Wie die nördlichste Ganztagsschule Deutschlands Berge versetzt : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Stand am Beginn der IGS Flensburg ein kleines Gründungsteam um Schulleiter Jochen Arlt, so hat sie sich 15 Jahre später zu einer "Referenzschule" des Landes Schleswig-Holstein gemausert.

Außenansicht der IGS Flensburg
Die IGS Flensburg

Einer von vielen Elternabenden in der "nördlichsten Gesamtschule" Deutschlands. Jochen Arlt, Schulleiter der IGS Flensburg schwebt auf Wolke Sieben. Dreimal hintereinander war die Aula brechend voll. Der Schulleiter vermutet, dass sich rund 600 Eltern über das Schulprofil, das selbstständige Lernen und die Aufnahmemodalitäten der IGS informiert haben.

Am Ende gab es 270 Anmeldungen für 104 Plätze - ein Vertrauensbeweis der Eltern für die gebundene Ganztagsschule: Nicht weniger als die Zukunft der eigenen Kinder steht auf dem Spiel. Das Besondere an diesem Elternabend ist der Versammlungsort, die geräumige und helle Aula aus den 60er Jahren. Wenige Stunden zuvor wurde der gleiche Raum noch als Mensa genutzt.

Metamorphosen einer Aula

Mensa und Bühne, die beide aus IZBB-Mitteln gefördert wurden, sind innerhalb kurzer Zeit ein zentraler Bestandteil der Schulkultur geworden. Sie werden für zahlreiche Veranstaltungen wie Schulfeste, Abschlussfeiern, Schülerversammlungen, Theatervorstellungen oder Musikkonzerte genutzt. "Der Raum ist einfach schön geworden", bilanzierte Jochen Arlt im Dezember 2005 in seiner Dankesrede zum Abschluss der Baumaßnahmen.

Zwei Fliegen wurden mit einer Klappe geschlagen - die Sanierung der Gebäude und die technische Ausstattung der Bühne und weiterer Räume, die für den Ganztag notwendig waren. Die "Folgekosten" sind laut Schulleiter Arlt für Kommune und Land kaum der Rede wert, da die IGS Flensburg seit beinahe 15 Jahren eine gebundene Ganztagsschule ist, die ihre Unterrichts- und Nachmittagsangebote aus dem bestehenden Lehrerpersonal oder in Form von "Geld statt Stelle" der Kommune bestreitet.

Wie kollektiver Mut Berge versetzen kann

Wenn Jochen Arlt auf die Anfänge der Gesamtschule im Jahr 1992 zurückblickt, ist ihm die Zufriedenheit darüber anzusehen, dass der Mut zur Gründung einer Ganztagsschule belohnt wurde: "Die Initiative zur Gründung der Gesamtschule ging von einer Handvoll engagierter Leute aus. Das alles zu bündeln und zielgerichtet auf dem Weg zu bringen, war von Anfang an mein Hobby", so der Schulleiter.

"Der Start der Schule war - bedingt durch unser Klientel - nicht einfach", bekräftigt der stellvertretende Schulleiter Rainer Graessner. Noch bevor die Gesamtschule gegründet wurde, machten Gerüchte die Runde, dass die Einrichtung nur Problemkinder aufnehme, dass sie keine Qualität besäße, ja nicht einmal die Erledigung der Hausaufgaben ermögliche.

So wurde die Gründung der "nördlichsten Gesamtschule" Deutschlands zum Politikum. Gegner und Befürworter der Schulform lieferten sich heftige Kämpfe, einige Eltern organisierten Demonstrationen für die Schulform, andere Eltern protestierten dagegen, bis ein Bürgerentscheid und eine anschließende Ratsversammlung die Weichen pro Gesamtschule stellten. "Es war wie im Kommunalwahlkampf", erinnert sich Jochen Arlt. Gute parteiübergeifende Kontakte des Schulleiters, dem es von Anfang an fern lag, sich in ideologischen Grabenkämpfen aufzureiben, gaben der Schulgründung den notwendigen Rückenwind. Als der damalige CDU-Oberbürgermeister Hermann Stell sich für die neue Schule aussprach, "veränderte sich mit einem Schlag die Debatte vor Ort", so Schulleiter Arlt.

Eine Schule lernt das ABC der Kommunalpolitik

In der engen Zusammenarbeit mit dem Bildungsausschuss, den politisch Verantwortlichen der Stadt Flensburg, dem Schulverwaltungsamt und dem Bauressort der Stadt sieht Arlt in seiner Dankesrede vom Dezember 2005 die zentralen Gründe für das Gelingen seiner Vision einer Schule, "die das Kind in den Mittelpunkt stellt", und die diesem eine sechsjährige gemeinsame Schulzeit in einer durchmischten Klasse ermöglicht.

