Über den Ganztagszaun in die Niederlande geschaut : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
„Zeitgemäße Lernumgebungen“ war das Motto der Hospitationsreise in die Niederlande. Lehrkräfte und Kooperationspartner aus Ganztagsschulen Mecklenburg-Vorpommerns kehrten mit tiefen Eindrücken und neuen Ideen zurück.
Für den Blick über den Ganztagszaun ging eine Delegation aus Mecklenburg-Vorpommern auf eine weitere Reise. Fünf Tage lang schnupperten die mehr als 20 Teilnehmenden aus dem Ganztagsbetrieb unterschiedlichster Profession die Gelegenheit, die ihnen die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ mit ihrem Schulnetzwerk „Zeitgemäße Lernumgebungen“ eröffnete. Sie besuchten Anfang November außergewöhnliche Schulen in unterschiedlichsten sozialen Lagen, warfen einen Blick in die Hogeschool van Arnhem in Nijmegen, an der unter anderem Lehrkräfte und Sozialpädagogen ausgebildet werden, tauschten sich mit Expertinnen und Experten aus.
Den Auftakt bildete die Agora School Roermond. Deren Gründer, Sjef Drummen, ist von Hause aus Künstler. So frei wie er in dieser Eigenschaft wirkt, stellt er sich auch die Schulen der Gegenwart und Zukunft vor. Entsprechend fällt das vom niederländischen Staat genehmigte Konzept der inzwischen in fünf Staaten existierenden Schulform aus. Als er 2005 gemeinsam mit zwei weiteren Schulleitern im Auftrag der Stadt ein Konzept für eine gemeinsame Schule entwickeln sollte, ahnte er noch nicht, welches Kunstwerk entstehen würde. Das Credo der Schule lautete: „Lernen ist eine autodidaktische soziale Aktivität, und die Neugier ist der Motor allen Lernens“. So berichtete Drummen es den Gästen aus Mecklenburg-Vorpommern. Seine logische Schlussfolgerung: „Behandele alle Schülerinnen und Schüler ungleich.“
Lernen in völliger Selbstständigkeit
Einer der 12- bis 18-jährigen Schülerinnen und Schüler der Agora School ist Xant. Der 14-Jährige übernimmt mit seinem Schulkameraden Flint die Aufgabe, die deutsche Bildungsreisegruppe über das Konzept von Agora aufzuklären. Um es in wenigen Sätzen zusammenzufassen: Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schule lernen und arbeiten hier komplett selbstständig. Sie gehören einer maximal 20 Personen umfassenden „Schulfamilie“ – einer Lerngruppe mit Coach – und unterschiedlicher kognitiver Niveaus an.
Nach dem morgendlichen Treffen der „Familie“, bei dem alle von ihrer persönlichen Situation und ihren Lernabsichten berichten, verteilen sich die Schülerinnen und Schüler auf das Schulgebäude mit seinen kleinen Lernboxen, die, so Xant, „man sich für sich alleine oder mit einer Lerngruppe bucht“. Darüber hinaus verfügt jede Schülerin und jeder Schüler über einen eigenen mit Tablet ausgestatteten Arbeitsplatz im „Großraumbüro“. 30 Prozent ihrer „Unterrichtszeit“ verbringen sie jedoch außerhalb der Schule – mit Recherchen für die selbstgewählten Themen.
Klassenzimmer, Unterrichtsfächer und Klassenarbeiten existieren in dieser Schule nicht. Die Lesezeit am Mittag und die Teilnahme am Sport sind verpflichtend. Alle müssen sich den landesweit einheitlichen Abschlussprüfungen stellen. Möglich machen dies die Lerncoaches, die den Weg der Schülerinnen und Schüler engmaschig begleiten und auch schon einmal darauf hinweisen, dass es vielleicht ratsam sei, beispielsweise der Mathematik etwas mehr Zeit zu widmen. Trotz dieser Freiheit bestehen nahezu alle die Abschlussprüfungen und das nicht schlechter als Schülerinnen und Schüler anderer Schulen.
Lehrkräfte in der Coachingrolle
Auch die Sekundarstufenschule „Havo Notre Dame des Anges“ in Nijmegen, kurz „Notre Dame“, „gönnt“ den Schülerinnen und Schülern größtmögliche Freiheiten. Oder wie es auf dem Titel des Buches zur Schule heißt: „De eigenwijze Notre Dame“. Schulleiter Ed van Loon nennt es gerne „unser eigensinniges Lernen“. Drei Jahre hat die Schule an einem Konzept gearbeitet. Es beinhaltet unter anderem Basisgruppen mit jeweils rund 18 Schülerinnen und Schülern, in denen die gemeinsame Planung fürs Lernen der Woche stattfindet, sowie die etwas größeren Lerngruppen. „Instructie“ findet im Klassenzimmer oder Fachraum statt.
