Berliner Ganztagsgrundschule: Mittagessen für alle : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Steigende Teilnehmerzahlen erwarten Berliner Ganztagsgrundschulen, wenn demnächst das beteiligungsfreie Mittagessen eingeführt wird. „(K)ein Raum zum Essen“ hieß daher eine Fachtagung der Serviceagentur „Ganztägig lernen“.

Schülerinnen und Schüler in einer Mensa
© Britta Hüning

Nach einer Studie des Kinderschutzbundes geht fast jedes fünfte Grundschulkind morgens ohne Frühstück aus dem Haus und hat den ganzen Tag über keine warme Mahlzeit. Gleichzeitig gehört zur Definition der Ganztagsschule, dass „an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagessen bereitgestellt wird“.

Doch die Teilnahme am Ganztag ist oft noch ein Kostenfaktor für Familien, bundesweit an knapp der Hälfte der Ganztagsgrundschulen, wie die aktuelle „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen – StEG“ zeigt, auch wenn der Anteil kostenpflichtiger Ganztagsangebote rückläufig ist. Die Kosten seien ein strukturelles Hindernis für Teilhabechancen. „Hauptkostenpunkt“ ist allerdings, und das trifft für fast alle Ganztagsgrundschulen zu, das Mittagessen.

Nun hat im April das Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen, dass ab August 2019 „jedes Berliner Schulkind der Klassen 1 bis 6 den Anspruch auf ein Mittagessen ohne Kostenbeteiligung“ hat. Die Kosten übernimmt das Land. Die bisherige Kostenbeteiligung von 37,00 Euro für das Mittagessen wird auf 0,00 Euro gesetzt. Eine Verpflichtung zur Teilnahme besteht selbstverständlich nicht.

Ambitioniertes Vorhaben

„Ein gesundes und hochwertiges Mittagessen ist ein wichtiger Baustein eines erfolgreichen Schulalltags. Ein leerer Magen lernt nicht gut. Gleichzeitig bieten gemeinsame Mahlzeiten viele pädagogische Chancen, Schulkindern praxisnah die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Gesundheit, Landwirtschaft, Umweltschutz und dem Vermeiden von Verschwendung zu vermitteln.“, heißt es im Informationsschreiben der Senatorin für Bildung, Jugend und Familie an Eltern, Schulleitungen, Schulträger und Schulaufsicht.

Köchinnen und Koch in der Schulküche
© Britta Hüning

Es ist ein ambitioniertes Vorhaben. Der Beschluss betrifft immerhin 170.000 Grundschülerinnen und -schüler. Viele Berliner Schulen rechnen damit, dass deutlich mehr Kinder am Mittagessen teilnehmen werden. Das ist auch das Ziel – doch sind damit auch Herausforderungen verbunden. Das Land stellt den Schulämtern fünf Millionen Euro zur Verfügung, um kurzfristig Möbel, Teller oder Besteck zu beschaffen. Bauliche Veränderungen können hingegen vorerst nur vereinzelt realisiert werden.

„Regionale Werkstätten Mittagessen“ unterstützen seit Februar die Schulen, den Handlungsbedarf für jede Schule zu benennen und Handlungsoptionen zu erörtern. Und auch die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Berlin hat schnell reagiert und die Fachtagung „(K)ein Raum zum Essen“ am 28. Mai 2019 im Deutschen Architektur-Zentrum organisiert.

Teilnahmequoten von 90 Prozent erwartet

Teilnehmende lauschen bei der Auftaktveranstaltung
Auftaktvortrag von Katharina Sütterlin und Andreas Flock © Redaktion

Mit der Tagung traf das Team um Sabine Hüseman und Daniela Wellner-Petsch einen Nerv: Die 150 Plätze waren schnell ausgebucht, eine Warteliste musste eingerichtet werden. Die Stimmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war gemischt. Das kostenfreie Mittagessen wurde von allen Schulleitungen, Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern, den Mitarbeitenden der Schulaufsicht und der zwölf Berliner Bezirksregierungen begrüßt. „Es ist wegen der Chancengerechtigkeit richtig“, sagte eine Lehrerin. Das Mittagessen als pädagogisches Angebot und als Strukturelement des Tages wird als genauso wichtig angesehen wie die Ernährungsfrage.

Auf der anderen Seite treibt einige Schulen, die in ihrer räumlichen Ausstattung bereits jetzt an Kapazitätsgrenzen stoßen, die Frage um, wie sie dem erwarteten Ansturm gerecht werden können. „So, wie es aussieht, werde ich im August den Grill anschmeißen“, meinte lakonisch der koordinierende Erzieher einer Grundschule aus dem Bezirk Reinickendorf.

In den Bezirken und Schulen, die schon Umfragen bei den Eltern durchgeführt haben, rechnet man mit einer Teilnahmequote von rund 90 Prozent – und das wären in den westlichen Bezirken der Hauptstadt teilweise exorbitante Steigerungen von im Schnitt 50 Prozent. Hier zeigt sich ein Ost-West-Gefälle, denn in den Grundschulen im Ostteil der Stadt ist die Teilnahme am Mittagessen traditionell weiter verbreitet.

