Uwe Kirchner: "Blick aufs Kind ändern" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Inklusion kann gelingen, aber es müssen die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Uwe Kirchner leitet die Paul-Klee-Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung in Celle.

Online-Redaktion: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an der Paul-Klee Förderschule hat sich innerhalb der vergangenen sieben Jahre von 64 auf 132 mehr als verdoppelt. Welche Ursachen sehen Sie?

Uwe Kirchner: Die Zahl von Kindern, die aufgrund ihres sozialen Umfeldes so beeinträchtigt sind, dass sie, wenn erst einmal auch ein Mindestmaß an Lernfähigkeit unterschritten wird, bei uns – also an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung - landen, ist dramatisch gestiegen.

Online-Redaktion: Warum?

Schulleiter Uwe Kirchner
© Annette Miglo-Kirchner

Kirchner: Viele Familien, in denen diese Kinder groß werden, sind mit der Erziehung überfordert. Wir registrieren inzwischen viel mehr psychiatrische Fälle als früher. Ich denke da aktuell an einen Jungen. Er kam so beeinträchtigt zu uns, dass er alleine schon durch die Reize, die von unseren Gruppen, in denen maximal sieben Schülerinnen und Schüler lernen, ausgingen, überfordert war. Wir haben ihn für eine begrenzte Zeit als Einzelperson zu zweit betreut. Inzwischen hat er sich so weit stabilisiert, dass wir ihn wieder in die Gruppe integrieren konnten. Diese Entwicklung hat übrigens dazu beigetragen, dass wir uns als Pädagogen häufiger selbst professionelle Hilfe holen müssen.

Online-Redaktion: Um mit den Schülerinnen und Schülern und ihren Auffälligkeiten umgehen zu können?

Kirchner: Ja, wir haben es, um es einmal ein wenig ketzerisch auszudrücken, nicht mehr nur mit den lieben, angepassten geistig behinderten Schüler zu tun. Wir sind anderen Verhaltensweisen ausgesetzt.

Online-Redaktion: Wie sehen die aus?

Kirchner: Man könnte es sich leicht machen und von Aggressionen sprechen. Aber darf man das, wenn man weiß, dass ein Kind zu Übergriffen neigt, die aus Verzweiflung resultieren? Doch wie immer man das nennen möchte: wir als Lehrkräfte tauschen uns verstärkt aus, versuchen im gemeinsamen Gespräch, das Erlebte zu verarbeiten und Lösungsansätze zu entwickeln. Die kollegiale Beratung ist erforderlich, um der täglichen Herausforderung gerecht zu werden und zwar in dem Sinne, dass nicht die Störung im Vordergrund steht, sondern die Bedürfnisse und die Entwicklung des Kindes. Nur darum darf es gehen.

Online-Redaktion: Warum sind die Eltern, von denen Sie sprechen, überfordert?

Kirchner: Die Gründe sind sehr unterschiedlich und man muss sich vor Verurteilungen hüten. Wenn Eltern ein geistig behindertes Kind bekommen, ist das, egal, ob es sich um so genannte Bildungsnahe oder -ferne Eltern handelt, eine zunächst einmal schwere und belastende Situation. Wenn es Eltern aber gelingt, das Kind so anzunehmen wie es ist, kann es eine ganz positive Entwicklung nehmen. Schwierig wird es, wenn Mütter und Väter mit der Situation nicht zu Recht kommen. Sie sind dann nicht mehr in der Lage, ihr Kind so zu stützen und zu begleiten, wie es nötig wäre. Und die Zahl derer, denen dies nicht gelingt, steigt. Ich will ein Beispiel nennen: Erst kürzlich haben wir zu einem Elternabend eingeladen – gekommen sind sehr wenige.

Online-Redaktion: Wie reagieren Sie auf eine solche Erfahrung und wie versuchen Sie künftig, Eltern einzubinden?

Kirchner: Die Eltern brauchen unserer Unterstützung, aber auch das Kollegium braucht die Unterstützung der Eltern. Das ist wichtig für eine gelingende Förderung der Kinder. Wir laden auf jeden Fall weiterhin zu Elternabenden und -treffen ein, bieten Informationsveranstaltungen an, beziehen die Eltern in Fragen der Schulentwicklung ein und führen auch weiterhin Hausbesuche durch.

Online-Redaktion: Wie wirkt sich das Verhalten des Familienumfeldes auf deren Fähigkeit, mit der Situation umgehen zu können aus?

