Umgang mit Heterogenität und individuelle Förderung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Der Umgang mit Heterogenität war Thema eines Studientages für Lehramtsstudierende an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er zeigte Facetten individueller Förderung.

Frontansicht des Schlosses
Schloss der Universität Münster © WWU Münster/Peter Grewer

Der Studientag „Pädagogischer Umgang mit mehrfachen Differenzen“ am 26. Januar 2013 in Münster war Teil der Ringvorlesung „Vielfältig besonders - besonders vielfältig“, die die Westfälische Wilhelms-Universität im Wintersemester (WWU) 2012/2013 zum Umgang mit Heterogenität und individueller Förderung durchführt. Ein Thema, das Lehrkräfte, Studierende, Schülerinnen und Schüler, aber auch Eltern bewegt. Ganztagsschulen haben nach Ansicht von Experten besondere Möglichkeiten, auf die Verschiedenheit von Kindern und Jugendlichen einzugehen. Wie individuelle Förderung gelingen kann, wo es aber auch Grenzen geben kann und sollte, wird kontrovers diskutiert.

Individuell und ganzheitlich – mehr als Schlagwörter?

„Wir freuen uns einmal auf einen anderen Blick auf das Thema individuelle Förderung. Denn Prof. Beate Wischer eilt der Ruf voraus, mitunter gegen den Mainstream zu argumentieren“, äußerten zwei junge Studentinnen gegenüber www.ganztagsschulen.org vor Beginn der Veranstaltung ihre Erwartung. Sie wurden nicht enttäuscht. Denn die Professorin für Schulpädagogik an der Universität Osnabrück, unter anderem bekannt durch das gemeinsam mit Prof. Matthias Trautmann verfasste Lehrbuch „Heterogenität in der Schule“ (2011) setzte sich – auch kritisch – mit den Möglichkeiten und Effekten individueller Förderung auseinander.

Beate Wischer machte deutlich, dass sie Formulierungen wie „der individuelle Blick auf das Kind“ oder „ganz nah beim Kind sein“ zuweilen „kribbelig“ mache. Das viel gebrauchte Wort „individuell“ verschleiere nämlich oft mehr, als es erkläre. Zum Beispiel sei immer zu fragen, nach welchen Kriterien – Leistungsfähigkeit, Vorwissen, Geschlecht, soziale Herkunft oder andere Merkmale – denn „individuell“ beobachtet werde. 

Eine selbstkritische Reflexion der eigenen Wahrnehmungsmuster - als eine Voraussetzung für professionelles Lehrerhandeln - werde dadurch eher blockiert. Die Professorin hält, wie sie betonte, aber noch andere Entwicklungen für problematisch. So wies sie zum Beispiel eindringlich darauf hin, dass „die Nähe zum Kind“ vielfach die gesellschaftliche Funktionslogik der Schule ignoriere. In der Schule gehe es nicht nur um optimales Fördern, sondern – und das könne man zwar bedauern, aber nicht negieren – auch um Selektion anhand von Leistungskriterien. 

In der Praxis ließe es sich jedoch nur schwer vermeiden, dass beispielsweise Informationen, die Lehrkräfte über das „ganze Kind“ gewinnen – zum Beispiel ihr häusliches Umfeld – , nicht nur für die Förderung genutzt werden, sondern auch in die Leistungsbeurteilung und damit in Selektionsentscheidungen einfließen. Anders formuliert:  „Ganzheitlichere“ Diagnosen führen, so Wischer, trotz bester Absichten nicht automatisch nur zu besserer Förderung, sondern damit verbunden sein könnten auch eine Verfeinerung und eine Ausweitung (z.B. auf nicht-leistungsbezogene Merkmale) von Selektion.

Wischer mahnte: „Wer sich dafür einsetzt, den Schüler in seiner ganzen Persönlichkeit zu betrachten, sollte bedenken, dass er damit die schulische Verwertungslogik von Kompetenzen auf immer mehr Dimensionen der jungen Persönlichkeit ausweitet. Das sind dann eben neben den kognitiven Fähigkeiten auch soziale Kompetenzen, Gefühle und der Lebensraum Familie.“

„Verschiedenheit als Reichtum“ in der Laborschule Bielefeld

Oberschule „Clara Zetkin“ Freiberg
© Britta Hüning

Wie die Laborschule Bielefeld mit der Heterogenität ihrer Schülerschaft umgeht, schilderte die Leiterin der Schule Prof. Dr. Susanne Thurn. „Die Verschiedenheit ist der Reichtum unserer Schule“, betonte sie. „Die volle Heterogenität in jeder Lerngruppe ist nach unserer Ansicht das Erfolgsrezept unserer Schule.“ 

Sie reiche vom „kleinen Hardrocker“ bis zum „Bullerbü-Mädchen“, das schon als Fünfjährige lesen könne. Und weil das so sei, gehe zeitgleiches Lernen nun einmal nicht. Die Lösung sei deshalb der jahrgangsübergreifende Unterricht. In ihm könne das „Bullerbü-Mädchen“ direkt mit älteren Kindern lernen, während der „Hardrocker“ eben seine Stärken, etwa beim Klettern auf den Baum offenbare. Den Nutzen für den „Hardrocker“ beschrieb die Schulleiterin so: „Wenn dieser Junge weiß, dass das Mädchen diese seine Leistung miterlebt und schätzen lernt, kann er später auch besser ertragen, wenn sie besser rechnen oder schreiben kann.“ Weil Leistungen nicht von jedem Kind am gleichen Tag abrufbar seien, „machen wir bei den zentralen Vergleichsprüfungen auch nicht mit“.

