Demokratiebildung in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Schülerinnen und Schüler begeisterten mit ihren Initiativen für Demokratiebildung beim Fachtag „Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Ganztagsschule“ der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ in Essen.

Die Passanten in der Fußgängerzone von Waltrop im nördlichen Ruhrgebiet staunten im Mai 2014 nicht schlecht: 400 Tische standen dort aneinander gereiht, an beiden Seiten Stühle, eine Seite von 400 Schülerinnen und Schülern besetzt. Sie luden die Passanten ein, Platz zu nehmen und über ein Thema zu diskutieren, mit dem sie sich sechs Monate lang im Rahmen eines Schulprojekts beschäftigt hatten und das nun symbolisch auf einem Pappteller auf ihren Tischen beschrieben war.

Schülerinnen und Schüler an ihrem Stand
© Norbert Smuda

So zum Beispiel über Habil Kilic, der in Dortmund eines der ersten Mordopfer des NSU geworden war. Oder über Behxhet Ahmeti, der vor 20 Jahren aus den Schrecken des jugoslawischen Bürgerkriegs nach Deutschland floh, dann am Kraftwerk Datteln mitarbeitete und dessen drei Kinder heute studieren. Oder über ein Mädchen, das gegen ihre Magersucht kämpfte. Oder über einsame alte Menschen.

Zunächst gingen die Passanten vorüber, doch dann siegte doch die Neugier, und die Ersten kamen mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch. „Mit unserer Aktion 'Über den Tellerrand schauen – Sprachrohr sein' wollten wir denen eine Stimme geben, die in unserer Gesellschaft sonst nicht gehört werden“, berichtet Johanna aus der 10. Klasse der Städtischen Realschule Waltrop. „Mich selbst hat unser Projekt für Politik sensibilisiert, für die ich mich vorher nicht so interessiert habe. Und ich bin auch selbstbewusster geworden, früher war ich sehr schüchtern.“

Johanna, ihre Mitschülerin Jenny und Lehrerin Ursula Nauen sind am 31. August in das Haus der Technik in Essen gekommen, um auf dem Fachtag „Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Ganztagsschule“ der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Nordrhein-Westfalen ihre Projekte vorzustellen, die sie in den vergangenen Jahren durchgeführt haben. Diese sind aus der Initiative der Schülerinnen und Schüler und dank des nimmermüden Einsatzes von Ursula Nauen und ihrer Kollegin Claudia Polzin realisiert worden.

Schweigemarsch unter Polizeischutz

Im Projekt „Gegen das Vergessen – für die Zukunft“ begaben sich die Jugendlichen auf die Spuren jüdischen Lebens in Berlin und organisierten aus ihren Beobachtungen und Erfahrungen eine Ausstellung in der Stadthalle Waltrop. Bei „Weltoffen und bunt“ veranstalteten Schülerinnen und Schüler einen Schweigemarsch durch die Stadt mit selbst gestalteten Plakaten. Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, dass solche Aktionen unter Polizeischutz stattfinden müssen, aber laut Jenny „überwiegen die positiven Stimmen, und man bekommt nur wenige blöde Sprüche gedrückt“.

Das Geld für die Aktionen haben die Schülerinnen und Schüler mit einen Sponsorenlauf „erlaufen“, bei dem 16.000 Euro zusammenkamen, sodass sogar noch Mittel für andere Projekte übrig blieben. Für ihr Engagement ist die Realschule durch eine Einladung zur „Lernstatt Demokratie“ im bundesweiten Wettbewerb „Demokratisch Handeln“ belohnt worden. Die „Lernstätten“ kann Johanna nur wärmstens empfehlen: „Man trifft Gleichgesinnte aus anderen Schulen, das stärkt einen. Dort haben wir unglaublich viel gelernt, auch die Lehrer haben sich ausgetauscht und etwas mitgenommen.“

Es sind solche Beispiele, die die rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem Fachtag begeistern. Die Serviceagentur hat viele Schülerinnen und Schüler eingeladen und lässt sie auf dem Podium und in den Workshops zu Wort kommen. Die Bedeutung des Themas Partizipation unterstreicht die Anwesenheit gleich zweier Ministerinnen: Schulministerin Sylvia Löhrmann und Familienministerin Christina Kampmann.

„Demokratie muss gelernt werden“

„Es ist etwas in Bewegung gekommen“, konstatiert Ministerin Löhrmann. „Partizipation ist ein Teil der Demokratiebildung und stärkt die demokratische Kultur, was ein Auftrag der Schule ist. Ganztagsschulen bieten mehr Zeit und Raum für Beteiligung – da schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Ministerin Kampmann ergänzt mit einem Zitat des Sozialphilosophen Oskar Negt: „Demokratie ist die einzige Staatsform, die gelernt werden muss.“ Das treffe auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu, aber es sei gut, sich so früh wie möglich darüber zu unterhalten, wie Demokratie funktioniere. Die Kinder könnten dabei als Experten in eigener Sache auftreten.