Doch die Zusammensetzung des „Stundenplans“ obliegt den Schülerinnen und Schülern. Die „Workshops“ werden je nach Bedarf belegt. Schülerin Djamilla verrät: „Wenn ich Englisch gut beherrsche, Mathematik aber nicht so sehr, ist es doch nur ratsam, dass ich mehr Workshops in Mathe belege. Wie in der Agora-Schule werden auch sie und alle Schülerinnen und Schüler engmaschig von Lehrkräften gecoacht. Erstaunt stellten die Gäste aus Deutschland fest, dass in nahezu „jeder Ecke“ ein Schüler-Coach-Pärchen ins Gespräch vertieft war, während nebenan im großen Arbeitszimmer andere selbstständig lernten, in der „Aula“ eine Mitschülerin am Flügel übte und zwei Jugendliche am Kicker entspannten.
Ed van Loon betont die gewandelte Rolle der Lehrkräfte: „Sie begleiten und steuern, betrachten ihr Coaching als wichtiger als ihr Fach. Ihre Devise lautet: „Frage viel – urteile nicht.“ Was sie hören, wird mit den übrigen Coaches ausgetauscht. Regelmäßig und verpflichtend. Jeden Dienstag treffen sie sich. „Da bekommt niemand frei, auch die Teilzeitkräfte nicht. Von 13 bis 17 Uhr ist Kommunikation angesagt.“
Mehr Verantwortung für die eigene Bildungsbiografie
Die Gäste aus Deutschland zeigen sich beeindruckt. Gefragt, was sie für Ganztag und Unterricht mitnehmen, äußert sich die Mehrzahl besonders von der „Notre Dame“-Schule in Nijmegen angetan. Sie biete bereits deutlich mehr Selbst- und Eigenständigkeit, aber auch die Möglichkeit, mehr Verantwortung für die eigene Bildungsbiografie zu übernehmen, als es in Deutschland zumeist der Fall sei, auch schon den jüngeren Schülerinnen und Schülern.
Corina Schafstädt vom Landesförderzentrum Hören Güstrow ist Schulsozialarbeiterin: „Es ist beeindruckend, wie hier Kinder lernen, an sich zu glauben und sich aus sich selbst heraus zu motivieren. An dieser Form des Selbstvertrauens arbeiten wir in unserer täglichen Arbeit so nebenbei.“ Angetan von der fehlenden Starre des Systems zeigt sich Isabell Kitta aus Güstrow, Musiklehrerin und Kooperationsbeauftragte der Schule am Inselsee: „Mich überrascht, mit welcher Ruhe die Kinder alleine und in ihren Arbeitsgruppen lernen. Ich nehme mit, dass wir Kinder anders sehen können.“ Theresa Bacher von der Regionalen Schule Am Lindetal in Neubrandenburg ergänzt: „Mich überzeugen das Raumkonzept der Agoraschule und das Prinzip der Schulfamilie.“
Der Leiter der Serviceagentur „Ganztägig lernen“, Dr. Michael Retzar, fasste seine Eindrücke unter anderem so zusammen: „Ein sehr gutes Beispiel war für mich die Schule "Havo Notre Dame des Anges" in Nijmegen. Dort werden Pädagogik, Struktur und Raum in ein gemeinsames Konzept gegossen. Es gibt drei Blöcke jeden Tag, und jeder Block ist gleich aufgebaut: 30 Minuten klassischer Unterricht, dann 30 Minuten ein frei gewählter Workshop bei einer Lehrkraft oder einer schulexternen Person und wieder 30 Minuten freie individuelle Lernzeit, die am Notebook erledigt wird und vom Klassenlehrer digital beobachtet werden kann.“
Dauerbrenner für den Ganztag
Jede dieser Phasen benötige eine andere räumliche Umgebung. Und diese wird aus Retzars Sicht dann auch konsequent bei der Ausgestaltung und Ausstattung der Lernräume beachtet. „So sollten die Dinge ineinandergreifen“, resümiert er. „Lernumgebungen sind natürlich ein Dauerbrennerthema für den Ganztag und zwar nicht nur, weil Räume für Angebote benutzt werden. Wir haben gezielt solche Schulen angesteuert, die auch interessante Zeitstrukturen entwickelt haben, also mit einem gemeinsamen oder offenen Anfang in den Tag starten, eindeutige Tages- und Wochenrhythmen entwickeln und den Tagesablauf aufbrechen. Aktivitätswechsel über den Tag benötigen auch Ortswechsel und ganz unterschiedliche Raumkonzepte. Einige der Schulen, die wir kennengelernt haben, haben einen festen Schulstart und ein festes Schulende und das heißt auch: Das, was wir unter dem Stichwort der Ganztagsangebote zusammenfassen, muss sich zeitlich dazwischen ereignen.“
