ich habe es schon erlebt, dass sich Schülerinnen und Schüler sehr engagieren wollten, aber die Schulleitung wirklich fast gegen die arbeitete. Dann wird es irgendwann superfrustrierend. Andererseits reden wir hier auch von Kindern und Jugendlichen, in deren Gedanken Partizipation nicht unbedingt die Hauptrolle spielt. Und wenn sie dann in Ganztagsschulen gehen, die von 8 bis 16 Uhr Unterricht machen, und sie dann danach noch Hausaufgaben erledigen sollen, fragen sich manche, woher überhaupt die Zeit für das Engagement kommen soll.

Online-Redaktion: Die Idee der Ganztagsschule war doch „Zeit für mehr“, nicht nur „Zeit für mehr Unterricht“. Es gibt ja Beispiele für Ganztagsschulen, die partizipativ arbeiten?

Wolf: Die Ganztagsschule kann das auch, und sie soll es auch. Ich habe mich immer für eine inklusive Ganztagsschule eingesetzt und bin froh, dass die Ganztagsschule bundesweit angeschoben worden ist. Es gibt auch viele gute Beispiele, wo mehr Leben durch Partizipation in die Schulen kommt. Aber gleichzeitig gibt es noch viele Schulen, und ich fürchte, dass das die Mehrheit ist, die da noch einen weiten Weg zu laufen haben.

Online-Redaktion: Treffen Sie in den Schulen auf Bereitschaft, mehr Partizipation zu erreichen und sich dabei von Ihnen unterstützen zu lassen?

Wolf: Wir arbeiten liebend gerne auch mit Lehrerinnen und Lehrern und mit Eltern in einem Seminar, wo wir zusammen ein Schulkonzept für Partizipation entwickeln. Solche Anfragen von diesen beiden Gruppen gibt es eher selten, sie nehmen zum Glück aber zu. Offenbar kommt es immer mehr im Bewusstsein von Schulleitungen an, dass man sich um das Thema kümmern muss. Wir haben einmal eine Zukunftswerkstatt mit Schülern und Lehrern an einer Hamburger Schule veranstaltet, wo alle gemeinsam überlegt haben, was sie an der Schule stört, was sie sich wünschen und was sich realistisch umsetzen lässt. Das war großartig.

Wir ermutigen die Schülerinnen und Schüler, von ihrer Seite aus aktiv zu werden und nicht zu warten, dass etwas von oben kommt. Dazu bestehen auf jeden Fall Möglichkeiten, auch wenn sie von Bundesland zu Bundesland verschieden sind.

Gentzer: Schon länger kommen viel mehr Anfragen, als wir bewältigen können. Das ist natürlich auch eine finanzielle Frage. Wir können unsere SV-Beraterinnen und -berater ja nicht kostenlos durch Deutschland schicken. Aber wir versuchen, so viel wie möglich zu machen.

Online-Redaktion: Wie muss man sich solche Anfragen konkret vorstellen?

Wolf: Wenn Schülerinnen und Schüler beispielsweise einen Projekttag zu „Schule ohne Rassismus“ planen, fragen sie bei uns nach einem Projektmanagement-Seminar. Neu gewählte SV-Vertretungen fragen wiederum nach einem Einführungsseminar, weil sie noch nie etwas gemacht haben und Tipps benötigen. Da setzen wir uns zusammen und finden gemeinsam Ideen, wozu die Schülervertretungen arbeiten wollen. Und für mich ist es die positivste Erfahrung, wenn ich mitbekomme, dass die, die zu uns kommen, ein halbes Jahr später immer noch dabei sind.

Online-Redaktion: Was bewegt Sie aktuell?

Gentzer: Wir streben derzeit eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Landesschülervertretungen in den Bundesländern an. Wir wollen stärker in die Regionen hinein. Es ist sinnvoll, die vorhandenen Netzwerke der engagierten Kinder und Jugendlichen dort zu nutzen, die genau wissen, was vor Ort verändert werden muss. Umgekehrt wollen wir die Landesschülervertretungen unterstützen. In Nordrhein-Westfalen sind wir dazu derzeit in Gesprächen mit dem Schulministerium und mit der Serviceagentur „Ganztägig lernen“.

Wolf: Weniger schön ist momentan, dass es uns an finanziellen Möglichkeiten fehlt, unsere Seminare kostenfrei anzubieten. Das führt mitunter dazu, dass gerade Schulen, die unsere Unterstützung gut gebrauchen könnten, uns nicht buchen können. Das ist traurig, denn wir wollten unsere Angebote allen Schulen zugänglich machen. Wir hoffen, dies in Zukunft mit unseren Partnern wieder gemeinsam zu ermöglichen.

Online-Redaktion: Was würden Sie sich wünschen, wenn die Finanzen keine Rolle spielten?

Wolf: Unsere eintägigen Seminare sind gut. Es wäre aber wichtig, Schülervertretungen und Schulen auch über einen längeren Zeitraum unterstützen zu können und so für eine Kontinuität sorgen. Es wäre schön, auch mal nach Monaten nachhaken zu können, ob denn die Dinge, die sich die Leute vorgenommen hatten, auch umgesetzt worden sind, und gegebenenfalls nachzusteuern. Und es wäre auch ein Vorteil, wenn es vor dem eigentlichen Seminar die Möglichkeit gäbe, mit den Beteiligten, Schülerinnen und Schülern, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, auch anderen, die in der Schule tätig sind, zunächst immer die Ausgangslage vorzubesprechen. Partizipation ist nichts, was man mal so eben nebenbei macht, sie gehört ins Schulkonzept.
 

Lukas Wolf war u. a. Bezirksschülersprecher in Essen und ebenso wie Justin Gentzer in der Landesschülervertretung Nordrhein-Westfalen aktiv. Beide gehören neben Wendy Schaak (Hessen), Linda Berghaeuser und Nico Saggese (Rheinland-Pfalz) zum Vorstand des SV Bildungswerk.

Das SV Bildungswerk (Bildungswerk für Schülervertretung und Schülerbeteiligung e.V.) wurde 2005 gegründet, um eine demokratische Schulentwicklung durch bundesweite Fortbildung von Schülervertreterinnen und -vertretern zu unterstützen. Daraus ist, vor allem durch das Engagement im Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“, an dem das SV Bildungswerk mitgewirkt hat, inzwischen ein deutschlandweites Beratungsnetzwerk entstanden. Das SV Bildungswerk bietet auch Lehrerfortbildungen zum Thema an.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000