"Nicht nur AG am Nachmittag": Kinderrechte in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Der Soziologe und Schulforscher Prof. Dr. Lothar Krappmann ist Experte für Kinderrechte. Worauf Kinder ein Recht haben und wo ihre Rechte verletzt werden, erläutert er im Interview.

Online-Redaktion: Herr Prof. Krappmann, Sie verfolgen die Entwicklung der Kinderrechte seit Jahrzehnten. In welcher Phase dieser Entwicklung befinden wir uns derzeit in Deutschland?

Lothar Krappmann
Prof. Dr. Lothar Krappmann © Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Lothar Krappmann: Die Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention durch den Bundestag im Jahr 1992 hat zunehmend Wirkung entfaltet. Anfänglich meinten noch viele, auf die Einhaltung der Rechte der Kinder müsste nur in Entwicklungsländern geachtet werden. Inzwischen streitet niemand mehr ab, dass Kinderrechte auch in unserem Land verletzt werden. Kinder in desolaten Lebensverhältnissen, sexuelle Gewalt gegen Kinder, eingeschränkte Rechte geflüchteter Kinder, aber auch die massive Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft und die lückenhafte Beteiligung der Kinder bei Entscheidungen, die sie berühren, aber auch die zähen Auseinandersetzungen um die Frage, ob Kinderrechte ins Grundgesetz gehören, zeigen, dass die Kinderrechte in Deutschland angekommen sind.

Online-Redaktion: Ihr aktuelles Manifest „Kinderrechte, Demokratie und Schule“ geht auf diese mangelnde Umsetzung von Kinderrechten ein. Haben wir nur ein Umsetzungsproblem oder auch schlicht ein Erkenntnisproblem?

Krappmann: In vielen Bereichen wird um eine bessere Umsetzung gerungen, um die Unterstützung benachteiligter Kinder, um gesundes Aufwachsen von Kindern, um die Rechte von Kinder mit Behinderungen, um geflüchtete Kinder. Unser Manifest konzentriert sich auf massive Mängel im Bildungswesen. Viele, auch politische Verantwortliche, meinen, durch den Schulbesuch aller Kinder sei schon erfüllt, was die Menschen- und Kinderrechte verlangen. Die Bestimmungen der Kinderrechtskonvention enthalten aber auch einen Artikel über die Bildungsziele. In diesem Artikel haben die Staaten vereinbart, die jungen Menschen in den Schulen auf ein verantwortungsbewusstes Leben in Gemeinschaft mit anderen vorzubereiten. Auf ein Leben, in dem die heranwachsenden Menschen fähig sein müssen, miteinander Antworten auf viele Fragen und Probleme zu finden, die massiv das Zusammenleben belasten, und dazu gehören soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Intoleranz, Gewalt, Krieg, aber auch Probleme von Ernährung, Umwelt, Energie oder Klima.

Diese Probleme existieren nicht nur in der Ferne, sondern sie haben massive Auswirkungen auf unser Land, sind längst in die Schulen eingedrungen und ängstigen nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder, wie Umfragen zeigen. In ihnen stecken fundamentale Bildungsprobleme. Hier geht es um solides Wissen, vernünftiges Urteilen, kontrolliertes Handeln, Folgenabschätzung, Kreativität, Kompromissbereitschaft und Gerechtigkeit.

Die unzureichende Kompetenz, mit der viele mit diesen Problemen umgehen, macht unsere demokratischen Prozesse anfällig für Besserwisser, Vereinfacher und Autoritätsbewunderer. Schule könnte hier ihr Bestes an Wissens- und Fähigkeitsvermittlung zeigen. Die Kultusministerkonferenz hat für diesen Auftrag bisher nur relativ wenige Unterrichtsstunden Menschenrechtsbildung vorgesehen. Es wird Zeit, dass die Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben, theoretisch und praktisch, zu einer der Kernaufgaben der Schule und aller anderen Bildungsstätten wird.

Online-Redaktion: Sie haben Ihr "Manifest" in 84 Empfehlungen formuliert. Erhoffen Sie sich eine verbindlichere Wirkung?

Krappmann: Die Durchnummerierung soll verdeutlichen, dass hier nicht nur eine Idee gefällig ausgesponnen wird. So wie die UN-Konvention die Rechte der Kinder Artikel für Artikel festlegt, benennt auch das Manifest Punkt für Punkt die Probleme, Aufgaben und Schritte, die zu einer Schule der Kinderrechte führen sollen. Es soll auch die Diskussion erleichtern.

Schülerin an einem Klettergerüst
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Die unterschiedlichen Autoren in Ihrem Buch arbeiten heraus, wo Kinderrechte nicht umgesetzt werden. Können Sie Beispiele nennen? Was entgeht einer Gesellschaft, wenn Kinderrechte verletzt werden?

Krappmann: So wichtig uns die Kinderrechte sind, so gut wissen wir jedoch auch, dass mit ihrer Einhaltung nicht alle Probleme dieser Welt gelöst werden können. Aber wir wissen – und die Wissenschaft untermauert es –, dass Gewalt gegen Kinder die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Menschen mit Gewalterfahrung wieder gewalttätig werden. Armut ist ein Teufelskreis. Nicht in erster Linie, weil das Geld fehlt, sondern weil Voraussetzungen fehlen, um Fähigkeiten ausreichend zu entwickeln und Handlungsstrategien aufzubauen. Für die Autoren des Buches war besonders relevant, dass Kinder, die nicht gehört werden und keine Erfahrung von Wirksamkeit ihrer Beteiligung erleben, wenig Vertrauen entwickeln, mit anderen gemeinsam Probleme zu beheben. Das belastet Prozesse demokratischer Meinungsbildung und die Handlungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger.

