Ernährungsbildung im Ganztag: Zeit, Raum und Beteiligung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Gutes Mittagessen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Zur Ernährungsbildung in Ganztagsschulen bedarf es Zeit, Raum und Beteiligung, so Holger Renner, Sozialpädagoge und Mitautor des Buches „Kinder essen im Ganztag“.

Holger Renner
Holger Renner © Rüdiger Sinn

Online-Redaktion: Hat die Ernährungsbildung in Schulen schon den ihr gebührenden Stellenwert?

Holger Renner: Viele Ganztagsschulen beschäftigen sich intensiv mit der Frage, welche Bedeutung Mensa und Ernährung über die reine Funktion des Essens hinaus haben. Damit sind sie hochaktuell. Denken wir nur an die täglichen Nachrichten rund um Natur- und Umweltschutz sowie das Klima. Womit man geradezu automatisch bei einem verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, aber auch dem eigenen Körper und der Gesundheit ist. Diese Schulen greifen auf, was Kinder und Jugendliche intensiv beschäftigt. Noch nie entschieden sich soviele Menschen für vegetarische Ernährung.

Kurzum: Das Thema bewegt. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass es immer noch zu viele Schulen gibt, in denen Essen und Lebensmittel keine Wertigkeit erfahren. Da gibt es Mittagessen für die Schülerinnen und Schüler, weil es so sein muss. Mehr nicht. Manchmal wird das Essen dann leider nur sozusagen als „Abfallprodukt“ zwischen Vor- und Nachmittag gesehen. Daran sollten wir arbeiten.

Online-Redaktion: Sie sind studierter Sozialpädagoge mit Bachelor in französischer Literatur- und Sprachwissenschaft. Woraus resultiert Ihre Expertise im Ernährungsthema?

Renner: (schmunzelt) Vor mehr als 20 Jahren war ich als Sozialarbeiter an der Grundschule in Ertingen auch für den Ganztag und damit für die Begleitung des Mittagessens verantwortlich. Da wurde der Grundstein für mein Interesse gelegt. Damals war das alles noch recht einfach und pragmatisch gestrickt. Wir bekamen das Essen vom benachbarten Altersheim. Es wurde sozusagen gegessen, was auf den Tisch kam. Von Optik auf dem Teller keine Spur. Das Essen wurde im Kunstraum ausgegeben. Ich begann mich zu fragen, ob das wohl alles so sein müsste.

Ein paar Jahre später begleitete ich in der Schulverwaltung Biberach an der Riß den Neubau einer ganztägigen Realschule. Da nahmen die Planung und der übergeordnete Sinn einer Mensa bereits einen breiten Raum ein. Das gilt auch für meine anschließende Tätigkeit bei der Stadt Freiburg, wo ich bis 2022 die Schulkindbetreuung als pädagogische Fachberatung mitgestaltet habe. All diese Stationen und Aufgaben haben meine Sinne geschärft und mein Wissen zu dieser Thematik vertieft. Dazu gehört natürlich der permanente Austausch mit Ernährungsberaterinnen und -beratern.

Online-Redaktion: Eine Ihrer Thesen lautet, dass das Essen in Ganztagsschulen so gestaltet sein muss, dass Kinder Freude daran haben. Wie muss es also aussehen?

Zeit, Raum und Beteiligung
Zeit, Raum und Beteiligung © Britta Hüning

Renner: Drei Stichworte sind mir in diesem Zusammenhang wichtig: Zeit, Raum und Beteiligung. Zusammengefasst könnte man sagen, dass Essen in der Schule nicht nur die Nahrungsaufnahme, sondern ganz viele pädagogische Momente im Blick haben sollte. Es geht um Ernährungsbildung. Darum, dass wir frühzeitig bei Kindern die Sinne für den Wert von Nahrungsmitteln schärfen, für den Umgang mit ihnen, ihre Verwendung. Es geht um die Auswirkungen auf den eigenen Körper, aber auch um Auswirkungen auf die Natur. Solche Ernährungsbildung gelingt aber nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Online-Redaktion: Die da wären?

Renner: Zunächst einmal: Mensen sollten gemütlich, ja einladend gestaltet sein und nicht nur aus einer Ansammlung von Tischen bestehen. Die unterschiedlichen Formate, etwa wenn eine Mensa auch als Aula genutzt wird, führen mitunter dazu, dass sie praktisch eingerichtet werden, damit sie für den anderen Zweck schnell umgebaut werden können. Da wird dann auf lärmdämmende Dinge wie große Pflanzen oder mobile Trennwände verzichtet. Wer aber möchte in einer solchen Atmosphäre essen? Schülerinnen und Schüler wünschen sich, sich in ihrer Pause auch mal  in Ruhe mit Freundinnen und Freunden austauschen zu können.

Und da sind wir beim Faktor Zeit. Häufig tragen die Planer der Tatsache Rechnung, dass beispielsweise innerhalb einer Stunde eine bestimmte Anzahl von Schülerinnen und Schülern essen, damit alle versorgt werden können. Dafür haben sie dann eine festgelegte, meist recht kurze Zeit. Ziel aber müsste sein, ihnen die Möglichkeit zu geben, in einem größeren Zeitfenster zu essen, wann sie möchten, also wenn sie Hunger haben. Innerhalb dieses Zeitfensters sollten sie auch entscheiden können, wie lange sie am Tisch sitzen bleiben.