„Der Schulleiter einer Grundschule in Marzahn-Hellersdorf hat mir gesagt, an seiner Schule würden bereits 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler am Mittagessen teilnehmen. Wenn da noch 5 Prozent zukommen, werden die das verkraften“, schildert ein Schulleiter aus dem Bezirk Steglitz-Zehlendorf diese Unterschiede. „Aber bei uns sind es ganz andere Größenordnungen.“

Ganztagsschule neu in den Blick nehmen

Neben der Quantität geht es um pädagogische Fragen. Karsten Rust von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie erklärte im Gespräch mit der Redaktion: „Das beteiligungsfreie Mittagessen ist die Chance, das Thema als pädagogische Chance und auch die Ganztagsschule selbst neu in den Blick zu nehmen.“ Oder wie es später eine teilnehmende Lehrerin ausdrückte: „Es müsste eigentlich ein völliges Umdenken in Sachen Stundenplan geben.“

Schülerinnen und Schüler testen mit verbundenen Augen das Essen
Blindverkostung an der Carl-Kraemer-Grundschule © Bauereignis Sütterlin Wagner

Karsten Rust findet, dass die zwei Werkstattrunden der „Regionale Werkstätten Mittagessen“, die jeweils in den zwölf Bezirken mit Vertreterinnen und Vertretern der Schulaufsicht und der Schulträger stattgefunden haben, ein guter Schritt gewesen sind. In ihnen einigten sich auch Senatsverwaltung und Bezirke darauf, an welchen Schulen die dringendsten Ausbauerfordernisse bestehen.

„Das war toll zu sehen, wie Schulaufsicht und Träger zusammen Schulen besucht haben“, freut sich Karsten Rust. Dass es ab dem Sommer vielerorts noch Übergangslösungen geben wird, sei indes unvermeidlich – allein schon deshalb, weil wegen des Bau-Booms in Berlin gar nicht so schnell Handwerker und Baufirmen zur Verfügung stehen, um überall sofort loslegen zu können.

„Mut zum Experiment“

Mit dieser Aussicht war das Ziel der Fachtagung auch, Tipps zu geben, wie bestehende Räumlichkeiten mit weniger Aufwand genutzt werden können. Im Eröffnungsvortrag stellten die Architekten Katharina Sütterlin und Andreas Flock einige Projekte vor. Dazu gehören etwa die Umbauarbeiten an der Carl-Kraemer-Grundschule im Ortsteil Wedding. Hier arbeiteten zwölf Schülerinnen und Schüler in einer „Mensa-Gruppe“ an der Planung von drei Klassenräumen und einem Teil der Mensa mit.

Ihre Vorschläge stellten sie den Mitschülerinnen und Mitschülern in einer Ausstellung mit 1:10-Modellen vor. Auch bei der Herstellung von Tischen und Raumelemente wirkten sie mit. „Haben Sie Mut zum Experiment“, riet Katharina Sütterlin, die mit ihrem Projekt „Bauereignis“ in Berlin schon viele Ganztagsgrundschulen begleitet hat. „Wichtig ist es, von Anfang an viel miteinander zu sprechen.“

Schülerin und Schüler schrauben einen Stuhl zusammen
Mensa-Eigenbau in der Carl-Kraemer-Grundschule © Bauereignis Sütterlin Wagner

Dem stimmte eine Schulleiterin zu: „Der Schlüssel zu dem Ganzen ist die Kommunikation.“ Sie berichtete vom „Mittagessensausschuss“ ihrer Schule, in dem Eltern, Lehrkräfte, die Schulleitung, die Schülerinnen und Schüler und der Koch sitzen und in dem offen alle Probleme angesprochen werden.

Große Bereitschaft, sich auf den Weg zu machen

Zum beitragsfreien Mittagessen hat das Abgeordnetenhaus einen „Qualitätspakt“ beschlossen, denn neben der Beteiligung bleibt die Qualität des Mittagessens der Anspruch. In Berlin sind die Caterer – wie in anderen Bundesländern – zur Umsetzung des „Qualitätsstandard Schulverpflegung“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung verpflichtet. Die Ausschreibungen für die Caterer wurden in den letzten Jahren entsprechend verändert, gefordert ist, dass mit mindestens 50 Prozent Bio-Anteil gekocht wird. Um die Lebensmittelverschwendung zu begrenzen, soll es künftig nur zwei Gerichte zur Auswahl geben.