Online-Redaktion: Welche Forderungen im Manifest halten Sie für besonders elementar? Und wer soll sie umsetzen?

Krappmann: Grundlegend für das Manifest sind die Feststellungen der Kinderrechtskonvention, dass Kinder junge Menschen mit Rechten sind, deren Wohl – nicht momentanes Wohlfühlen, sondern deren wohlbedachte Lebensinteressen vorrangige Berücksichtigung erhalten müssen. Diese Kinder sind an der Gestaltung und Zielsetzung ihres Lernens und Lebens in der Schule zu beteiligen, und zwar mit Gewicht. Für Kinder ist wichtig, dass die Menschen, die sie bei der Entwicklung und beim Lernen begleiten, sich nach diesen Prinzipien verhalten. Dies verlangt viel Umdenken und Selbstbeobachtung. Kinderrechte, Kinderinteressen und Beteiligung müssen auch in die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer und in die Vorbereitung der Schulleitungen auf ihre Aufgaben aufgenommen werden.

Trotz aller hervorragenden Beispiele von Schulen, die sich schon lange für Kinderrechte einsetzen, sind auch grundlegende politische Entscheidungen nötig. Derzeit stehen Schulleistungsvergleiche und Wirtschaftskraft aus meiner Sicht zu sehr im Vordergrund. Desto dringender ist, dass Schulen tätig werden. Immer mehr Schulen begreifen diese Aufgabe, wie Schulnetzwerke, Schulverbünde und Schulpreise belegen. In dieser Hinsicht sind die Manifest-Unterstützer durchaus hoffnungsvoll.

Online-Redaktion: Welche guten Beispiele für Kinderrechte in der Schule sehen Sie bereits?

Krappmann: Die Einrichtung von Klassenräten breitet sich aus, in denen alle Fragen des Lernens und Schullebens besprochen werden, keineswegs nur Beschwerden, sondern gerade auch Aufgaben der gemeinsamen Verantwortung. Lehrkräfte sprechen mit Schülerinnen und Schülern die Lern- und Arbeitspläne ab, wodurch übrigens Schulleistungen und Interessen gefördert werden.

Es gibt viele Initiativen, in denen sich Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern und manches Mal auch zivilgesellschaftliche Organisationen um Kinder mit Schwierigkeiten aller Art oder um kommunale und Umweltprobleme kümmern, von alltäglichen Hilfen bis manchmal zum Protest gegen die Abschiebung eines Kindes aus der Schulklasse. Doch entscheidend ist, dass den Schülerinnen und Schülern nicht erzählt wird, was sie später einmal tun sollen, sondern sie selbst analysieren, urteilen und übernehmen Verantwortung jetzt. Einschließlich der Frustrationen, die demokratisches Entscheiden manchmal mit sich bringt.

Online-Redaktion: Sehen Sie die Ganztagsschule als Chance, Kinderrechte stärker im Schulalltag zu verankern?

Brita Hüning
© Britta Hüning

Krappmann: Ja, diese Chance sehen die am Manifest beteiligten Wissenschaftler und Praktiker. Aber diese Chance fällt nicht in den Schoß. Wenn Schule als Lehr- und Lernstätte so weiter läuft wie bisher und die zusätzliche Zeit vor allem dafür nutzt, sich nur weiter auszudehnen, werden Möglichkeiten verspielt. Das Manifest zielt nicht auf eine zusätzliche Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag, sondern auf neue Schwerpunkte im Bildungsauftrag der Schule. Weil es dabei nicht nur um Wissensvermittlung im Klassenzimmer geht, sondern auch um praktische Erfahrungen im Sozialleben der Schule und deren Umfeld, ist mehr Zeit am Tag hoch willkommen. Eine sich entschieden zu den Kinderrechten bekennende Ganztagsschule würde sehr helfen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Prof. Dr. Lothar Krappmann, Jg. 1936, studierte Philosophie und katholische Theologie, Soziologie und Neuere Geschichte und promovierte 1969 mit der Dissertation „Soziologische Dimensionen der Identität“. Seit 1969 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, von 1975 bis 2002 Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo er für Projekte zur sozialen und moralischen Entwicklung von Kindern, zur sozialen Ungleichheit unter Kindern in Schulklassen und zu Interaktionen und Beziehungen der Kinder mit Gleichaltrigen, Familie und Schule leitete. Seit 1982 ist er Honorarprofessor für Soziologie der Erziehung an der Freien Universität Berlin.

Prof. Krappmann war Vorsitzender der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung des 10. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung und ist ein international anerkannter Forscher im Bereich Kindheit und Kinderpolitik. Im Februar 2003 wurde er als eines von 18 Mitgliedern in den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child - CRC) gewählt und im Februar 2007 für weitere vier Jahre in diesem Amt bestätigt. 2011 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.

 

Lothar Krappmann, Christian Petry (Hrsg.) (2016): Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule: ein Manifest. Schwalbach: Debus Pädagogik.

Wolfgang Edelstein, Lothar Krappmann, Sonja Student (Hrsg.) (2014): Kinderrechte in die Schule. Schwalbach: Debus Pädagogik.

 

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