Kirchner: Ob die Familie eine positive Haltung zum Kind mit Behinderung oder Beeinträchtigung entwickeln kann, hängt stark von ihrem Umfeld ab. Das reagiert sehr unterschiedlich, angefangen von Mitleid bis hin zu offener Ablehnung. Ich bin daher überzeugt, dass der Umgang mit Kindern mit Behinderung eine der größten Hürden auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft darstellt. Wir müssen uns ja nur selbst beobachten. Wir reagieren im Umgang mit behinderten Menschen oft reflexartig abweisend. Wir sind im Umgang mit abweichenden Erscheinungen und Verhaltensweisen oft verunsichert, und wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen und fühlen uns unangenehm berührt.

Online-Redaktion: Wie kann dann Inklusion in der Schule gelingen?

Kirchner: In der öffentlichen Wahrnehmung scheint die Verantwortung für das Entstehen einer inklusiven Gesellschaft  bei Kindertageseinrichtungen und Schulen zu liegen. Nach der Devise: Wenn Schule inklusiv ist, dann wird die Gesellschaft automatisch inklusiv. Doch ich glaube, dass diese Haltung zu kurz greift. Wir brauchen die öffentliche, die institutionelle und private Begegnung mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Wenn wir ehrlich sind, findet eine richtige Begegnung in unserer Gesellschaft nicht statt. Davon betroffene Kinder gehen in Förderschulen und bleiben auch in der Freizeit unter sich. In Celle haben wir einige Male im Jahr sogar eine Disko-Veranstaltung  für Menschen mit Behinderung. Auf jeden Fall benötigen wir mehr Barrierefreiheit auf allen Ebenen, d.h. die Barrierefreiheit im Sinne der Bewegungsfreiheit und Erreichbarkeit von Orten aber auch im Sinne einer barrierefreien Kommunikation. Gehen Sie doch einmal als Behinderter in ein Rathaus oder anderes öffentliches Gebäude. Nicht selten müssen Sie durch irgendeinen Hintereingang. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen mit Behinderung. Auf kaum überwindbare Barrieren stoßen auch ältere Menschen. Was dann auch schon wieder einem Stück weit Ausgrenzung gleichkommt.

Online-Redaktion: Was tun Sie konkret für die Inklusion ihrer Schülerinnen und Schüler?

Kirchner: Wir gehen verschiedene Wege. Unter anderem betreuen wir sechs Integrationsklassen an einer Oberschule in Celle. In diesen Klassen werden Schülerinnen und Schüler, die bislang unsere Schule besuchten, von einem Pädagogen der Oberschule und einem von unserer Schule unterrichtet. Darüber hinaus haben wir ein Modell mit der Grundschule Wietzenbruch entwickelt. Hier werden Schüler, die eigentlich zur Paul-Klee-Förderschule gehören, integrativ in Grundschulklassen gemeinsam von einer Grundschul- und einer Förderschullehrerin gefördert. Bei unseren Versuchen, Kooperationsschulen zu finden, mussten wir aber auch feststellen, dass die Offenheit für den Gemeinsamen Unterricht noch nicht durchgängig spürbar ist.

Kinder auf Schulhof Paul-Klee-Schule Celle
© Carmen Moasa, Paul-Klee-Schule Celle

Online-Redaktion: Wie erklären Sie sich das?

Kirchner: Wenn ich mit Lehrkräften aus Regelschulen spreche, höre ich immer wieder das Argument, unter den gegebenen Rahmenbedingungen sei Inklusion nicht realisierbar. Sie führen zudem an, dass sie für die Unterrichtung von Menschen mit Behinderung nicht ausgebildet seien. Und man muss ja ganz ehrlich zugeben, dass auch viele Eltern von Kindern mit Behinderung die Sorge haben, ihr Kind könne an der Regelschule nicht adäquat gefördert werden. Die Sorge resultiert einerseits aus der Erfahrung, die diese Eltern schon einmal mit Schule gemacht haben. Und dann wissen sie natürlich auch, dass zum Beispiel bei uns 40 speziell ausgebildete Sonderpädagogen und 30 pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für 132 Kinder zur Verfügung stehen. Ein Schlüssel, über den keine Regelschule verfügt.

Online-Redaktion: Wie kann Inklusion in der Schule trotzdem gelingen?