Dass sich der Wind für die Gesamtschule "vollkommen gedreht" hat, belege, so Arlt, die hohe Akzeptanz der Schule, deren Klientel sich gegenwärtig sowohl aus bürgerlichen Kreisen wie aus dem ländlichen und städtischen Einzugsgebiet speist. Ein Indikator für die gegenwärtige Akzeptanz der gebundenen Ganztagsschule ist auch der hohe Anteil gymnasial empfohlener Schülerinnen und Schüler.

"Der Aufbau der Schule als Ganztagsschule war ein Learning by doing, war eine Herausforderung in Entscheidungsebenen, die Lehrerinnen und Lehrern eigentlich verschlossen bleiben. Es ging um Einrichtungen und notwendiges Küchengerät, um die Organisation von Arbeitsabläufen, um die Wahrnehmung des Essens, um die Einbindung der Schüler in den Tischdienst, um die Gestaltung der Freizeit und vieles andere mehr", betont Arlt.

Ein Geben und Nehmen zwischen Bund, Land und Schule

Alles in allem sind die Fördermittel aus dem IZBB für die Schulentwicklung der IGS Flensburg ein wahrer Segen. Von den insgesamt 1,25 Millionen Euro investierte die Ganztagsschule 700.000 Euro in den Neubau der Sporthalle. In die technische Ausstattung der Werkstätten mit zwei multifunktionalen Räumen und Lagerplatz gingen 250.000 Euro. Schließlich flossen 300.000 Euro in die Renovierung und den Ausbau der Aula zur Mensa. Dank der zusätzlichen finanziellen Unterstützung des Fördervereins wurde die Schule mit modernster Technik und Beleuchtung ausgestattet.

Ab 12:15 Uhr ist Mittagspause in der IGS Flensburg: Vor der Mensa warten die Kinder der Klassenstufe fünf. Im Innenbereich der Mensa herrscht bei den Vorbereitungsarbeiten der Küchenfrauen angespannte Ruhe. Sie werden vom Tischdienst unterstützt, der die warmen Speisen aus den Thermoforen entgegennimmt.

Inzwischen ist lautes Stimmengewirr der Kinder und das Klappern von Geschirr zu hören. Neben dem Eingang postiert sich der Lehrer, der während des Mittagessens Aufsicht führt. Sobald die Schülerinnen und Schüler den Pädagogen erblicken, wird es - wie auf Knopfdruck - mucksmäuschenstill.

Wenn die Kinder ihre festen Plätze eingenommen haben, bringt der Tischdienst die Speisen an ihre Tische. Dort ist auch Jochen Arlt zu sehen - im Gespräch mit seinen kleinen Tischnachbarn: "Gegessen wird, was auf dem Tisch kommt", lautet sein Motto. Gemeinsames Essen verbindet, und die Pädagogen legen Wert darauf, dass sie die Kinder und Jugendlichen ganzheitlicher erleben. Das Mittagessen soll den gleichen Regeln genügen wie das gemeinsame Essen zu Hause in der Familie. Rund 25 Minuten dauert das Mittagessen der Kinder der Jahrgangsstufe sechs. Danach folgen die Jahrgangsstufen sieben bis 13, denen rund eine halbe Stunde zur Verfügung steht.

Das Essensprogramm

Für alle Kinder der Klassenstufen fünf und sechs gilt eine durchgängige Essensverpflichtung. Besonders erwähnenswert für Jochen Arlt: Von den insgesamt 740 Schülerinnen und Schülern nehmen täglich 400 Kinder und Jugendliche für 2,50 Euro am Mittagessen teil. Die Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, an der Gestaltung des Speiseplanes mitzuwirken, damit das Essen möglichst vielen Kindern gut schmeckt. Das Essen selbst wird von der Großküche des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) zubereitet und durch Mitarbeiter des Vereins für Körperbehinderte an die Schule ausgeliefert. Die Kosten für Transport, Energie und sämtliche Personalkosten, die durch Verteilung, Abwasch und Reinigung entstehen, übernimmt der Schulträger.

Schulleiter Arlt in der Mensa
Jochen Arlt leistet den Schülerinnen und Schülern in der Mensa Gesellschaft

Die Organisation des Mittagessens war eine Herkulesaufgabe. "In den ersten Wochen nach Gründung der Ganztagsschule herrschten beim Mittagessen nur Stau und Chaos", erinnert sich Stufenleiter Holger Heitmann. Aber diese Probleme bekam die IGS durch die berufliche Qualifizierung des Küchenpersonals schnell in den Griff. Eine neue Hürde tauchte später auf, als viele Eltern nicht mehr bereit waren, für Essen zu zahlen, an denen ihre Kinder aus verschiedenen Gründen nicht teilnehmen.

