Teilhabechancen von Flüchtlingen im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Am 29. Oktober 2015 fragte die Serviceagentur Sachsen-Anhalt auf einer Tagung in Magdeburg, wie Ganztagsschulen gemeinsam mit Jugendverbänden die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit Fluchthintergrund, gestalten können.

Angret Zahradnik ist an diesem Morgen des 29. Oktober 2015 nicht alleine in das Familienhaus in Magdeburg gekommen. Die Schulleiterin der Sekundarschule Campus Technicus in Bernburg (Landkreis Salzlandkreis) hat einige ihrer Schülerinnen und Schüler mitgebracht, die sie den rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung „Wie können Ganztagsschulen gemeinsam mit Jugendverbänden die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen, insbesondere deren mit Fluchthintergrund, gestalten?“ vorstellt.

Da ist der 18 Jahre alte Elias, der als Vormund für seinen 14 Jahre alten Bruder Tarek fungiert. Beide sind aus Syrien geflohen und vor den Herbstferien in die Ganztagsschule gekommen. Da ist der 15 Jahre alte Mohammad, der vor sechs Monaten in Deutschland eingetroffen ist, nachdem er ganz alleine aus Syrien geflohen war. Der 17-jährige Chektar aus der Türkei ist seit rund einem Jahr in Deutschland. 24 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen derzeit den Campus Technicus. Das ist noch eine kleine Minderheit unter den insgesamt 788 Schülerinnen und Schüler, aber die Tendenz ist laut der Schulleiterin aufgrund des Flüchtlingsstroms steigend.

„Es ist eine Riesenherausforderung“, erklärt die Schulleiterin. „Wir haben es hier mit neun Kulturkreisen zu tun, von Guinea über Afghanistan bis Bulgarien. Man muss hier auf neue Gedanken kommen und daraus konkrete Handlungsanweisungen entwickeln.“ Allen diesen Kindern und Jugendlichen müsse eine Teilhabe in der Schule und in der Gesellschaft ermöglicht werden, wobei „Anpassung nicht das Ziel sein kann“. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass nicht alle Eltern an der Schule begeistert über die Neuankömmlinge seien. „Wir sprechen mit diesen Eltern darüber“, berichtete Angret Zahradnik.

Das Alphabet rappend erschließen

Am Campus Technicus ist eine Integrationsklasse entstanden. Elke Laue, seit Anfang Oktober an der Schule, leitet diese Klasse. „Wenn einen morgens die glücklichen Gesichter begrüßen, weiß man, wozu man aufsteht“, berichtet sie. „Und wenn etwas nicht klappt, lässt einen das nicht kalt, und man überlegt, wie man es am nächsten Tag besser machen kann.“ Schwierig sei es, weil es keinen Lehrplan gebe. So erarbeitet sich die Klasse vieles, was die Lehrerin mit ihrem laut ihrer Schulleiterin „wahnsinnigen Einfühlungsvermögen“ als passend empfindet. „Die Kinder haben sich zum Beispiel das Alphabet rappend erschlossen“, erzählt Elke Laue.

Deutsche Mitschülerinnen und Mitschüler bieten sich als Paten an, wie Wilhelmine, die Mohammad begleitet. „Er gibt sich Mühe, Deutsch zu lernen und sich einzubringen. Er fühlt sich angenommen“, berichtet sie. Nun sollen mehrsprachige Mappen mit allen Informationen zum Schulleben zusammengestellt werden, um das Einleben noch leichter zu gestalten.

Der Campus Technicus zeigt eine Ganztagsschule, die sich der Herausforderung stellt und Ideen entwickelt, mit ihr umzugehen. Das ist am 29. Oktober auch das Anliegen der Tagung insgesamt. Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Sachsen-Anhalt hat ihrer Leiterin Sylvia Ruge zufolge kurzentschlossen auf die aktuellen Entwicklungen reagiert und diese Veranstaltung auf die Beine gestellt. Hauptsächlich – das zeigen die Formate wie der Mitmach-Markt, auf dem Jugendverbände ihre Kooperationsangebote präsentieren, und die Werkstätten, die konkrete Handlungsstrategien für den Schulalltag entwickeln – möchte die Serviceagentur Partner miteinander bekannt machen und Zusammenarbeit anschieben nach dem Motto „Gemeinsam geht es besser“.

„So habe ich mein Kind noch nie gesehen“

So sind auf der Tagung unter anderem die Evangelische Jugend, die Servicestelle Kinder- und Jugendschutz, das Jugendrotkreuz, der Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt vertreten; auch das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Programm „Willkommen bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge“ stellt sich vor.

