Wenn das Zeugnis Bände spricht... : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Es ist wieder einmal soweit: Ende Januar, Anfang Februar - meist an einem Freitag ist Zeugnistag in deutschen Schulen. Zeugnistag heißt in aller Regel: Notentag. Von sehr gut bis ungenügend lautet die Beurteilungsspanne. Doch seit es Noten gibt, wird über ihren Sinn diskutiert. Sind sie aussagekräftig? Motivieren oder demotivieren sie? Gibt es Alternativen zu ihnen?

Sicher ist, viele Schülerinnen und Schüler freuen sich auf den Tag der Bilanz, freuen sich auf den Vergleich mit den Mitschülern und auf das Lob der Eltern. Anderen geht es nicht so gut - sie haben Angst vor schlechter Beurteilung und der Standpauke daheim. Viele suchen Zuflucht bei Profis. Die Sorgentelefone der Jugendlichen - etwa die "Nummer gegen Kummer", erleben an Zeugnistagen eine regelrechte Flut besorgter und verängstigter Schüler, aber eben auch ratloser Eltern.

Muss das sein? Gibt es nicht auch andere Formen der Leistungsbeurteilung? Das fragen sich viele. Der Siegener Erziehungswissenschaftler Prof. Hans Brügelmann hält sie nicht nur für überflüssig, weil sie nicht objektiv und nicht vergleichbar seien. Er nennt sie schlicht "Angstmacher". Befragungen von Jugendlichen hätten ergeben, dass Noten den Kindern erhebliche Sorgen und Nöte bereiten. Dem hält der Philologenverband NRW entgegen: "Schüler haben in der Regel keine Probleme mit Ziffernnoten. Sie haben einen Anspruch auf eine ehrliche Rückmeldung." So reagierte der Verband auf die jüngste Ankündigung der Landesregierung in Düsseldorf, Grundschulen die Freiheit zu geben, auch im 3. Schuljahr keine Noten zu erteilen, sondern andere Formen der Leistungsbeurteilung zu wählen.

LUZI - ein Modellversuch

Die Entscheidung der rot-grünen Koalition basiert nicht zuletzt auf den Erfahrungen, die vier Grundschulen in den vergangenen Jahren sammelten. Sie nahmen seit 2009 am Modellversuch "Leistungsbeurteilung ohne Ziffernzeugnisse (LUZI)" teil. Eine von ihnen ist die Offene Ganztagsgrundschule Paul Schneider in Münster. Schulleiterin Sabine Malecki weiß um die Hürden, die Kollegium, Eltern und Schüler in den vergangenen Jahren genommen haben. "Natürlich waren alle an Noten gewöhnt, viele Eltern wollten sie unbedingt, und auch wir Pädagogen hingen teilweise am Gewohnten", erinnert sie sich. Aber man habe sich gefragt, ob Ziffernnoten wirklich aussagekräftig und motivierend seien. Heute lautet die Antwort: Nein, das sind sie nicht.

Beispiel-Zeugnis
Beispiel-Zeugnis © Paul-Schneider-Schule

"Wir tüftelten und feilten", beschreibt Malecki den Prozess der vergangenen Jahre, an dem alle, einschließlich Eltern und Schüler beteiligt waren. Herausgekommen ist eine Kombination aus Berichtszeugnis und grafischer Darstellung des Leistungsstandes. Das Besondere dabei:  Es gibt nicht die eine Note für ein Fach. Beispiel Deutsch. Die Beurteilung ist untergliedert in vier Kategorien: Mündlicher Sprachgebrauch, Schriftlicher Sprachgebrauch, Lesen und Rechtschreibung. Jede Kategorie ist noch einmal aufgeschlüsselt in zwei "Disziplinen" (z. B. 1. Mündlicher Sprachgebrauch: Du teilst eigene Gedanken und Ideen in Gesprächen mit. 2. Du drückst Dich klar und sachbezogen aus). Ein Pfeil in einer Grafik, die das Minimum und das Maximum verdeutlicht, macht deutlich, auf welchem Leistungsniveau sich ein Kind befindet. Im erläuternden Text wird stets darauf geachtet, die positive Entwicklung zu beschreiben und konkrete Hinweise zu geben, wie Verbesserungen erreicht werden können.

