Saarland: "Ernährung ist ein Bildungsauftrag" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Ernährungs- und Verbraucherthemen sollten wie Lesen, Rechnen und Schreiben fester Bestandteil des Unterrichts werden. Dafür plädiert der Leiter der Vernetzungsstelle Schulverpflegung Saarland, Christoph Bier, im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org.

Online-Redaktion: Die Sommerferien haben begonnen – ein guter Moment, jenen Kindern, die die Ferienbetreuung nutzen, gesunde Ernährung näher zu bringen?

Christoph Bier: Sicher ist das eine gute Gelegenheit, die inzwischen einige Träger der Nachmittagsangebote auch nutzen. Das hören wir nicht zuletzt bei unseren Fortbildungen. Dort stellen wir zahlreiche Unterrichtsmaterialien vor. Sie werden unter anderem vom aid-infodienst entwickelt und zur Verfügung gestellt. Da gibt es zum Beispiel den aid-Ernährungsführerschein für dritte und vierte Klassen, die SchmExperten für die Sekundarstufe I, die aid-Ernährungspyramide oder den Ordner Esspedition Schule. Das alles kann man wunderbar in den Ferien nutzen. Wobei es nicht nur darum geht, ein nettes Ferienangebot zu unterbreiten.

Online-Redaktion: Sondern?

Bier: Ernährungs- und Verbraucherbildung müssen in den Regelunterricht implementiert werden wie Lesen, Rechnen und Schreiben. Ernährung ist eine Kulturtechnik, die wir lernen müssen. Wir müssen dem Ernährungsinstinkt eine Ernährungskultur entgegensetzen, wenn die Gesellschaft nicht an Gesundheit einbüßen soll. Die Gesundheit und damit das individuelle Leid ist ein Aspekt, der verantwortliche und nachhaltige Umgang mit Ressourcen ein anderer. Und schließlich hat Ernährung unglaubliche Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaft. Schon jetzt werden nach Schätzungen von Ilse Aigner jährlich 100 Milliarden Euro in Deutschland für die Folgen ernährungsmitbedingter Krankheiten ausgegeben. Stellen Sie sich vor, man könnte dieses Geld in Bildung und Betreuung stecken.

Online-Redaktion: Ist die Bedeutung des Themas in den Schulen angekommen?

Bier: Wir sehen eine positive Entwicklung. Viele Schulen und die Träger der freiwilligen Ganztagsangebote stellen sich der Herausforderung. Alltag ist gute Schulverpflegung und Ernährungsbildung jedoch noch nicht. Die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Beteiligten machen eine Umsetzung einer gesunden und verantwortungsvollen Schulverpflegung schwierig. Fangen wir mit den Kindern an. Vordergründig geht es ihnen nur um den Geschmack. Sie möchten essen, was ihnen schmeckt. Wenn man mit ihnen aber am Thema perspektivisch arbeitet, etwa, in dem man sie fragt, ob sie das, was sie heute mögen, vier Wochen lang jeden Tag essen wollen, beginnen sie zu reflektieren. Abwechslung spielt dann beispielsweise eine große Rolle. Das ist Potenzial, das wir frühzeitig nutzen sollten.

Online-Redaktion: Und die Eltern?

Bier: Diejenigen, die sich interessieren, wünschen sich, dass das Essen in der Schule gesund und preiswert sein soll. Wenn man diejenigen anspricht, die sich weniger interessieren, verlangen diese mehr Fleisch. Und leider müssen wir feststellen, dass sich nur wenige darüber Gedanken machen, ob Ernährung, Verpflegung und Verbraucherschutz feste Themen im Regelunterricht sein sollten. Ernährung wird als sehr privates, geradezu intimes Thema wahrgenommen, bei dem man sich nur ungern reinreden lässt.

Online-Redaktion: Müssten das Lehrkräfte und Träger der Ganztagsangebote vorantreiben?

Bier: Neben der Politik wären sie diejenigen, die das noch stärker auf den Weg bringen könnten. Viele engagieren sich bereits in dieser Richtung. Noch aber fühlen sich viele Pädagoginnen und Pädagogen für die Schulverpflegung nicht verantwortlich. Im Saarland wird die Mittagsverpflegung ja von den Trägern der Nachmittagsbetreuung organisiert. Die wiederum betrachten das Mittagessen mitunter als lästiges Übel. Sie sind Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagogen und müssen „das“ auch noch machen. So wird das Mittagessen ein ärgerlicher Versorgungsauftrag. Den Bildungsauftrag und die damit verbundenen Chancen sehen sie in der Regel nicht. Das gilt übrigens häufig auch für die Gesundheitspolitik. Das enorme präventive Potenzial einer guten Schulverpflegung in Kombination mit einer modernen Verbraucher- und Ernährungsbildung wird nicht erkannt.

Online-Redaktion: Sie malen ein düsteres Bild...

Bier: Düsteres Bild würde ich nicht sagen, eher ein realistisches. Und es nutzt ja auch nichts und niemandem, sich die Sache rosarot zu malen. Um gute Lösungen zu finden, muss man die Probleme erkennen und benennen. Doch ich möchte noch einmal betonen: Viele Schulen befinden sich auf dem richtigen Weg. Auch das Saarland hat mit dem neuen Förderprogramm für die freiwillige Ganztagsschule einen enorm wichtigen und richtigen Schritt getan. Es darf nur nicht der einzige bleiben.

