Ernährungsbildung: Zeit für die Koch-AG im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

Jede dritte Hamburger Ganztagsgrundschule beteiligt sich an der Initiative „Ich kann kochen!“ Sarah Wiener, vielfach ausgezeichnete Initiatorin der Ernährungsbildung für Kinder und Jugendliche im Interview.

Sarah Wiener
Sarah Wiener © Laurence Chaperon

Gesunde Ernährungsgewohnheiten lassen sich bereits von klein auf erlernen. Die Ernährungsinitiative „Ich kann kochen!“ bildet deutschlandweit „Genussbotschafterinnen“ und „Genussbotschafter “ aus, die praktische Ernährungsbildung an Kita- und Grundschulkinder vermitteln. In Hamburg haben bereits 29,5 Prozent aller Ganztagsgrundschulen einen solchen Genussbotschafter. Bildungssenator Ties Rabe wurde gerade zum Schirmherrn und Botschafter der bundesweit größten Ernährungsinitiative ernannt. Wir haben mit Sarah Wiener über ihr Herzensprojekt gesprochen.

Online-Redaktion: Frau Wiener, Ihre bundesweite Ernährungsinitiative „Ich kann kochen!“ ist ein Projekt der Sarah Wiener Stiftung gemeinsam mit der BARMER. Worum geht es dabei?

Sarah Wiener: Mit „Ich kann kochen!“ machen wir Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte und andere Fachkräfte mit kostenfreien Fortbildungen und Materialien fit für das Kochen mit Kindern. Als „Genussbotschafterinnen“ und „Genussbotschafter“ begeistern sie dann die Kinder in ihren Einrichtungen für eine ausgewogene, vielseitige und vor allem genussvolle Ernährung. Die Kinder erforschen die Lebensmittel mit allen Sinnen und lernen, eine Mahlzeit zuzubereiten. Das sind wertvolle Erfahrungen, die ihnen helfen, etwas für ihre Gesundheit zu tun. „Ich kann kochen!“  stärkt aber auch viele andere Fähigkeiten wie Kreativität, Selbstvertrauen, Rechnen und so weiter.

Online-Redaktion: Warum ist es wichtig, Kinder so früh wie möglich in der Küche und beim Kochen einzubeziehen?

Wiener: Da fallen mir viele Gründe ein. Erstens: Wir lernen als Kinder, was uns schmeckt. Da hilft es, wenn wir von Anfang an den puren Genuss und möglichst viele Geschmäcker kennenlernen, den unsere Grundnahrungsmittel bieten können: frische Tomaten für ein gekochtes Sugo, statt der überzuckerten Fertigsauce. Das Sugo kann ja auch jeden Tag etwas anders schmecken. Zweitens: Kochen lernt man nur durch Kochen! Kochen zu können ist eine Superpower für die Kinder, die ihnen hilft, in einer Welt voller hochverarbeiteter Lebensmittel auf sich, ihren Körper und ihre Bedürfnisse zu hören.

Ich bin überzeugt: Kinder, die schon früh Kocherfahrungen sammeln, Geschmäcker ausprobieren, mit Genuss essen und die Herkunft unserer Lebensmittel kennenlernen, ernähren sich gesünder und verhalten sich nachhaltiger gegenüber ihrer Umwelt. Und drittens: Beim Kochen sind die Kinder selbstwirksam. Was glauben Sie, wie stolz ein selbst zubereitetes Essen macht?!

Online-Redaktion: Was genau ist die Aufgabe der „Genussbotschafterinnen“ und „Genussbotschafter“, und an wie vielen Schulen kommen sie deutschlandweit zum Einsatz?

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© Sarah Wiener Stiftung/ Thomas Panzau

Wiener: Unsere Genussbotschafterinnen und Genussbotschafter arbeiten in Kitas, Grundschulen oder Horten und bieten in ihren Einrichtungen praktische Koch- und Ernährungskurse für Kinder an. Sie vermitteln Wissen über Lebensmittel und unser Essen, kochen mit den Kindern und begeistern sie, Frisches zu essen und selbst zuzubereiten. Die Kinder können dann sagen: Ich kann kochen! Ich kann mir selber ein köstliches Gericht aus frischen Zutaten zubereiten! Und wie der Name schon sagt: Für uns steht der Genuss im Vordergrund. Mittlerweile sind wir mit der Initiative deutschlandweit bereits an fast 3.000 Grundschulen und 1.000 Horten sowie an über 1.300 weiterführenden Schulen vertreten. Und es sollen natürlich noch viel mehr werden.

Online-Redaktion: Können sie ein Beispiel geben, wie so eine Unterrichtsstunde mit einer Genussbotschafterin aussieht? Wie lernen die Kinder, was gutes Essen ist?

