Rhythmisierung in Gymnasien: Von Wölkchen und SegeLn : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Es war eine kleine, aber intensive Fortbildung, zu der die Serviceagentur „Ganztägig lernen.“ Hessen eingeladen hatte. Rund 30 Vertreter von ganztägig arbeitenden Gymnasien ließen sich von Beispielen gelungener Rhythmisierung inspirieren.

„Ich bin dieser Einladung gerne gefolgt, weil ich unser Kollegium motivieren möchte, endlich neue Wege zu gehen“, betonte eine Lehrerin vor Beginn der Tagung in Frankfurt am 9. Februar. Noch gingen viele ihrer Kollegen davon aus, dass es „so am besten ist, wie es immer war“. Nach den drei an diesem Tag vorgestellten Modellen zeigte sich die engagierte Pädagogin überzeugt: „Wer diese Beispiele gesehen und gehört hat, der muss nun endgültig einsehen, dass wir etwas verändern müssen.“

Was sie gemeinsam mit den übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern von der Tagung „Rhythmisierungsmodelle und Lernzeitkonzepte“ mitnahm, waren drei sehr unterschiedliche Ansätze von Rhythmisierung oder, wie eine andere Lehrerin es formulierte: drei „Ansätze“, den starren Unterricht aufzubrechen, mehr Raum für gezieltes Vertiefen von Stoff zu gewinnen und Schule und Kinder aus einem völlig anderen Blickwinkel wahrzunehmen.

Wenn Wolken etwas Positives sind

Den Auftakt machte die Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule Kassel – ein Gymnasium, das seinen Schülerinnen und Schülern das Abitur sowohl nach acht als auch nach neun Jahren ermöglicht. Früh sollen die Kinder und Jugendlichen an einen Unterricht herangeführt werden, der die reine Abfolge von Fachunterricht unterbricht. Dieser bietet die Möglichkeit, sich eigenständig, aber im Klassenverband und in Anwesenheit des Fachlehrers mit den jeweiligen Unterrichtsinhalten zu beschäftigen. Zu diesem Zweck ziehen am Stundenplan Horizont täglich so genannte Wölkchen auf.

Zwischen 30 und 90 Minuten stehen dann zum „Entspannen, Vertiefen, Erforschen oder Betreuen“ zur Verfügung. Die jüngeren Jahrgänge nutzen das offene Angebot zahlreich. „Die älteren eher weniger“, räumt Ganztagskoordinator Gabriel Hund-Göschel ein. Da sei eher „Chillen“ angesagt. „Doch auch das entspannt und fördert die sozialen Kontakte“, meint er und berichtet von der Erfahrung des Kollegiums, dass die Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft nach der Wölkchenzeit wieder ansteige – egal, wie sie ausgestaltet wurde.

So wie an die Wölkchen gewöhnen sich die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums auch an die Lernzeiten. Lernzeiten ergänzen in Klasse fünf als zusätzliche Stunde den sechsstündigen Deutschunterricht, in Klasse sechs Englisch und die zweite Fremdsprache, später den Mathematikunterricht. Bewusst werden sie im Stundenplan nicht als Randstunden vorgesehen. „Es soll kein fader Beigeschmack von etwas Zusätzlichem erzeugt werden“, berichtet Hund-Göschel. Genutzt wird die Stunde zur Vertiefung des Unterrichtsstoffes und unterscheidet sich konzeptionell von den anderen Stunden.

Nicht mehr Stoff, besseres Verständnis lautet die Devise. Finanziert werden die Extra-Einheiten aus Ganztagsschulmitteln. Dass Rhythmisierung aber noch mehr als Wölkchen und Lernzeiten bedeutet, betont der Ganztagskoordinator auch. Und deshalb ist der Dienstag traditionell Kurztag – ein Beitrag zur Zusammenarbeit mit dem außerschulischen Partner Kirche. Er nutzt die Zeit für den Konfirmandenunterricht.

Training, Training, Training

„Unsere Uhren ticken anders“, verspricht die Carl-Schurz-Schule in Frankfurt – ein Gymnasium, das sich für den verkürzten Abiturgang entschieden hat. Und tatsächlich, hier ticken die Uhren anders. Eine Schulstunde dauert 65 Minuten, mal 60, mal 45 oder auch einmal 90 Minuten, wenn es beispielsweise der Kunstunterricht in Jahrgangsstufe 5 sinnvoll erscheinen lässt. Schulleiter Hans-Ulrich Wyneken erläutert: „Die meisten von uns haben festgestellt, dass wir eigentlich für einen runden Unterricht 15 bis 20 Minuten mehr als die üblichen 45 Minuten benötigen.“ Diese dürften nicht dazu genutzt werden, noch mehr Stoff zu vermitteln. Vielmehr sollten sie dazu dienen, Inhalte zu vertiefen, Fragen zu klären, Experimente durchzuführen, einfach mehr zu trainieren. Wyneken: „Ich bin natürlich nicht in jedem Unterricht dabei, glaube aber das geschieht auch.“

Szene aus dem Unterricht
© Carl-Schurz-Schule

Ohnehin stellt sich die Schule der Herausforderung, nicht immer danach zu fragen, ob man „mit dem Stoff durchkommt“. Es gehe darum, die Aufmerksamkeit auf die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu richten. Wyneken nennt als Beispiel das Fach Geschichte. „Ich muss mich doch fragen, ob ich Wert darauf lege, dass sich die Schüler Jahreszahlen bestimmter Ereignisse merken oder ob sie ein Verständnis für die geschichtlichen Zusammenhänge entwickeln können“, erklärt er. Für ihn ist es selbstverständlich, dass die von ihm Unterrichteten die schriftlich vorliegenden Fakten und Daten bei einer Klausur nutzen dürfen: „Es geht um das Verständnis und die Einordnung von Entwicklungen und nicht um eingetrichtertes Wissen“, betont er.