Online-Redaktion: Sie plädieren dafür, Ernährungsbildung in den Regelunterricht zu integrieren. In welcher Form?

Bier: Da streiten sich die Experten. Ich war eigentlich immer der Auffassung, es müsse ein eigenes Fach dafür geben. Viele andere sind der Überzeugung, dass es zeitgemäßer wäre, die Ernährung und damit auch die tägliche Schulverpflegung fächerübergreifend zu behandeln. Ich kann mir das auch gut vorstellen. In Mathe wird ausgerechnet, wie viel von welchen Zutaten erforderlich ist. Im Kunstunterricht wird der Speiseplan attraktiv gestaltet, im Englischunterricht übersetzt. Physik und Chemie spielen eine Rolle. Und nicht zu vergessen die religiösen Aspekte von Ernährung. Bei allem ist wichtig: Wenn wir das Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler für das komplexe Thema schärfen wollen, müssen wir sie einbinden. Zumal die meisten von ihnen sich gerne kreativ in die Gestaltung von Speiseplänen, ja auch von Mensen einbringen. In unseren Schülern und Schülerinnen steckt ein enormes Potenzial, das wir durch Partizipation nutzen könnten.

Online-Redaktion: Bietet die Ganztagsschule dafür besonders gute Voraussetzungen?

Bier: Auf jeden Fall. Ganztagsschule kann fünfmal pro Woche Essen im positiven Kontext anbieten. Dazu zählt das Essen mit Freunden – ein Gemeinschaftserlebnis. Optimal ist, wenn Schule und Träger sich der Ernährungsfrage gemeinsam widmen. Sie sollte kein Betätigungsfeld allein für die Kinder der freiwilligen Ganztagsangebote sein. Da erreichen wir ja nicht alle. Und warum sollen die Kinder, die den Ganztag nicht nutzen, nicht auch lernen und erfahren, wie man eine Möhre so hält, dass man sich beim Schälen nicht schneidet. Wer einmal die Begeisterung erlebt hat, wenn die Kinder in kleinen Gruppen Brotgesichter gestalten oder Rohkost mit Dips zubereiten, wird darauf im Unterricht nicht mehr verzichten wollen. Oft lernen die Kinder ganz einfache und doch so wichtige Sachen. Warum sollte man beim Essenzubereiten Ringe ausziehen? Warum die Haare hochstecken?

Ein Auftrag von Schule ist es meines Erachtens, Kinder kompetent zu machen. Dazu gehört in diesem Fall, eine Routine in der Küche zu entwickeln. Habitualisierung ist der Schlüssel zu einer lust- und genussbetonten Ernährung, die ausgewogen ist und Spaß macht. Projekte, die sich diesem Komplex widmen,  bieten die Träger der freiwilligen Ganztagsangebote übrigens extrem gerne an. Das mag wie ein Widerspruch zu meiner Aussage klingen, für viele Träger sei die Schulverpflegung ein ärgerlicher Versorgungsauftrag. Es ist aber kein Widerspruch. Denn in solchen Projekten bringen die Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagogen den Kindern etwas bei, machen sie kompetent. Das betrachten sie als ihren Auftrag.

Online-Redaktion: Sie haben eben von der Chance des Ganztags gesprochen. Warum ist es so wichtig, dass Schule und Träger bei diesem Thema harmonieren?

Bier: Stellen Sich einmal vor, am Vormittag erfahren die Kinder wie wichtig ausgewogene Ernährung ist und mittags erhalten sie dann regelmäßig Pizza und süße Getränke. Die Träger müssen sich überlegen, ob sie beim Mittagessen etwas anbieten können, das nicht dem am Vormittag Gelehrten entspricht. Wenn Kinder so einen Widerspruch erfahren, können sie zynisch werden und das Gehörte einfach nicht ernst nehmen.

Online-Redaktion: Und bei alledem müssen auch noch die Caterer mitspielen...

Bier: Die Speisenanbieter sind eine unserer wichtigsten Zielgruppen. Ihnen möchten wir klar machen, auf welch sensiblem Markt sie tätig sind. Es geht um Ernährungs- und Geschmacksbildung und nicht darum, Kindern in der Mittagspause mit Essen à la carte zufrieden zu stellen.

Online-Redaktion: Wie reagieren die Caterer, die meist mit wenig Geld Ausgewogenes und qualitativ Gutes liefern sollen, auf Ihre Ausführungen?

Bier: Das hängt oft von den Berufsjahren ab. Je länger mancher Koch im Geschäft ist, umso schwerer tut er sich. Denn die Schulverpflegung ist ein junger Markt. Die längste Zeit seiner Berufstätigkeit wird er im à-la-carte-Geschäft tätig gewesen sein. Je größer ein Unternehmen ist, desto flexibler ist es häufig und erkennt auch die Chancen dieses neuen Marktes. Aber auch sie haben zu kämpfen, mit den unterschiedlichen Interessen der Beteiligten und einem absurden Preisdruck. Ein Grund mehr, dass Ernährung in den Lehrplänen aller Schulformen fest verankert werden sollte. Wir brauchen einen Bewusstseinswandel, der langfristig dazu führen kann, dass sich die Interessen und Vorstellungen nicht so stark unterscheiden wie derzeit häufig noch.

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