Online-Redaktion: Sie sprachen die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an. Warum ist die so wichtig?

Renner: Es geht dabei nicht nur darum, zu überlegen, was auf den Tisch kommt. Vielmehr verstehe ich unter Beteiligung die Chance, sich im Unterricht und im Ganztag mit Fragen der Ernährung auseinanderzusetzen. Wo kommen die Lebensmittel her? Wie werden sie angebaut, wie transportiert? Wie wird das Essen hergestellt, was ist in einer Schulmensa möglich und was nicht? Wie werden regionale und saisonale Produkte genutzt? Schülerinnen und Schüler sollten die Möglichkeit haben, die Dinge, die auf die Teller kommen, umfassend kennenzulernen. Damit steigt auch die Akzeptanz des Essens in der Schule. Mir ist bewusst, dass es sehr komplex ist, alle Schülerinnen und Schüler einzubinden. Doch es lohnt sich.

Online-Redaktion: Die Stadt Freiburg hat bundesweit mit der Entscheidung Schlagzeilen gemacht, in Grundschulen bald nur noch vegetarische Gerichte zu servieren…

Wie werden regionale und saisonale Produkte genutzt?
Wie werden regionale und saisonale Produkte genutzt? © Britta Hüning

Renner: In Freiburg müssen wir abwarten, wie es sich auswirkt, dass die Entscheidung für vegetarische Schulspeisung in den Grundschulen ohne Beteiligung der Schülerinnen und Schüler und ebenso ohne Beteiligung der Eltern gefällt wurde. Ja, es gab einen lauten Aufschrei. Mal schauen, ob sich das auf die Akzeptanz auswirkt. Doch wir kennen alle die Folgen eines zu großen Fleischkonsums und die Argumente für vegetarische Ernährung. Wenn man nur noch Vegetarisches serviert, ist es aber erst recht bedeutsam, dass die Schülerinnen und Schüler wissen, was sie essen, was beispielsweise Tofu ist.

In Freiburg werden Fortbildungen und kollegiale Austauschtreffen für pädagogische Fachkräfte im Ganztag angeboten, damit diese in der Lage sind, das entsprechende Wissen zu vermitteln. Dazu soll übrigens auch unser Praxishandbuch „Kinder essen im Ganztag“ beitragen. Es liefert wertvolles theoretisches Wissen, zeigt auf, dass Essen ganzheitlich betrachtet werden sollte, und bietet zahlreiche Alltagstipps. Zudem bündelt es Erkenntnisse über Entwicklungsbedürfnisse von Sechs- bis Zehnjährigen und erläutert deren Bedeutung für das Essen.

Online-Redaktion: Was kann Ernährungsbildung in der Ganztagsschule bewirken?

Renner: Kinder und Jugendlichen müssen einen Bezug zur Nahrung haben. Ich glaube, kaum ein Thema lässt sich so leicht fächerübergreifend und im Ganztagsangebot aufgreifen – und das mit Aktivitäten, die Freude bereiten. Etwa, wenn man gemeinsam ein Hochbeet anlegt und erfährt, wie beispielsweise Bohnen wachsen, welche Pflege sie benötigen und was man daraus machen kann. Unterschätzt werden häufig noch die Chancen, die der gemeinsame Mittagstisch eröffnet. Dort können die pädagogischen Fachkräfte als Vorbild wirken, wenn sie gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen in der Mensa essen. Ich wünsche mir auch, dass das gemeinsame Essen als Arbeitsmittel wie Schere und Papier und entsprechend als Arbeitszeit betrachtet wird und vom Arbeitgeber gestellt wird. Denn nur so können pädagogische Fachkräfte wirksam mit den Kindern pädagogisch arbeiten. Ein Moment, in dem es möglich ist, Gespräche nicht nur über Ernährung und Gesundheit, aber eben auch darüber, zu initiieren.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Holger Renner, Jg. 1977, ist angestellter Fortbildner bei der impulse akademie Freiburg (www.impulse-akademie.de) die pädagogische Fort- und Weiterbildungen, Beratungen und Coachings für Fach- und Führungskräfte anbietet sowie Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Freiburg und war von 2013 bis 2022 pädagogischer Fachberater für Schulkindbetreuung im Amt für Schule und Bildung

der Stadt Freiburg im Breisgau. Nach dem Studium der Diplom-Sozialpädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und der französischen Literatur- und Sprachwissenschaft an der Universität Konstanz arbeitete er ab 2002 als Sozialpädagoge in der Schulsozialarbeit des Erzbischöfliches Kinderheims „Haus Nazareth“ in Ertingen. Von 2009 bis 2013 war er Sachbearbeiter für Schulentwicklung in der Stadtverwaltung Biberach. .

Veröffentlichung:

Renner, H., Perry, B. & Plehn, M. (2022): Kinder essen im Ganztag – Wissen, Praxis und Projekte. Freiburg i. Br.: Herder Verlag.

Die Evangelische Hochschule Freiburg, die impulse-Akademie Freiburg und die Stadt Freiburg haben 2021 den bundesweiten Fachtag „Qualität im Ganztag: Kinder außerunterrichtlich begleiten“ durchgeführt.

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