Die Vernetzungsstelle Schulverpflegung ist dabei ein optimaler Partner. Ihre Leiterin Sabine Schulz-Greve hob in einem der fünf Workshops am Vormittag hervor: „Die Qualität muss bei der Ausweitung auf alle Schülerinnen und Schüler erhalten bleiben, und gutes Essen hat seinen Preis. Es ist eine große Bereitschaft da, sich auf den Weg zu machen, und es läuft besser an, als das in der Presse dargestellt wird.“

Genauso wichtig wie die Räumlichkeiten ist die pädagogische Begleitung des Mittagessens. Dafür sollten aus Sicht von Sabine Schulz-Greve Stundenkontigente bereitgestellt werden. Motor der Entwicklung seien derzeit die sozialpädagogischen Fachkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher, aber es sei auch ein Thema, bei dem Lehrerinnen und Lehrer eingebunden werden sollten. Ein Erzieher zeigte sich optimistisch: „Wir sind in einer Konferenz sehr sachlich und kollegial dazu gekommen, dass wir das ab dem 5. August alle gemeinsam stemmen werden.“

Mehr als 20 Minuten

Speiseplan der Athene-Grundschule
Einmal durch Europa - der Speiseplan der Athene-Grundschule © Redaktion

Steigende Teilnehmerzahlen hat die Athene-Grundschule, eine deutsch-griechische Europaschule in Berlin-Lichterfelde, bereits erlebt. 400 der 460 Schülerinnen und Schüler der Schule mit einem offenen und einem gebundenen Ganztag nehmen am Mittagessen teil. Und so konnte Schulleiterin Christiane Andorf-Seretis in einem Beratungsforum am Nachmittag den Teilnehmenden von ihren Erfahrungen berichten: „Wir haben uns 2012 Gedanken gemacht, als es in unserer Mensa zu eng wurde. Ich bin durch die Speisepläne der Republik gesurft, habe Anregungen gewonnen und telefoniert.“

Die Räumlichkeiten wurden verändert. „Die Möbel machen mehr Lärm als die Kinder“, so Christiane Andorf-Seretis, „deshalb haben wir uns für Bänke statt Stühle entschieden, an denen auch mehr Schüler Platz haben.“ Eine Akustikdecke wurde eingezogen. Und die Schule nimmt sich Zeit: 45 Minuten haben die Schülerinnen und Schüler für das Mittagessen. „Die Kinder genießen das“, stellte die Schulleiterin fest. Bei einer Abfrage im Workshop der Vernetzungsstelle Schulverpflegung hatten zuvor fast alle Anwesenden angegeben, dass in ihrer Schule nur 20 Minuten für das Essen eingeplant sind.

„Wir setzen uns zu den Kindern, damit Gespräche entstehen“, berichtete Manuela Krüger-Pfundt vom Kinderhaus Mittelhof e.V., einem Kooperationspartner von Ganztagsschulen in Zehlendorf, Steglitz und Wilmersdorf, darunter der Athene-Grundschule, der Süd-Grundschule und der Clemens-Brentano-Grundschule.

„Ganz wichtig ist, dass das Mittagessen in Schüsseln auf dem Tisch steht, weil die Kinder besser einschätzen lernen, wie viel sie essen. Zusätzlich können sie zum Salatbuffet gehen.“ Das beuge der Verschwendung von Lebensmitteln vor. Christiane Andorf-Seretis betonte auch die Dekoration der Räume: „Die Kinder schätzen die Atmosphäre. Bei uns haben schon Kinder gesagt: Das ist wie zu Hause, nur die Kissen fehlen noch.“

Partizipation mit „Ernährungspuzzle“

Spannend wird es ab diesem Monat in der Carl-Schurz-Grundschule in Spandau, die mit dem Jugendhilfeträger gss Schulpartner kooperiert. Koch Robert Seyfahrt hat dort ein „Ernährungspuzzle“ entworfen, das Partizipation und Ernährungsbildung mit dem Mittagessen verbindet. „Die Schülerinnen und Schüler des 5. Jahrgangs können bei uns für jeweils zehn Tage die Zusammensetzung des Mittagessens selbst bestimmen“, berichtete Seyfahrt in seinem Beratungsforum. Dabei hat der Koch einige „Spielregeln“ aufgestellt.

Teilnehmende tauschen sich in Gruppen aus
Austausch in den Beratungsforen © Redaktion

Maximal zweimal in zehn Tagen darf es Paniertes geben. Mindestens zweimal gibt es Fisch und maximal einmal ein süßes Hauptgericht. Vollkornprodukte müssen Beachtung finden. Für die einzelnen Komponenten gibt es Karten, die spielerisch zusammengesetzt werden können. „Ich werde immer mal wieder mit verschiedenen Lebensmitteln in die Klassen gehen, damit die Kinder die Vielfalt kennenlernen“, so Robert Seyfahrt.

Spielerisch ging es auch am Ende der Fachtagung zu. Das Team der Serviceagentur stellte die Frage: „Wie hat es geschmeckt?“ Die Teilnehmenden sollten sich bestimmten Obst- und Gemüsesorten – darunter Salat, Kartoffeln und Zwiebeln – zuordnen, um zu signalisieren, wie „gehaltvoll“ die Fachtagung für sie war. Die gute Nachricht: Die meisten stellten sich bei der schmackhaften Ananas auf.

 

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