Differenzierung als Vorteil

Den entscheidenden Vorteil sieht die Schule in der großen Differenzierung. Sabine Malecki: "Bei dieser Form des Zeugnisses können wir genau sehen, wo ein Kind Stärken und Schwächen hat. Dadurch können wir gezielt unterstützen. Steht da aber beispielsweise eine "3", weiß niemand, ob sich das Kind eventuell zwar schon mündlich sehr gewandt ausdrücken kann, sich diese Fähigkeit aber noch nicht im schriftlichen Bereich widerspiegelt." Und es könne passieren, dass beim vermeintlich insgesamt "schlechten Schüler" spezielle Fähigkeiten entdeckt werden, die in einer Gesamtnote verborgen blieben. "Bei uns Lehrern bleibt durch das intensive Beschäftigen mit der Beurteilung ein viel klareres Bild vom einzelnen Schüler im Gedächtnis", sagt die Schulleiterin. Ihr Kollegium steckt viel Zeit in diese Feedback-Kultur - bis zu drei Stunden pro Kind.

Und es legt einen Schwerpunkt auf die individuelle Förderung. In fest terminierten Lernzeiten im Anschluss an den regulären Unterricht widmen sich die Lehrerinnen und Lehrer den Stärken und Schwächen der Kinder. Bewusst wurde der Begriff Lernzeit statt Hausaufgabenbetreuung gewählt  Denn dieser Offenen Ganztagsgrundschule geht es nicht darum, dass die Schülerinnen und Schüler ein für alle festgelegtes Pensum an Hausaufgaben erledigen. Sie "trainieren" eine Stunde lang - jeder nach seinem Vermögen. Wer Fragen hat, fragt. Und zwar eine Pädagogin oder einen Pädagogen. "Lernzeiten und Übungen zu betreuen, ist Aufgabe der Lehrer", betont Sabine Malecki.

Viel Überzeugungsarbeit geleistet

Sie räumt ein, dass auch bei den Eltern in Sachen Zeugnis Überzeugungsarbeit erforderlich war. Darum habe man sie gebeten, das reine Berichtszeugnis, das in den NRW-Grundschulen bislang bis zum Ende des ersten Halbjahres der 2. Klasse ausgegeben wurde, in Noten umzuwandeln. "Die Eltern lagen mit der Einschätzung ihres Kindes ziemlich daneben", erinnert sie sich. Die Erfahrung, aus dem Bericht nicht die richtigen Schlüsse gezogen zu haben, überzeugte die Eltern, weder mit reinen Berichts- noch Ziffernzeugnissen wirklich etwas anfangen  zu können. "Bei den Zeugnissen der Paul-Schneider-Schule weiß ich genau, in welchen Teilbereichen ich mein Kind unterstützen kann", bilanziert ein Vater von vier Kindern. Ein anderer Vater, dessen Kinder inzwischen auf die weiterführende Schule gewechselt sind, ergänzt: "Noten zeigen nur den guten Schülern, dass sie etwas können. Das Zeugnis der Paul-Schneider-Grundschule zeigt allen, dass sie Stärken haben." Jenen Eltern, die trotzdem gerne Noten für ihr Kind in der Hand halten wollen, bot die Schule anfangs noch die "Umwandlung" der Beurteilung an. Exakt zweimal musste sie der Bitte nachkommen.

Uwe Meyer und Sabine Malecki
Konrektor Uwe Meyer und Rektorin Sabine Malecki © Paul-Schneider-Schule

Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert, auch wenn einige anfangs Noten spannend fanden, weil "wir mit unseren Freunden, die auf andere Schulen gehen, mitreden können". Inzwischen aber sehen sie den Wert der "Pfeil"-Zeugnisse. "An ihnen konnte ich erkennen, in welchem Bereich ich noch etwas tun muss", erinnert sich Nikolaus (10). Er ist im Sommer auf die weiterführende Schule gewechselt und fürchtet: "An der einen Zahl, die ich jetzt bekomme, kann ich das nicht mehr." Sophia (10) besucht die vierte Klasse. Sie vergleicht ihr Zeugnis mit dem ihres älteren Bruders: "Bei ihm sehen alle Zeugnisse gleich aus. Bei uns an der Paul-Schneider-Grundschule sind sie unterschiedlich. Man kann sehen, wo man sich verbessert oder verschlechtert hat."

Sabine Malecki verhehlt nicht, dass das Problem "4. Schuljahr" noch nicht gelöst werden konnte. Dann nämlich müssen auch sie und ihre Kollegen Noten verteilen, die dann als Grundlage für die Schulformempfehlung dienen sollen. "Aber", so verspricht die Schulleiterin, "wir geben die Hoffnung nicht auf, dass sich daran auf Dauer etwas ändern wird."  Der Philologenverband NRW warnt hingegen davor, jetzt auch noch die Noten in der weiterführenden Schule zu dämonisieren.  

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