Die Expertise Außenstehender werde an den besuchten Schulen fest im Lernkonzept verankert, als Teil des Wahlpflichtangebots sozusagen. Retzar: „Hier wird oft viel freier eine Auswahl an Angeboten und Aktivitäten eingeräumt. Das macht es auch für die Lehrkräfte einfacher, denn es gibt weniger Ärger mit Disziplinproblemen – man entscheidet sich als Lernender nach Interesse und trägt sich selbstständig online ein.“ Retzar stellt auch den Bezug zum Ganztag in Mecklenburg-Vorpommern her. Einige unserer Schulen nutzen solch eine Software bereits heute für die Einwahl in ihre Ganztagsangebote. Praktisch wäre es also möglich, auch noch mehr damit zu machen.“
Jede Schule wählt ihre Didaktik
Der Sozialpädagoge Frank Geldmacher ist Dozent für soziale Arbeit an der Hogeschool van Arnhem en Nijmegen. Er räumt ein, dass es durchaus nicht unumstritten sei, dass sich 14-jährige Schülerinnen und Schüler bereits bei der Ausrichtung ihrer Schulausbildung auf eines von vier Profilen – Natur/Technik, Natur/Gesundheit, Wirtschaft/Gesellschaft, Kultur/Gesellschaft – festlegen sollen. „Es gibt Menschen, die fürchten, dass wir ein sehr eingeschränktes Wissen vermitteln“, sagt er. Gleichzeitig weiß er: „Die Abbrecherquote ist trotz der frühen Festlegung gering.“
Der 14-jährige Xant hat sich auf die Programmierung kleiner Roboter spezialisiert, eignet sich Marketingstrategien an und möchte später einmal eine kleine Spielefirma gründen. Er strahlt, wenn er davon berichtet. Darüber, dass er eine Ganztagsschule besucht, sagt er nichts. Es ist selbstverständlich. Geldmacher: „Alle Schulen in den Niederlanden sind Ganztagsschulen. Mit dem Unterschied, dass bei uns beispielsweise im Primarbereich etwa 30 Prozent mehr Unterrichtsstunden angeboten werden.“ Es sei denn, man besucht die Agora-Schule, wo dieser Begriff nicht existiert und Sjef Drummer festhält: „Ein Kind, das sich nicht wohlfühlt, kann nicht lernen.“
Wie aber erwerben die Schülerinnen und Schüler jenes Wissen, das zur Bewältigung der landesweit einheitlichen Prüfungen erforderlich ist? Geldmacher: „Neben den von den Jugendlichen gewählten Profilen, gibt es einen Katalog an Basiswissen in den Hauptfächern, wie Mathe und Sprachen. Das Coaching beinhaltet, darauf zu achten, dass die Schülerinnen und Schüler sich die erforderlichen Kompetenzen aneignen.“
Die Konzepte überlassen die Behörden den Schulen. In den Niederlanden sind aufgrund der besonderen Geschichte 72 Prozent der Schulen in privater Trägerschaft, in denen 78 Prozent der Schülerinnen und Schüler lernen. Die Kernziele werden für alle Schulen durch den Staat verbindlich zentral vorgegeben, über deren Erreichung regelmäßig Rechenschaft abgelegt wird und die zentralen Prüfungen dann Auskunft geben. Die Schulen haben aber die freie Wahl, wie sie die Ziele erreichen.
„Eine jede Schule wählt ihre eigene Didaktik, wird aber vom Staat finanziert“, so Geldmacher. Jede Schule erhält ihr Budget, entscheidet selbst, ob sie davon beispielsweise zusätzliche Lehrkräfte einstellt oder moderne Möbel anschafft. Fakt ist aber auch: Niederländische Lehrkräfte unterrichten mehr und verdienen weniger als in Deutschland. Sie folgen der Idee: „Nichtwissen ist wichtiger als Wissen – es schafft Wissen.“
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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