Wie dieses Problem gelöst wurde, verdeutlicht das Beispiel der Fünftklässlerin Claudia, die am 14. Februar, einem Mittwoch, von ihren Eltern krank gemeldet wurde. Mit einem eigens für die IGS von einer EDV-Firma erstellten Essensprogramm, das für ein Jahr individuell alle Essen errechnet, an dem die Schülerinnen und Schüler teilnehmen, kann Jutta Andresen nun den Fehltag von Claudia eingeben. An diesem Mittwoch wurden 367 "normale" und 14 vegetarische Essen, also insgesamt 381 Essen eingenommen. In monatlichen Auswertungen, die per Diskette an die Bank gehen, werden alle Essen individuell abgerechnet und per Bankeinzugsverfahren vom Konto der Eltern abgebucht. Selbstverständlich ist auch der Fehltag von Claudia vom System erfasst worden.

Ein mittlerweile eingespieltes Verfahren, das der Sekretärin täglich lediglich eineinhalb Stunden abverlangt, statt wie früher das Vielfache ihrer Arbeitszeit. Damit dieses Verfahren greift, müssen die Eltern schon bei der Anmeldung der Kinder ihre Bankverbindung angeben. Die spezielle Software ließen Schulleiter Arlt und seine Kollegen von einer privaten Firma für rund 5.000 Euro anfertigen: "Mit dem Know-how könnten wir auf den Markt gehen. Anfragen gibt es bereits", so Arlt.

Verantwortungsübernahme allenthalben

Eine weitere Besonderheit der IGS Flensburg: Sie verzichtet auf zusätzliches Personal, also auf Erzieher und Sozialpädagogen. Stattdessen hat sie ein Mittagsangebot im Rahmen des "Breiten Mittagsbandes" aufgebaut, das durch das "Geld statt Stelle"-Programm finanziert wird. Über Honorarmittel hat die Schule rund 90 pädagogische Angebote auf die Beine gestellt, die von Schülern, Studenten, Vereinstrainern oder Eltern durchgeführt werden. Die AG-Leiter und -Leiterinnen bekommen für 45 Minuten 7 Euro und für 90 Minuten 9 Euro; AGs für die Oberstufe werden mit 10 beziehungsweise 15 Euro honoriert. Auch in diesem Bereich übernehmen die Schülerinnen und Schüler Verantwortung, indem sie etwa den Betrieb sämtlicher Angebote überprüfen oder selber zum AG-Leiter ausgebildet werden.

An diesem Mittwochnachmittag pulsiert das Leben in allen Ecken der Schule. Es gibt Sport, Musik, Tanz, Theater, Basteln, Zeichnen und Natur-AGs. Zwei Werkräume wurden mit neuester Technik und Infrastruktur eigens aus Mitteln des IZBB ausgestattet. Schulleiter Arlt zufolge werden sie sehr gut von den Schülerinnen und Schülern angenommen.

Ein Denkmal für die Schülerinnen und Schüler

Nachmittagsunterricht gibt es für alle dreimal die Woche. Damit dieser durchgeführt werden kann, sind die Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet, zweimal pro Woche auch nachmittags bis um 15:15 Uhr zu unterrichten. Projektarbeit statt Frontalunterricht lautet die Devise. Dank der architektonischen Vielfalt des Schulgebäudes - so gibt es für die jüngeren und älteren Jahrgänge eigene Gebäudekomplexe - findet an der Schule eine gute Rhythmisierung zwischen Vor- und Nachmittag statt.

"Ich bin völlig überzeugt von dieser Schule, denn ich habe die Kinder im siebten, zehnten, zwölften und dreizehnten Jahrgang und kann die ganze Bandbreite beurteilen. Vom Niveau her ist die IGS gleichwertig mit den Gymnasien. Doch an dieser Schule wird der ganze Mensch geprägt. Und deshalb engagiere ich mich hier auch so gerne", so die Vorsitzende des Elternbeirates von Schleswig-Holstein und AG-Leiterin Benita Schmidt.

Ginge es nach dem Land Schleswig-Holstein, dann würde die IGS Flensburg den Status einer "Referenzschule" für die flächendeckend einzuführenden Gemeinschaftsschulen im Land einnehmen. Im fünfzehnten Jahr ihres Bestehens hat die Gesamtschule es unter die besten Reformschulen in Deutschland geschafft. Schulleiter Jochen Arlt lässt sich von diesen Erfolgen aber nicht von seinen eigentlichen Zielen abbringen.

Viel lieber sähe er bald auf dem Gelände der IGS Flensburg ein - von Künstlern gestaltetes - Denkmal für die Schülerinnen und Schüler in Deutschland, denen seit PISA doch so viel abverlangt wird. Und Jochen Arlt möchte, dass die Gesellschaft ihnen endlich etwas Wertschätzung zurückgibt.

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