Die Serviceagentur hat den Kinder- und Jugendzirkus CABUWAZI aus Berlin eingeladen, um sich ausführlicher zu präsentieren. Projektkoordinatorin Anna Marquardt berichtet von dem seit 1994 bestehenden Sozialen Mitmachzirkus, an dem jährlich an fünf Standorten in Berlin rund 8.000 Kinder und Jugendliche ab acht Jahren teilnehmen. „Gerade der Zirkus ist eine Möglichkeit, in den gemeinsamen Kontakt zu kommen, selbst wenn man die deutsche Sprache noch nicht gut beherrscht“.

Beim Einüben von Artistik, Clownerie oder Zauberkunststücken lernten die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Körper umzugehen, sie stärkten die Teamfähigkeit und das Selbstbewusstsein. Oft höre man nach Zirkusvorstellungen von Eltern oder Lehrkräften: „So habe ich mein Kind noch nie gesehen. Das hätte ich ihr oder ihm gar nicht zugetraut“, berichtet die Koordinatorin.

Zirkus mit Sprachtraining

„Wir bündeln nun unsere Aktivitäten und sprechen die Schulen gezielt an, um Willkommensklassen zusammenzuführen“, erzählt Anna Marquardt. „Die Schulen können zu uns kommen, wir gehen in die Schulen oder bieten auch nur punktuell die Gestaltung von Aktiven Pausen mit zirkuspädagogischen Angeboten an. Wir sind mit der Jugendarbeit vernetzt, bekommen viel vom Leben der Kinder im Kiez mit und können auch die Eltern einbinden, wenn diese beim Kostümnähen, beim Kulissenbauen oder beim Internationalen Buffet mithelfen.“

Jugendlicher am Trapez in der Zirkuskuppel
© Zirkus CABUWAZI / Antya Umstätter

Beim neuen Angebot „CABUWAZI beyond borders“ ergänze man den Zirkus durch Sprachtraining. „Die Mädchen und Jungen bekommen dabei gar nicht groß mit, dass es sich um Unterricht handelt. Es wirkt für sie wie ein sprachliches Aufwärmen für den Zirkus“, erklärt Anna Marquardt. Allgemein stehe man täglich vor großen Herausforderungen mit den Flüchtlingsfamilien: „Wir müssen noch vieles verstehen lernen. Die Verbindlichkeit ist für viele Flüchtlinge noch ein schwieriges Thema, und auch die Koordination mit den Ehrenamtlichen ist kompliziert.“

Wie sich auch unkonventionelle Kooperationen in die Ganztagsschulen bringen lassen können, diskutierte am Nachmittag der Workshop „Politisches Engagement und Ehrenamt“. Hier stellten Daniela Küllertz vom Landesjugendwerk der AWO Sachsen-Anhalt e.V. und Karoline Rogowski von der Landesjugendfeuerwehr ihre Angebote vor. „Die Jugendverbände müssen sich mit neu aufstellen und mit den Ganztagsschulen zusammen tun, um Angebote zu entwickeln“, hat Daniela Küllertz erkannt. „Dazu müssen sich die Akteure zusammen setzen, die Schulen müssen beschreiben, wie ihr Unterricht ist, und wir als Jugendverband müssen schauen, was wir aus der Praxis in den Unterricht einbringen können, und welche Formate dazu nötig sind.“

Neue Konstellation: Landesjugendwerk und Jugendfeuerwehr

Die Jugendfeuerwehr leidet unter einem extremen Nachwuchsmangel. Das Ergänzen der Ganztagsangebote durch ein Engagement in den Schulen wäre auch eine Möglichkeit, Nachwuchs zu gewinnen. Kathleen Behrens berichtete vom TTT-Projekt „Teil werden – Teil haben – Teil sein“ der Jugendfeuerwehr Sachsen-Anhalt. Im Mittelpunkt des Projektes steht die Ausbildung von DemokratieBeraterInnen zu Themen wie Konfliktmanagement, Teamentwicklung, Sponsoring und Fördermittel, partizipative Methoden sowie Rechtsextremismus-Intervention.

Der Workshop tauschte sich aus, die Medien- und Demokratie-Angebote des Landesjugendwerks mit solchen der Jugendfeuerwehr zu verzahnen und zu konfektionieren, um sie Ganztagsschulen als Modul anbieten zu können. Die Partner wollen dazu im Austausch bleiben, auch erste Ganztagsschulen haben auf der Tagung Interesse an einem solchen Kombi-Angebot bekundet. Schulleiterin Zahradnik unterstütze dies: „Die Schülerinnen und Schüler brauchen im Ganztag unbedingt auch andere Gesichter.“

Hilfreich kann hier der neue Erlass des Kultusministeriums vom 17. August sein, der den Ganztagsschulen zusätzliche Budgetmittel zur Erweiterung des Angebotsspektrums zur Verfügung stellt und die ausdrücklich auch für Angebote zur Integration und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gedacht sind. „Wir hoffen, dass dadurch auch mehr Schulen auf den Geschmack kommen, über das Angebot an drei Tagen hinaus ihr Ganztagsschulprogramm auszuweiten“, erklärte Heiko Hübner, Referent im Kultusministerium.

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