Stand auf dem Fachtag „Partizipation von Kindern und Jugendlichen“
© Norbert Smuda

So wie in der Offenen Ganztagsgrundschule Pannesheide in Herzogenrath (Städteregion Aachen), die wie die Realschule Waltrop „Schule ohne Rassismus“ ist und am Wettbewerb „Demokratisch handeln“ teilgenommen hat. Dort war den Schülerinnen und Schülern aufgefallen, dass das Nachbargrundstück leer und verwildert war. Viel lieber hätten sie es als Naturspielplatz für ihre Schule genutzt und machten sich daran, den Verwaltungsweg einzuschlagen.

Tatsächlich gelang es ihnen, den Bürgermeister von ihrem Vorhaben zu überzeugen, der den Erwerb des Grundstücks für die Schule vorantrieb, sodass die Kinder dort heute herumtoben können. Doch nicht grenzenlos wild: Schülerinnen und Schüler passen als „Heckenschützer/innen“ selbst darauf auf, dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nicht durch die Hecken rennen und diese beschädigen, wenn nötig, auch mit Sanktionen.

Im Schulalltag können die Schülerinnen und Schüler ihre Wünsche und Kritik auf die an den Klassentüren hängenden KLOGS-Listen (Kinderleitung Offene Ganztagsschule) schreiben, die dann von den Lehrkräften und den pädagogischen Partnern aufgegriffen werden. In Zeugnissen für die Betreuerinnen und die Lehrkräfte beurteilen die Kinder die Erwachsenen. Die Ergebnisse fließen in die Mitarbeitergespräche ein, wie OGS-Leiterin Nicole Krawczyk in der Podiumsrunde in Essen erklärte.

Müsli der Woche und Haushaltshoheit

An der Sophie-Scholl-Gesamtschule in Remscheid haben Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Jahrgänge im Februar 2016 den Arbeitskreis „Gesunde Schulverpflegung“ gegründet. Eine „Müslibar“ bietet nun an vier Wochentagen die Möglichkeit, sich ein Wunschmüsli zusammenzustellen oder das „Müsli der Woche“ zu erwerben. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in verschiedenen Gremien, die sich um Einkauf, Werbung, Finanzen und den Verkauf an der Sophie-Müslibar kümmern. Als nächstes plant der Arbeitskreis eine „Snacking Bar“, für die das eingenommene Geld genutzt wird.

Gleich über 5.000 Euro konnten sich im April 2015 die Schülerinnen und Schüler der Albert-Schweitzer-Realschule in Dortmund-Nette freuen. Die Stiftung „Jugend und Demokratie“ hatte der Schule im Rahmen des Pilotprojekts „Schülerhaushalt“ 4.000 Euro gespendet. Weitere 1.000 Euro steuerte der Förderverein bei. Die Schülerinnen und Schüler entschieden in einem demokratischen Prozess selbst, wofür die Summe verwendet werden sollte.

Sylvia Löhrmann und Christina Kampmann beim Rundgang
Ministerin Sylvia Löhrmann und Ministerin Christina Kampmann beim Rundgang © Norbert Smuda

Die Jugendlichen machten Vorschläge, die sie in den Klassen und auf dem Schulhof diskutierten. Einige Wünsche wie die Shisha-Bar schieden im Vorfeld aus, die qualifizierten Vorschläge wurden auf Whiteboards in der Schule vorgestellt. Die Schülervertretung programmierte dann eine Internet-Seite, auf der alle für maximal drei Vorschläge stimmen konnten. Am Ende landeten 20 Vorschläge auf den rund 500 Wahlzetteln. Die Schülerinnen und Schüler wünschten sich Fußballtore, einen Ruheraum, Sitzmöglichkeiten auf dem Schulhof, neue Fußbälle und eine neue Schaukel, aber auch die Verschönerung der Pausenhalle und eine neue Ausstattung der Toiletten.

Als sich am Schluss der Tagung einige Schulleitungen und Lehrkräfte mit zweifelnden Stimmen zu Wort meldeten, ob solche demokratischen Verfahren denn wohl auch bei ihnen funktionieren könnten, war es wiederum an den Schülern, sich einzumischen. „Mir tut es leid, dass Sie sich hier so einen Kopf machen“, meinte eine Schülerin der Albert-Schweitzer-Realschule. „Wir haben einfach losgelegt, und das hat prima geklappt.“

 

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