Kirchner: Ich bin auch aufgrund unserer Erfahrungen fest davon überzeugt, dass sie gelingen kann. Eine Voraussetzung ist sicher, dass sich bei manchen Kollegen an den Regelschulen der Blick aufs Kind ändern muss. Man muss die Entwicklungspotenziale des Einzelnen sehen, die sich übrigens dann natürlich nicht ins herkömmliche Notenschema pressen lassen. Ich räume ein, dass wir als Sonderpädagogen in der Ausbildung das dafür erforderliche Handwerkszeug durch eine aktive Auseinandersetzung mit Behinderung erhalten haben. Da müsste sich also auch in der „normalen“ Lehrerausbildung etwas verändern. Darüber hinaus ist es gar keine Frage, dass beide Professionen – hier die Lehrkräfte der Regelschulen, dort die Sonderpädagogen – auf Augenhöhe zusammen in einer Schule arbeiten müssen. Wenn, wie in manchen Schulgesetzen vorgesehen, die Einbindung der Sonderpädagogen auf einige wenige Stunden pro Woche und Klasse reduziert wird und sie stärker als Berater vorgesehen sind, wird es bei der Umsetzung nicht zu unterschätzende Probleme geben. Eine Inklusive Schule muss anders gedacht werden. Die Schulen müssen in einen Lern- und Lebensraum für alle Schüler umgebaut werden - architektonisch wie auch konzeptionell. Methodisch wie didaktisch muss der zurzeit noch sehr stark praktizierte Widerspruch von individueller Förderung und einem selektierenden Leistungsanspruch überwunden werden. Es passt  nicht, individuelle Förderung  zu predigen, gleichzeitig aber am Leistungsgedanken mit für alle gleich definierten Ansprüchen festzuhalten. 

Online-Redaktion: Sie sprechen die Noten an. Wie lösen Sie das Problem in ihren Integrationsklassen?

Kirchner: Unsere Schüler erhalten differenzierte Berichtzeugnisse, die die Lernentwicklung und Kompetenzen des Schülers beschreiben.  Bei uns geht es um die Beurteilung nach Lebensbedeutsamkeit. Da taucht dann etwa für die Abschlussstufenklassen die Rubrik „Wohnen“  und Arbeit und Beruf“ auf. In diesen wird u.a. dargelegt, wie sich die Schülerin oder der Schüler im Fachbereich Hauswirtschaft entwickelt, was bereits gut gelingt und wo noch Förderbedarf  besteht. Eine individuelle Lernentwicklung lässt sich nicht wirklich in Noten fassen.

Online-Redaktion: Fühlen sich ihre Schüler nicht ein Stück weit ausgegrenzt, wenn sie als einige wenige in der Integrationsklasse solch ein Zeugnis und die meisten anderen Noten bekommen?

Kirchner: Ich muss zugeben, dass das bei einzelnen Schülern vorkommt.  Das gilt besonders für jene, die früher schon einmal das allgemeine Schulsystem kennen gelernt haben. Der Leistungsvergleich ist bei diesen Schülern und Eltern so verinnerlicht, dass sie den besonderen Wert einer individuellen Lernentwicklung nicht erkennen können.

Online-Redaktion: Zu den von ihnen schon einmal erwähnten Sorgen der Eltern von Kindern mit Behinderung zählt auch die, dass Regelschulen gar nicht über medizinische und technische Voraussetzungen verfügen…

Kirchner: Keine Frage, Inklusion kann nur gelingen, wenn wir wissen, wie die Regelschule mit sehr verhaltensauffälligen, autistischen und schwerst-mehrfachbehinderten Kindern  umgehen kann. Das fängt neben der bereits erwähnten Einstellung von Lehrkräften und Eltern an und schließt die der Ausstattung der Klassenräume aber auch der gesamten Schule ein. Es müssen Ruhe-, Entspannungs- und Pflegeräume, aber auch Räume für selbstständiges Lernen und gezielte Einzelförderung zur Verfügung stehen. Nicht zu vergessen die speziellen Hilfsmittel für unterstützende Kommunikation, auf die Kinder ohne verbale Sprache angewiesen sind. Da gibt es noch viel zu tun.

Online-Redaktion: Kann Inklusion an Ganztagsschulen leichter, schneller und besser gelingen?

Kirchner: Die beschriebenen Rahmenbedingungen müssen auch dort stimmen. Sicher aber ist, dass Ganztagsschulen mehr Zeit haben, sich mit dem Individuum zu beschäftigen. Wir entfernen uns durch die veränderte Schülerschaft immer mehr von dem Begriff der „Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung“ hin zu einer Sicht, die man am besten mit dem Begriff  „Schule für individuelles Lernen“ erfassen kann. Wenn ich dieses ernst nehme und dem gerecht werden will, benötige ich eben mehr Zeit, mehr Raum und mehr Personal. Da gibt es zur Ganztagsschule keine Alternative.

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