Wiener: Die Kinder lernen Küchentechniken wie Schneiden, Wiegen oder Braten und den richtigen Umgang mit Lebensmitteln – und dass ein Essen mit frischen Zutaten hervorragend schmeckt. Je nach Stundenplan und zeitlichen Möglichkeiten gehört zu einem Koch-Angebot das gemeinsame Planen, das Einkaufen, die Vorbereitung des Arbeitsplatzes – sehr beliebt ist unser Messerparkplatz – und dann natürlich das Kennenlernen der Lebensmittel. Wie sieht beispielweise so eine Karotte eigentlich aus? Wisst ihr alle, wie die wächst? Was kann ich mit dem Grün machen? Dann wird gemeinsam geschnippelt, zubereitet und der Tisch gedeckt – und genossen. Zur Karottensuppe gibt es noch verschiedene Kräuter oder ein paar Kerne, wie jeder mag. Ha – und am Schluss wird aufgeräumt!

Online-Redaktion: In Hamburg sind bereits alle Grundschulen Ganztagsschulen. Welche Chancen bietet der Ganztag, um Schülerinnen und Schülern gesunde Ernährung näherzubringen?

Wiener: Der Ganztag bietet zum einen die Möglichkeit, noch mehr Kinder mit einem gesunden Mittagessen zu erreichen, bestenfalls durch ein vor Ort gekochtes frisches und gut schmeckendes Essen. Im Rahmen der Europäischen Kindergarantie hat sich Deutschland ja auch verpflichtet, bedürftigen Kindern und Jugendlichen bis 2030 einen effektiven Zugang zu gesunder Ernährung sowie einen effektiven und kostenlosen Zugang zu mindestens einer gesunden Mahlzeit pro Schultag zu ermöglichen. Darüber hinaus bietet der Ganztag mehr Zeit für Angebote zur praktischen Ernährungsbildung wie eine regelmäßige Koch-AG am Nachmittag. Da stecken also ganz viele Chancen drin!

Online-Redaktion: Vor kurzem konnten Sie Hamburgs Schulsenator Ties Rabe als Botschafter der Initiative gewinnen. Wie haben Sie den Politiker überzeugen können, Ihr Projekt zu unterstützen?

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© Sarah Wiener Stiftung/ Thomas Panzau

Wiener: Da war gar nicht viel Überzeugungsarbeit nötig. In Hamburg sind wir schon sehr häufig mit „Ich kann kochen!“ an den Schulen vertreten, so dass dem Schulsenator die Initiative bereits ein Begriff war. Wir haben ihm erzählt, was wir so machen – und er war gleich begeistert von der Idee, Botschafter unserer Initiative in Hamburg zu sein. Jetzt hilft er uns, dass sich noch mehr Lehrerinnen und Lehrer bei uns fortbilden.

Online-Redaktion: In der Hansestadt macht rund ein Drittel aller Grundschulen bei der Initiative mit, inzwischen sind auch einige weiterführende Schulen dabei. Wollen Sie das Angebot auf ältere Kinder und Jugendliche ausweiten?

Wiener: Der Fokus der Initiative liegt auf Kitas, Grundschulen und Horten, auch, weil wir bis zum Alter von circa zehn Jahren noch sehr gut Einfluss auf das Ernährungsverhalten nehmen können. Pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte an weiterführenden Schulen sowie aus anderen Einrichtungen können sich aber gerne bei uns melden.

Online-Redaktion: Zum Schuljahr 2023/2024 werden Ernährungs- und Verbraucherbildung neu in den Hamburger Bildungsplänen verankert. Reicht das, oder teilen Sie die Forderung nach einem eigenen Unterrichtsfach Ernährung?

Wiener: Das ist ein tolles Signal von Hamburg! Wenn wir wollen, dass die Schule unsere Kinder auf das Leben vorbereitet, dann gehört Ernährungsbildung dazu. Ob als Schulfach in den Lehrplänen oder als regelmäßige Koch-AG. Langsam tut sich was, und wir erkennen, wie wichtig unsere Ernährung ist. Die entstehende Ernährungsstrategie des Bundes sieht in Absprache mit den Ministerien der Länder ja auch ganz klar eine Stärkung der Ernährungskompetenz von Kindern und Jugendlichen vor. Dazu gehört aus meiner Sicht auch, dass die Ernährung einen festen Platz in den Ausbildungen von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrerinnen und Lehrern bekommt. Denn sie sind die Vorbilder.

Online-Redaktion: Schulessen soll möglichst wenig kosten. Ist damit eine gute und gesunde Küche möglich?

Wiener: Tatsächlich ist gute und gesunde Küche günstiger als gedacht. Auch Studien bestätigen, dass sie nicht teurer sein muss. Sie orientiert sich an den Grundnahrungsmitteln, die möglichst wenig verarbeitet sind. Denken Sie etwa an Pellkartoffeln mit Kräuterquark und vielleicht ein bisschen Leinöl. Für das Schulessen braucht es wegen der großen Mengen eine gute und effiziente Planung. Frisches Obst und Gemüse sind günstiger, wenn sie gerade Saison haben.

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© Sarah Wiener Stiftung/ Thomas Panzau

Regionale Lebensmittel sind nicht nur nachhaltiger und umweltfreundlicher wegen der kürzeren Transportwege, sondern auch kostengünstiger. Pflanzliche Produkte sind oft preiswerter als tierische und eine gute Grundlage für vielseitiges Essen. Hülsenfrüchte wie Erbsen oder Linsen sind eine großartige Alternative und machen lange satt. Wenn überhaupt, dann lieber wenig, aber dafür besseres Fleisch. Und es lohnt sich, Lebensmittel möglichst komplett zu verwerten.