Bewegung erhöht die Konzentration

Als „Geschenk“ bezeichnet der Schulleiter die Differenzierungsstunden, die fester Bestandteil des Stundenplans sind, aber keine zusätzlichen Unterrichtseinheiten darstellen. In ihnen werden die Klassen geteilt und die Schülerinnen und Schüler je nach Fähigkeiten individuell gefördert. Finanziert wird die erforderliche Doppelbesetzung aus Mitteln, die das Land Hessen nach dem Sozialindex zur Verfügung stellt. In den unteren Jahrgangsstufen wird die Zeit in den Kleingruppen etwa für die Schreibförderung genutzt. „Die Zeiten sind vorbei, in denen man davon ausgehen konnte, dass Gymnasialkinder gut schreiben können und über einen ausreichenden Wortschatz verfügen“, meint Wyneken.

Durchaus für Diskussionen gesorgt hat der 65-Minuten-Rhythmus bei der Frage der Klassenarbeiten. Was tun, wenn etwa eine für 45 Minuten konzipierte Klausur ansteht. Die Antwort lautet nicht, die Aufgabenfülle zu erhöhen. Nein, Ziel ist es vielmehr, den Schülern mehr Raum zu geben, die Aufgaben zu meistern oder sich am Ende noch einmal in Ruhe das Formulierte anzuschauen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Die Evaluation des neuen Rhythmus, der etwa auch vorsieht, nicht Französisch und Englisch hintereinander in den Stundenplan einzubauen, erbrachte überwiegend positive Ergebnisse. Der Sorge, 65 Minuten überforderten die Konzentrationsfähigkeit, hält das Gymnasium sein Konzept des bewegten Unterrichts entgegen. Bewegungsphasen mit unterschiedlichen Übungen werden ebenso integriert wie bewegte Unterrichtsmethodik – etwa, indem die Schülerinnen und Schüler sich die Unterrichtsmaterialien aus einer Ecke des Raums holen müssen oder indem sie Ergebnisse ihrer Arbeit an der Tafel notieren.

270 Minuten wöchentlich für selbstgesteuertes Lernen

Nichts mit Sport hat das SegeL-Konzept der Bertha-von-Suttner-Schule, einer Integrierten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Mörfelden-Walldorf, zu tun. SegeL heißt: selbstgesteuertes Lernen.  Und doch darf man es als sportliche Leistung bewerten, wie es hier gelang, das genormte Stundenkonzept aufzubrechen. 270 Minuten stehen den Schülerinnen und Schülern wöchentlich zur Verfügung, um ihre Fähigkeiten in Mathematik, Deutsch und Englisch selbstständig zu verbessern und zu vertiefen. Dabei handelt es sich um keine zusätzlichen Stunden. Vielmehr reduziert sich der von einer Lehrkraft gesteuerte Fachunterricht der 5. und 6. Jahrgangsstufen um jeweils 90 Minuten. Ein Wochenplan gibt die zu erreichenden Ziele vor und hilft, die eigenständige Arbeit zu organisieren. Es gibt Pflicht-, Wahl- und so genannte Expertenaufgaben. Was ein Kind in den SegeL-Stunden tut, bleibt ihm im Rahmen der vorgegebenen Ziele selbst überlassen.

Die anwesenden Lehrkräfte begleiten SegeL und beantworten Fragen. „Wir trauen uns sehr wohl zu, in den Klassen 5 und 6 alle Fragen zu Mathe, Deutsch und Englisch beantworten zu können“, betonen Bianca Veal und Patricia Zürn. Wird doch einmal Rat vom anderen Fachkollegen benötigt – kein Problem, die Schüler können von Raum zu Raum segeln. Eine Struktur beim Lernen gibt die „SegeL-Uhr“. Sie sieht zum Auftakt jeder Einheit eine Organisationsphase vor. In ihr bereiten die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit vor, stellen das dafür erforderliche Material zusammen. Es folgt eine Einzelarbeitsphase in völliger Ruhe. Was Beobachter zu der erstaunten Feststellung führte: „Ich habe vorher nicht geglaubt, wie ruhig und konzentriert da gearbeitet wurde.“ Der Ruhe schließt sich eine Feedbackphase an, der wiederum eine Organisationsphase mit anschließenden Partnerübungen folgt.

Wertvoller Austausch

Die Bilanz nach anderthalb Jahren Erfahrung fällt durchweg positiv aus: Die Auswahl zwischen Mathematik, Deutsch und Englisch in den SegeL-Stunden steigert die Motivation der Schülerinnen und Schüler. Sie üben Zeitmanagement und übernehmen Verantwortung für das eigene Lernen. Dank der Mischung aus Pflicht-, Wahl- und Expertenaufgaben gelingt die angestrebte individuelle Förderung.

Intensiv nutzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser Fortbildung die anschließenden Tischgespräche, um auszuloten, wie die vorgestellten Rhythmisierungsmodelle und Lernzeitkonzepte auch in anderen Schulen umgesetzt werden können. Ihr Fazit zur Veranstaltung fiel rundherum positiv aus. Stellvertretend sei das Resümee eines Pädagogen zitiert: „Es sind genau diese Gesprächs- und Austauschmöglichkeiten in kleiner Runde, die wir für unsere Weiterentwicklung benötigen.“

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