Sie widersprach damit auch Kritikern, die ihrer Schule vorhielten, auf Leistungsanspruch zu verzichten: „Das bestmögliche Leisten des Einzelnen ist doch der höchst mögliche Leistungsanspruch.“ Zugleich betonte sie: „Gäbe es ein allgemeingültiges Konzept zum Umgang mit mehrfachen Differenzen wäre das ein klarer Widerspruch zum Hingucken auf jeden Einzelnen.“ Sie jedenfalls habe noch nie zwei Kinder erlebt, die gleich gewesen seien. Die Schule habe den Auftrag, sich täglich damit zu beschäftigen, wie sie zum Beispiel mit einem Hochbegabten, und jenen, die Schwächen offenbarten, umgehe. 

Dem stimmten Kathi von Hagen, die Leiterin der ersten Gesamtschule in Münster, sowie Hans-Werner Bick, der Organisationsleiter der Montessori-Gesamtschule Borken, ausdrücklich zu. Als Kern des Konzeptes ihrer Schule bezeichnete von Hagen die Aufteilung der einzelnen Fächer in Basisschritte für alle. Das Kind könne dann mitbestimmen, wieweit es über diese Basisschritte hinausgehe. „Man muss die Differenzen, besser noch die Vielfalt der Kinder berücksichtigen und dann entsprechende Lernangebote unterbreiten“, so Bick. Dazu sei es erforderlich, dass man „nah an der Familie und am Kind dran“ sei. 

Das löste die Frage aus dem Publikum aus, wie Schule angesichts solcher individueller Herangehensweise über Abschlüsse entscheide und welche Fächer dafür maßgeblich seien. Prof. Dr. Susanne Thurn antwortete: „Wir fragen uns sehr intensiv und verantwortlich, was wir dem einzelnen Kind zutrauen.“

Individualisierung ist ein Balanceakt

Intensiv diskutierten die angehenden Lehrkräfte, die Wissenschaftlerin und die auf dem Podium sitzenden Schulvertreter anschließend die Frage einer Studentin, ob der intensive Blick auf und das Wissen über das Kind eine objektive Bewertung überhaupt noch möglich machten. 

Schüler und Lehrer arbeiten gemeinsam im Werkunterricht
© Britta Hüning

Während Kathi von Hagen einräumte, dass „ja zum Glück mehrere Lehrer aufs Kind gucken“, appellierte Hans-Werner Bick an die Verantwortlichkeit des Pädagogen: „Er muss sich immer wieder fragen, ob seine Sichtweise richtig ist.“ Beate Wischer indes differenzierte: „Es ist immer ein Balanceakt, Kinder nicht in eine Schublade zu stecken, weil man etwas über sie weiß.“ Sie erinnerte daran, dass es nach wie vor eine systematische Benachteiligung in der Gesellschaft nach sozialer Herkunft gebe, die man nicht in den Griff bekomme, wenn man nur individuell schaue. 

Diese soziale Ungleichheit wird nach Ansicht der Leiterin der Laborschule Bielefeld durch ein vielgliedriges Schulsystem zusätzlich manifestiert. Als optimistische Perspektive betrachtet deshalb Kathi von Hagen die Ganztagsschule: „Sie kann diese Ungleichheit besser ausgleichen.“

Workshops bieten Einblick in die Praxis

In den anschließenden Workshops konnten sich die Studierenden ein Bild vom Alltag in der Gesamtschule Münster und der Montessori-Gesamtschule Borken machen. Stark nachgefragt von den rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren auch die Arbeitsgruppen zum Forschenden Lernen (Internationales Centrum für Begabungsforschung), zur individuellen Förderung im Sport (Landeskompetenzzentrum für individuelle Förderung), zum Bildungssprachförderlichen Lehrerverhalten (WWU) sowie zu den Einflussfaktoren beim Zweitsprachenerwerb (RAA NRW). Der Erziehungswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik, Professor Dr. Christian Fischer (WWU), erläuterte den Effekt eines solchen Studientages. Die Workshops ermöglichten, die Umsetzbarkeit der in den Vorträgen gehörten Theorie, in der Praxis zu erleben. „Das erhöht natürlich die Glaubwürdigkeit“, betonte er. Das bestätigte eine Lehramtsstudentin: „Ich fand es spannend zu erleben, wie es etwa der Gesamtschule Münster-Mitte gelingt, Kinder mit unterschiedlichen Kompetenzen zu fördern.“ Ein Kommilitone ergänzte: „Ich hatte vorher nicht gedacht, dass man im Sportunterricht so unterschiedlich auf Kinder eingehen kann.“ 

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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