Online-Redaktion: Wie sieht Ihrer Meinung nach eine gute Schulmensa aus?

Wiener: Eine richtig gute Schulmensa kocht vor Ort frisch in der Schule, basiert auf regionalen, saisonalen und wenn möglich auch ökologischen Lebensmitteln und steht im Einklang mit den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Sie bietet frische Salate und Rohkost und Obst, ungesüßte Getränke, und die Kinder können das Essen selbst wählen und auch die Portionen bestimmen. Essatmosphäre und Akustik sind auch wichtig. Ist es gemütlich? Ist es laut? Essen soll schließlich nicht nur Nahrungsaufnahme sein, sondern genussvoll und in Gemeinschaft.

Online-Redaktion: Es gibt noch weitere Angebote der Sarah Wiener Stiftung für Kinder oder auch für Eltern.

Wiener: Neben „Ich kann kochen!“ haben wir gemeinsam mit der BARMER die Familienküche geschaffen. Das ist ein digitales Angebot, das Eltern im Essalltag unterstützt, Lust auf gemeinsames Kochen macht und Familien beim Essenlernen der Kinder begleitet. Und mit weiteren Förderpartnern setzen wir Angebote wie Tagesexkursionen für Kitagruppen oder Grundschulkinder auf Biobauernhöfe und Bio-Betriebe um, bilden Mitarbeitende aus Familienzentren in Berlin in Ernährungsbildung fort und entwickeln neue Bildungsprogramme, damit alle Kita- und Grundschulkinder essen, kochen und genießen lernen. Auf unserer Webseite finden Eltern und alle, die Kinder begleiten, ganz viele Inspirationen.

Online-Redaktion: Frau Wiener, Sie sind heute eine bekannte Köchin. Haben Sie sich schon als Kind fürs Kochen interessiert? War Ernährung ein Thema an Ihrer Schule?

Wiener, Rabe und Schulleiterin Antje Kılıçlı
Wiener, Rabe und Schulleiterin Antje Kılıçlı © BSB/Sophia Pasternack

Wiener: Ich habe mich schon, seitdem ich denken kann, fürs Kochen interessiert. Weil ich wohl so gern gegessen habe und immer hungrig war. Deswegen habe ich auch so ungefähr mit 14 Jahren an einem Kochkurs in meinem Mädcheninternat teilgenommen. Damals hat man weder über Ernährung geredet noch viel gewusst. Obwohl ich kochen für Frauen theoretisch wegen der Emanzipation furchtbar fand, wollte ich es doch lernen und wusste schon damals: Kochen macht eben auch unabhängig und bringt Freude.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Sarah Wiener, Jg. 1962, gründete 2007 die gemeinnützige Sarah Wiener Stiftung, die Kinder für eine vielseitige und nachhaltige Ernährung begeistert und ihnen einen wertschätzenden Umgang mit Lebensmitteln zeigt. 2015 startete die Stiftung mit der Krankenkasse BARMER die Ernährungsinitiative „Ich kann kochen!“. Seit dem Start wurden bundesweit über 26.000 „Genussbotschafterinnen und Genussbotschafter“ qualifiziert und über eine Million Kinder erreicht. „Ich kann kochen!“ ist seit 2017 Projektpartner von IN FORM im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung für gesunde Ernährung und mehr Bewegung in Deutschland. Mit der „Familienküche“ hat „Ich kann kochen!“ 2021 ein digitales Angebot geschaffen, das Eltern im Essalltag unterstützt und Familien beim Essenlernen der Kinder begleitet.

2022 beteiligte sich die Stiftung auch am Aktionsprogramm „Auf!leben – Zukunft ist jetzt“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung zum Aufholen nach der Corona-Pandemie mit den Bauernhoffahrten „Raus auf den Biobauernhof!“ für Kitas und Kommunen.

Die Arbeit der Stiftung wurde mehrfach ausgezeichnet. So wurde 2014 das Projekt „Landschaft schmeckt“ in Kooperation mit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt zum Projekt der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ernannt. Die Projekte „Ich kann kochen!“ (2017) und das Projekt „Vom Acker in den Mund!“ (2020) erhielten die „Wir sind IN FORM“-Plakette des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft und des Bundesministeriums für Gesundheit. Seit 2011 ist Sarah Wiener Botschafterin der UN-Dekade Biologische Vielfalt und seit 2013 Patin der Kampagne „Rettet unsere Böden". 2013 wurde sie vom französischen Botschafter als Ritter des Ordre national du Mérite ausgezeichnet. Die Sarah Wiener Stiftung ist Mitunterzeichnerin der „Charta der Vielfalt“.

Veröffentlichung:

Sarah Wiener Stiftung (Hg.) (2014): Landschaft schmeckt. Nachhaltig kochen mit Kindern. Weinheim & Basel: Beltz.

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